Sigmund Freud hat den primären Narzissmus von einem sekundären unterschieden. Beim ersteren dachte er an einen Einheitszustand mit der Mutter, den jedes Kind in der nachgeburtlichen Phase erlebt und in dem es keine Trennung zwischen Mutter und Kind gibt. Diese Entwicklungsstufe wurde später von Margaret Mahler als „symbiotische Phase“ benannt. Der sekundäre Narzissmus als Störung entwickelt sich, wenn in der ersten Phase wichtige emotionale und kommunikative Bedürfnisse nicht befriedigt wurden, sodass die betroffene Person später unbewusst in die drängende Not dieser Bedürfnisse zurückfällt, die anfangs unerfüllt geblieben sind.
Der primäre Narzissmus
Das freudianische Konzept der ungetrennten Einheit von Mutter und Kind in der nachgeburtlichen Zeit wurde inzwischen als Hypothese widerlegt. Die Erforschung der Mutter-Baby-Beziehungen der letzten Jahrzehnte hat erwiesen, dass ein Säugling von Anfang an eine aktive kommunikative Rolle in dieser Beziehung übernimmt, die voraussetzt, dass er sich als selbständiges Wesen der Mutter gegenüber begreift. Von Anfang an stehen sich zwei unabhängige Personen gegenüber und beziehen sich aufeinander. Im günstigen Fall wirkt eine starke Empathie und Konkordanz, die Übereinstimmung zwischen der Erziehungsperson und dem Baby, für die aber die Bezeichnung als Symbiose irreführend ist. Deshalb ist auch das Konzept des primären Narzissmus wenig hilfreich.
Der Begriff der Symbiose wird zwar in der Alltagspsychologie immer wieder angewendet, wenn von besonders innigen zwischenmenschlichen Beziehungen gesprochen wird, ist aber auch hier missverständlich. Indem wir immer mehr Wissen über die Auswirkungen von frühzeitig abgegangenen Zwillingen gewinnen, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den symbiotischen Beziehungsmustern um Projektionen aus der intrauterinen Zweisamkeit von Zwillingen handelt. Vor allem eineiige Zwillinge, die über identische Erbanlagen verfügen, erleben eine Form der inneren Übereinstimmung und der verschmelzenden Einheit, für die der Begriff Symbiose passt.
Der sekundäre Narzissmus
Ebenfalls aus der Säuglingsforschung wissen wir, wie wichtig die empathische Konkordanz zwischen der Betreuungsperson und dem Baby ist, damit es sich auf der emotionalen und sozialen Ebene gut entwickeln kann. Die Mutter [da sie faktisch die Hauptbezugsperson in weitaus den meisten Familien ist, wird sie hier immer wieder genannt, auch wenn andere Personen, Väter oder Pflegepersonen ebenso die Rolle einer zentralen Bezugsperson einnehmen können] sollte möglichst genau spüren, welches Bedürfnis sich hinter den emotionalen Äußerungen des Babys befindet, sodass sie adäquat darauf eingehen kann, also nicht, wie ein klassisches Beispiel besagt, wenn das Kind Zuwendung und Unterhaltung möchte, es mit Essen abzuspeisen. Säuglinge verfügen über ein eingeschränktes Repertoire an kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten, die aber von einer einfühlsamen Mutter genau verstanden und beantwortet werden können.
Auf diese Weise baut das Kind eine stimmige Selbstbeziehung auf, weil ihr die Mutter das Vertrauen gibt, dass es auf seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle hören kann. Was eine passende Antwort findet, war eine berechtigte Frage. Das Kind lernt, die eigenen Körpersignale und Gefühlsregungen anzunehmen und durch die „Spiegelung“ seitens der Mutter immer besser einordnen zu können. Mit Spiegelung ist gemeint, dass das Baby ein Bedürfnis äußert und die Betreuungsperson meldet zurück, dass es die Botschaft verstanden hat, indem sie die Handlungen setzt, die das Bedürfnis stillen.
Mangelnde Spiegelung
Treten in dieser Kommunikation immer wieder Fehler auf, weil die Spiegelung nur mangelhaft gelingt, so kann sich im Kind kein stabiles Selbstgefühl aufbauen. Es kann seinem Körper mit seinen Bedürfnissen und der Seele mit ihren Gefühlen nicht voll vertrauen, sondern fühlt sich unsicher und schnell irritiert. Es muss dauernd nach Bestätigung im Außen suchen, weil diese nicht selbstverständlich kommt, und trachtet danach, sich nach den Mustern und Schemata der Eltern zu richten, damit es zu dem kommt, was es braucht.
Oft geht die Störung so weit, dass dem Kind nicht mehr klar ist, was es braucht und damit auch nicht, was es will. Die Unsicherheit durchzieht das organische und emotionale Selbstverständnis und die Willenskraft. Der Narzissmus als Persönlichkeitsdefizit beruht auf diesen Schwächen in der Selbstbeziehung, die Folgen von Schwächen aus den frühen Kommunikationsbeziehungen sind.
Wenn wir gemeinhin annehmen, dass Narzissten besonders in sich selbst verliebt sind und nur sich selber wichtig nehmen, so ist das irreführend und entspricht nur einer oberflächlichen Beobachtung, weil sich Narzissten besonders schwer tun mit der Selbstliebe. Im Grund zweifeln sie immer, ob sie in Ordnung sind so wie sie sind. Sie können aber den Eindruck der Selbstsicherheit und Überlegenheit erwecken, wenn sie eine andere Form der Spiegelung gelernt haben, nämlich die der übermäßigen und realitätsfernen Bewunderung und Überschätzung. Und hier kommt die narzisstische Störung der Bezugsperson ins Spiel, die sie an das Kind weitergibt. Zunächst, wie geschildert, fehlt die empathische Feinabstimmung mit den kindlichen Bedürfnissen. Dazu mischt sich dann allerdings häufig eine übertriebene Bewunderung des kleinen Wesens. Es wird von der narzisstischen Mutter nicht nur als das ganz Einzigartige und Besondere erlebt, das es ist, sondern als ein Wunderwesen, das alle anderen Kinder mit seiner Schönheit oder seinen Fähigkeiten in den Schatten stellt. Daraus entwickelt das Kind die Strategie der Selbstbewunderung zur Bewältigung der inneren Unsicherheit und des mangelnden Selbstvertrauens.
Die Ambivalenz
Der Narzissmus ist durch eine grundlegende Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite wirkt in uns der mächtige Strom der Selbstverwirklichung. Das Leben hat uns viele Kompetenzen mit auf den Weg gegeben und dazu alles bereitgestellt, was es braucht, damit wir umsetzen können, was sich aus uns heraus Wirklichkeit geben will. Das Leben als die Quelle aller Schöpfungskraft will kreative, selbstschöpferische Wesen hervorbringen.
Auf der anderen Seite sind wir mit den Deformationen der Eltern konfrontiert, die aus deren mühsamen Anpassungsprozessen an ihre Lebensrealitäten entstanden sind. All das, was bei ihnen im Sinn dieser Selbstschöpfung auf der Strecke geblieben ist, soll nun über das Kind verwirklicht werden. Mit diesen Erwartungen muss sich das Kind auseinandersetzen und wird, ebenso wie die Eltern in ihrem Leben, Kompromisse bilden, dagegen protestieren und sich immer wieder unterordnen. Denn die Orientierung an Selbstfindung und Selbstwerdung setzt sich der Gefahr aus, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren, die anfangs überlebenswichtig ist. So bildet sich ein innerer Widerstreit zwischen Anpassung und Autonomiebestrebung.
Hinter der Maske der angemaßten Grandiosität des Narzissten wirken die Stimmen der Eltern, die sich selber bewundern in ihrem so besonderen Kind, das sich gleichwohl im Grund unverstanden und einsam fühlt. Das Kind hat die Last zu tragen, großartig sein zu müssen und es doch nie zu schaffen. Diese Ambivalenz ist eine Quelle beständigen Leidens und der Selbst-Infragestellung.
Der elterliche Narzissmus
Jede Form des Narzissmus ist aus Vererbung entstanden, er wird wie eine Erbkrankheit von Generation zu Generation durch systematisch gestörte Kommunikation in den frühen Lebensphasen weitergegeben. In mehr oder weniger stark ausgeprägtem Grad sind deshalb in unserer Gesellschaft alle von der narzisstischen Verstörung betroffen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, Eltern mit narzisstischen Zügen zu haben, die das eigene Werden mit diesen Störungen in Mitleidenschaft gezogen haben. Ein Blick darauf kann helfen, Klarheit in die eigenen Lebensmuster zu bringen.
Der elterliche Narzissmus ist von der folgenden Einstellung geprägt: „Ich liebe mich selbst im Kind. Es ist meine eigene Hervorbringung, und in ihm bin ICH großartig. Mein Leben verwirklicht sich im Kind.“ Mit dieser Einstellung ist der Blick auf das Kind und seine Wünsche und Bedürfnisse von vornherein verstellt. Den Begegnungsraum bestimmt das Unbewusste der Eltern, das das Kind danach bewertet, wie sehr oder wie wenig es dieses Unbewusste bestätigt und dessen Bestrebungen erfüllt.
Unterschiedlich getönt ist der Narzissmus bei Vater und Mutter: Der mütterliche Narzissmus erlebt das Kind als Hervorbringung und Erweiterung des eigenen Körpers, mit der sich das eigene Selbst identifiziert. Die Mutter liebt sich im Kind, das gleichsam als ihr besseres Selbst in ihr heranwächst und sich dann veräußerlicht. Ihr Kind gilt dann als ihre Selbstverwirklichung. Häufig spielt dabei die über die Generationen übertragene Kränkung der weiblichen Selbstliebe und Selbstannahme durch den Patriarchalismus mit: Eine Frau ist weniger wert als ein Mann, aber durch das Gebären eines Kindes gewinnt sie an Wert und gesellschaftlicher Anerkennung.
Der väterliche Narzissmus ist naturgemäß weniger stark von der körperlichen Beziehung bestimmt. Gleichwohl kann auch der Vater das Kind als Selbsthervorbringung bestimmen: „Das Kind gibt meinem Leben den Sinn und die Bedeutung“. Außerdem werden von der väterlichen Seite häufig stärker die „tribalen“ und generationalen Themen eingespeist: Das Kind bekommt die Rolle des „Stammhalters“, des Trägers aller genealogischer Aufträge und wird von Anfang an mit den entsprechenden Erwartungen belastet. Zusätzlich hat es als Projektionsfläche für vom Vater selbst ungelebten Ambitionen zu dienen: Was er im Leben nicht schaffen und erreichen konnte, wird dem Kind als Aufgabe weitergegeben. Also wirkt sich auch beim Vater der Patriarchalismus aus: Sein Status in der Gesellschaft ist davon abhängig, wie weit die eigenen Kinder den Erwartungen entsprechen können.
Pränatale Einflüsse
Die Bedeutung der vorgeburtlichen Phase rückt immer mehr ins Bewusstsein und spielt auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn die narzisstischen Züge und Prägungen der Eltern werden nicht erst dann aktiv, wenn das Kind auf die Welt gekommen ist, sondern spielen von Anfang an mit, sogar schon in den Fantasien der Eltern, lange bevor sie sich überhaupt kennenlernen. Sie wirken in die Beziehungsdynamik hinein und hinterlassen deshalb auch eine prägende Spur bei der Zeugung. Eizelle und Samenzelle kommen nicht als leere Blätter zusammen, sondern bringen neben dem genetischen Material auch die epigenetischen Modifikationen mit. Dazu kommen die emotionalen Erwartungen und Vorstellungen beider Eltern, die im Akt der geschlechtlichen Vereinigung ebenso wirksam sind wie im Moment der Verschmelzung von Ei und Samen.
Das Erkennen der Schwangerschaft durch die Eltern ist der nächste Punkt, an dem sich der Narzissmus einschleichen kann. Die Ängste und Erwartungen der Eltern, die dabei auftauchen, sind aufgeladen mit den eigenen unerfüllten Bedürfnissen. Das werdende Leben erkennt, was abläuft und versucht sich diesen vorgegebenen Programmen anzupassen, um nicht zu enttäuschen.
Mit all dem, was das Kind während der Schwangerschaft über die Nabelschnur aufnimmt, kommen auf der emotionalen Ebene die vielfältigen Programme mit, die ihm vorgeben wollen, wie es sein soll und was es für die Psyche der Eltern leisten soll. Beide Elternteile versuchen, natürlich nicht in böser Absicht, sondern aufgrund der Funktionsweise des Unbewussten, dem Kind vorzugeben, wie es sein soll und was es aus seinem Leben machen soll. Der von den Eltern vorgefertigte Lebensplan ist vollgeladen mit Aufgaben und Aufträgen, die das Kind abarbeiten soll. Die eigentliche Aufgabe, das eigene Selbst zu entwickeln und daraus die eigene Bindungsfähigkeit und Autonomie zu bilden, kommt dabei nicht vor. Natürlich werden viele Eltern behaupten, dass es ihnen ausschließlich darum geht, dass ihr Kind ein eigenständiges Wesen wird. Aber nur wer die Macht der unbewussten Prägungen kennt und aufgelöst hat, kann vollen Herzens dem Wachsen und Gedeihen des Sprösslings zuschauen und es tatkräftig auch dort unterstützen, wo die eigenen Erwartungen und Planungen enttäuscht werden.
Der fortwährende Prozess des Sich-Gebärens
Schließlich kommt die Geburt als der große Augenblick, in dem sich das Kind von der Mutter löst, meist in einem langen und schmerzreichen Prozess. Es vollzieht sich darin gewissermaßen die „Unabhängigkeitsdeklaration“ des kleinen Menschenwesens: Ich kann jetzt alleine atmen, ich kann meinen eigenen Raum einnehmen, ich verfüge über meine Körpergrenzen, ich kann mich auf diese Welt beziehen, ich beginne, für mich selber zu sorgen. Natürlich sind die Abhängigkeiten am Anfang noch immer groß, aber der innere Drang zur Unabhängigkeit hat einen gewaltigen Schritt nach vorne getan.
Neben der körperlichen Unabhängigkeit geht es in diesem Vorgang um die seelische Eigenständigkeit. Das eigene Selbst muss gegen die Projektionen der Eltern entwickelt werden, oder es bleibt verkrüppelt und verbogen. Das Projektionsprogramm der Eltern ist zugleich das Herausforderungsprogramm für das lebenslange innere Wachstum. Das Leben präsentiert immer wieder die genau passenden Situationen, in denen wir die Entscheidung zwischen der narzisstischen Prägung und der Selbstwerdung treffen müssen. Ersteres erscheint meist als der billigere und bequemere Weg, der allerdings auch die Beibehaltung des gewohnten Leids in Kauf nehmen muss, zweiteres verspricht uns als Lohn die innere Freiheit.
Der Ausweg aus den Verstrickungen des Narzissmus ist der Weg der Bewusstwerdung: Was und wer bin ich selber, was habe ich ungeprüft übernommen, damit ich mich angenommen und geliebt fühlen konnte? Mit diesen Erkenntnissen kommen Ängste und Schmerzen, und es muss in jedem Schritt wieder eine Geburt vollzogen werden, mit allem, was dazugehört. In jedem Sich-Gebären wird die mächtige Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen vollzogen. Das ist der einzig gangbare Weg zur vollen Unabhängigkeit, zur Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung.
Zum Weiterlesen:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen