Sonntag, 23. Juni 2013

Mindestsicherung und sozialer Grundkonsens

"Drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher sind gegen Kürzungen beim Sozialstaat. Das ist das Ergebnis des ersten Volkshilfe Sozialbarometers. Eine klare Mehrheit hat sich für die Anhebung der Mindestsicherung ausgesprochen, und auch einen Mindestlohn halten vier von fünf Befragten für wichtig.“ (ORF-Radio 21. Juni 2013)

Kapitalismus und Industrialisierung haben die soziale Welt gründlich umgekrempelt. Die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken haben dazu geführt, dass sich die Sozialformen, die vorher den sozialen Zusammenhalt gesichert haben, aufgelöst haben. In vorindustriellen Zeiten hat es dörfliche oder städtische Gemeinschaften gegeben, die sich um alle Angehörigen gekümmert haben, natürlich sozial abgestuft und unterschieden. Aber die in Not geratenen Menschen sind – außer in Notzeiten – nicht einfach auf den Straßen verstorben, sondern wurden in irgendeiner Weise von Angehörigen versorgt. Schlimm war es nur, wenn es keine Angehörigen gegeben hat, doch oder deshalb war es Teil der ritterlichen Tugenden und bürgerlichen Pflichten, für die Witwen und Waisen zu sorgen.

Die modernen Arbeitsverhältnisse haben zur Auflösung der gemeinschaftlichen Sozialformen und Absicherungsnetze beigetragen. Jeder sollte schauen, wie er selber zurechtkommt und sein Überleben sichern kann, so der Imperativ der Leistungsmaximierer. Doch konnte dieses Prinzip nie zur vollständigen Geltung gelangen, weil es sich selber aufgehoben hätte – auch der erfolgreichste Leistungsträger kann unter die Räder kommen – oder hat Freunde und Verwandte, die es nicht schaffen, auf die sichere Seite zu kommen.

Es gibt diesen Grundkonsens zumindest in vielen Ländern Europas, dass der Staat die Funktionen der zerstörten vorindustriellen Sozialnetze übernehmen soll. Die Fürsorge für Mitglieder der Gesellschaft, die dem Leistungsprinzip weniger optimal entsprechen können (Kranke, Behinderte, Traumatisierte), oder solche, die nur Leistungen mit wenig Nachfrage erbringen können, übernimmt die Allgemeinheit. Damit wird die Überlebenssicherung der „Schwächeren“ abstrakter, d.h. sie werden nicht von ihren Angehörigen versorgt, sondern von Institutionen, die auch die Kontrolle gegen Missbrauch ausüben.

Allgemeiner gesagt, übernimmt das wirtschaftlich-gesellschaftliche System des Kapitalismus die Funktionen der sozialen Absicherung von den Sozialstrukturen, die es vorher zerstört hat. Damit bleibt ein gewisser sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft gewährleistet, der wiederum das Weiterwachsen des Kapitalismus fördert.

Der Grundkonsens, der diese Entwicklung mehr oder weniger stark trägt (politische Parteien positionieren sich gerne an den Rändern dieses Konsenses), sichert zugleich, dass die Gesellschaft, in die das kapitalistische Produzieren und Konsumieren eingebettet ist, eine menschliche bleibt. Dafür ist ausschlaggebend, dass jedes Mitglied dieser Gesellschaft die gleichen Grundrechte auf Leben und Lebenserhalt hat. Würde dieses aufgegeben, wäre die Gesellschaft als Ganze dem Zerfall anheim gegeben. Der Konsens ist also nicht wirklich beliebig oder aus einer inneren Haltung der Großzügigkeit oder der Barmherzigkeit erwachsen. Seine Aufgabe würde die Aufgabe des sozialen Zusammenhaltes überhaupt zur Folge haben.

Deshalb haben alle, die das soziale System mehr beanspruchen als andere (weil sie z.B. behindert sind), die gleiche Würde wie jemand, der so mit Gesundheit gesegnet ist, dass er nie zum Arzt gehen muss und so leistungsfähig und arbeitsbegeistert ist, dass er nie eine Pension in Anspruch nimmt. Die Verachtung und Abwertung, die manchmal Menschen entgegengebracht wird, die das soziale Netz zur Sicherung ihres Überlebens brauchen (Trittbrettfahrer, Sozialschmarotzer…), ist eine Verachtung des sozialen Grundkonsenses, ohne den die Verachter nie in eine Position gekommen wären, aus der sie auf andere herabschauen können, die weniger leisten als sie selber. Deshalb ist jede Polemik in die Richtung der sozial schwächeren Mitglieder der Gesellschaft ein Angriff auf die Basis dieser Gesellschaft und muss zurückgewiesen werden.

Vielmehr gilt es, als Mitglied der Gesellschaft allen anderen Mitgliedern Respekt und Achtung entgegenzubringen und sie in ihrer Würde zu sehen. Niemand braucht ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn das gesellschaftliche System immer wieder den gerechten Ausgleich zwischen denen, die es besser erwischt haben und jenen, die schlechter dran sind, sucht. Dieser Ausgleich bedeutet auch die Mindestsicherung der Menschenwürde für alle, die mit ihrem Sosein zum Sosein der Gesellschaft beitragen.


Vgl. zu Reichtum und Eigentum

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