Samstag, 29. März 2025

Der Propagandatrick der Umkehrung

Die Medien präsentieren Tag für Tag schauerliche Geschichten aus der ältesten Demokratie der Welt. Unverfroren wird der Propagandatrick der Umkehrung genutzt, um die eigenen Machtgelüste zu befriedigen. Z.B. wehren sich die Grönländer gegen einen Anschluss an die USA. Doch behaupten die republikanischen Politiker, dass den Grönländern nur Gutes aus einem Anschluss erwachsen könne.  Der Präsident will seine imperialistischen Gelüste als Sicherheitsgewinn für die Welt verkaufen, während er die Sicherheit seines Landes durch die Aufkündigung der Freundschaft zu Kanada und Europa massiv beeinträchtigt. Es wird behauptet, dass Millionen US-Amerikaner Pension bekämen, die gar nicht mehr am Leben sind, dabei liegt die Fehlerquote unter 1 %, es sind also höchstens ein paar Tausend.  Führende Politiker tauschen sich in einem Chatroom über eine Militäraktion aus, und ein Journalist war irrtümlich dazu eingeladen. Als das Ganze publik wird, wird der Journalist beschimpft, statt dass die Ursachen des peinlichen Fehlers gesucht werden usw.

Wissentlich das Falsche zu sagen, ist mit Scham belegt. Mit dem Trick der Schuldumkehr wird die Person diskreditiert, die einem auf die Schliche kommt, um sie als die eigentlich Böse vorzuführen. Wenn republikanische Politiker von demokratischen Vertretern oder Journalisten auf ihre Wahrheitsverdrehungen und Lügen hingewiesen werden, ist bei den Fernseh- oder Videoaufnahmen leicht zu merken, wie sie die Scham packt und wie sie beginnen, sich zu drehen und zu winden, um dem Netz dieses Gefühls zu entrinnen. Dann kommt die erlösende Umkehrungsfloskel und die Gesichter frieren wieder ein. Auch beim aktuellen US-Präsidenten ist ein kurzes Unbehagen erkennbar, wenn er etwas Unangenehmes gefragt wird, bis sein Gehirn die Verdrehung produziert, mit der er sich aus der Schlinge der Scham winden kann: Es war alles nicht so, sondern ganz anders, und wer behauptet, es wäre so gewesen, ist ein Lügner und Verdreher. 

In der Welt von verkehrten Wahrheiten und verdrehten Werten

Mit Verkehrung ins Gegenteil wird in der Psychoanalyse die Umkehrung eines Triebbedürfnisses in sein Gegenteil bezeichnet. Beispielsweise verhält sich jemand besonders nett zu der Person, die er nicht mag oder sogar hasst. Es handelt sich um einen inneren Abwehrmechanismus gegen Gefühlsäußerungen, die sozial nicht akzeptiert sind oder negative Konsequenzen nach sich ziehen würden. Wer diese Strategie in der Kindheit angenommen und im Unterbewusstsein abgespeichert hat, kann sie dann als Erwachsener in verschiedensten Situationen anwenden, um sich aus einer unangenehmen Lage herauszureden. Das Schamgefühl hindert daran, zu sich und zu eigenen Fehlern zu stehen, also wird der Fehler in der inneren Bewertung in eine gute Tat umgewandelt oder jemand anderer als fehlerhaft angeprangert.

Realitätsverlust als Preis

Der Preis von Abwehrmechanismen besteht immer im Realitätsverlust. Die Wirklichkeit wird so zurechtgedreht, dass sie zu den eigenen Bedürfnissen passt. Auf diese Weise wird der innere Konflikt beruhigt, der aus dem Schamgefühl erwachsen ist. Die Wirklichkeit wird nur mehr durch den Filter dieser Verdrehung wahrgenommen, und jeder, der diesen Filter nicht teilt, muss bekämpft und abgewertet werden, damit die eigene verzerrte Sichtweise bestehen bleiben kann. 

Mit Hilfe dieser Abwehrstrategie gelingt es, sich als gut darzustellen, wenn man eine schlechte Tat begangen hat. Das Sich-selbst-als-gut-Darstellen ist eine erlernte Zurechtbiegung, die immer dann angewendet wird, wenn dieses Gutsein von anderen in Frage gestellt wird. 

Da dem Versteller der Mechanismus der Umkehrung vertraut ist, nimmt er an, dass alles Gute in Wirklichkeit nur verstelltes Böses ist. Er selber hat gelernt, damit zu leben und unter Umständen sogar mit dieser Taktik Erfolg zu haben. Er weiß freilich, dass das ganze Gebäude seines Selbstwertes nur auf Sand gebaut ist. Um mit dieser Unsicherheit zurechtzukommen, hilft ihm der Zynismus, zu behaupten, dass all die anderen, die sich so gut vorkommen, als die eigentlich Bösen entlarvt werden müssen. Die Entfernung zur Realität wird dadurch noch viel größer.

Nietzsches Umwertung aller Werte

Der Vorreiter dieser Haltung war Friedrich Nietzsche. Er hat die Umwertung aller Werte gepredigt, ausgehend von der Heuchelei der scheinbar Guten und Gutmütigen, unter deren manipulativer Macht er in seiner Kindheit gelitten hat. Gutes zu tun wäre eigentlich nur der Ausdruck von Schwäche. Er hat diese Haltung als Sklavenmoral beschrieben, während die ursprünglich geltende Herrenmoral, die durch Stärke, Mut und Selbstbestimmung gekennzeichnet ist, vor allem durch das Christentum entmachtet worden wäre. Der Hauptduktus seines Denkens, das er mit virtuoser Sprachgewalt zu Papier gebracht hat, war die Ausformulierung der Abwehrform der Verkehrung ins Gegenteil. 

Die Ideologie der „dunklen Aufklärung“

Darin liegt der Grund für die Übernahme vieler seiner Theorien in das Ideologiegebäude des Nationalsozialismus. Wir erleben zurzeit eine Art Renaissance dieser Ideologie, im Gewand des 21. Jahrhunderts, d.h. weniger mit offensiv brutaler Gewalt, dafür umso gründlicher. Der Blogger Rainer Hofmann kennzeichnet diese Richtung, wie sie in den USA zur Dominanz gelangt ist: „Die Ideologie wirkt wie ein Gemisch aus Silicon-Valley-Zynismus, faschistischer Ästhetik und feudaler Machtfantasie. Sie will keinen Diskurs. Sie will Kontrolle. ... Was sie planen, ist keine Regierung. Es ist ein Konzern mit Exekutivgewalt. Eine Maschine. Und sie läuft bereits.“

Die Macht liegt nicht bei Schlägertruppen, sondern bei den Beherrschern der Algorithmen, mit denen die Meinungen gesteuert und die Ideologie in Wahrheit umgemünzt wird. Sie beruht auf dem Geld von Milliardären, die die Propagandisten und Politiker finanzieren, die dann einer elitären Regierungsform zum Durchbruch verhelfen sollen. Das „Volk“ wurde so gut zurechtgerichtet, dass es auf demokratische Weise den Totengräbern der Demokratie die Macht verliehen hat.

Nun wird das Terrain freigeräumt für eine systematische Verkehrung ins Gegenteil, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Dagegen ist der nationalsozialistische oder der SED-Propagandaapparat primitiver Schnee von gestern. Auch die russischen Wahrheitsverdrehungen wirken plump im Vergleich zu der Welle an Desinformation, Machtmissbrauch und Manipulation, die tagtäglich neue Bestätigungen für die Richtung liefert, in die die neuen Mächtigen im mächtigsten Land der Welt mit aller Konsequenz und voll von Zynismus fortschreiten.

Verdrehungen rückgängig machen

Wenn wir nicht in den Sog dieser Entwicklung geraten wollen, brauchen wir eine wache Unterscheidungskraft, die uns zeigt, wo die Wahrheit verzerrt und verdreht wird, wo das Gute als Böses und das Böse als Gutes angepriesen wird, wo Fantasien als Fakten verkauft werden und schließlich auch das Hässliche als das Schöne präsentiert wird. Wir erleben einen gigantischen Versuch der Umwertung aller Werte, finanziert von Techmilliarden, angestiftet von verbohrten Ideologen und verbreitet von verblendeten Meinungsmachern in den Zentren der sogenannten sozialen Medien. Die Moral wird umgeschrieben, sodass sie den Zielen der Macht und der oligarchischen Interessen untergeordnet werden kann. Die Wahrheitsfindung wird ebenfalls von den Mächtigen gesteuert, die darüber bestimmt, was wahr und was falsch ist. 

Es gibt den Fortschritt in der Moral und es gibt die Fortschritte trotz der Rückfälle in vormoderne Machtstrukturen. Doch war der Gegenwind gegen die Errungenschaften der Aufklärung mit der Durchsetzung fundamentaler Menschen- und Freiheitsrechten noch nie so stark und so mächtig wie in unseren Tagen. Die Herausforderung stellt sich für alle, die die Fackel des Fortschritts weitertragen wollen: Das Böse zu benennen, auch wenn es sich als Gutes verkleidet hat; das Falsche zu kritisieren, auch wenn es sich als das Wahre zeigt; die Macht in die Schranken zu weisen, wenn sie die Freiheiten einschränken und die Privilegien der Mächtigen ausbauen will; die Zuversicht aufrechtzuerhalten, die den langen Atem und die Kraft gibt, die Zeiten der „dunklen Aufklärung“, wie die Ideologie heißt, durchzustehen und der Wirkmacht des Lichts der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Jede Verdrehung soll zurechtgerichtet werden, jedes zweifelhafte Faktum soll seine Überprüfung finden, jede Flucht von Tätern in die Opferrolle soll ihre Aufdeckung erfahren. Es sind herkulesartige Herausforderungen, den „Saustall des Augias“, den Mist in den Kommunikationsräumen zu beseitigen. Wir können sie gemeinsam meistern.

Quelle: Blog von Rainer Hofmann

Literatur: Sylvia Sasse:Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik. Matthes und Seitz, Berlin 2023

Zum Weiterlesen:
Fortschritte trotz Rückschritten
Moralischer Fortschritt
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda


Donnerstag, 27. März 2025

Respiratorische Philosophie im Überblick

Der Atem ist der Anfang und das Ende. Der Bogen jedes menschlichen Lebens wird durch den Atem eingeleitet und endet mit dem Atem. Von atmenden Menschen gezeugt und geboren, setzt nach der Geburt der erste Atemzug ein und markiert den Beginn des selbständigen Lebens. Die Atmung fließt weiter, bis zum letzten Ausatemzug. 

Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt für die respiratorische Philosophie. Ich beziehe mich im Folgenden auf Petri Berendtson, einen Hauptvertreter dieser philosophischen Richtung. Er nennt seinen Ansatz eine phänomenologische Ontologie des Atems. Er sieht das menschliche Leben nicht nur als „In-der-Welt-Sein“, wie es Martin Heidegger formuliert hat, sondern viel grundlegender als „In-der-Welt-Atmen“. Die Begegnung mit dem Sein ist immer eine Begegnung mit dem Atem, bzw. geschieht diese Begegnung im Atem. Damit ist der Atem das Sein, in dem die Seinserfahrung stattfindet.

Im Atem geschieht folglich vor jeder Wahrnehmung (die in der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty im Zentrum steht) und vor jedem Denken (nach Descartes) der Vollzug des Seins. Wir atmen, auch wenn wir nichts wahrnehmen (z.B. im Tiefschlaf) oder wenn wir nichts denken. Dieses atmende „In-der-Welt-Sein“ geschieht vor jeder Bewusstheit und Reflexion, und jede Bewusstheit, jede Reflexion ist atmend. Also wird der „wahrnehmende Glaube“ (foi perceptive) von Merleau-Ponty in der respiratorischen Philosophie zum atmenden Glauben. Dieser Glaube hat nichts mit Religion zu tun. Er bezeichnet vielmehr eine vorbewusste Überzeugung, dass die Welt da ist, bestätigt mit jedem Atemzug. Die Erkenntnis, dass es eine Welt gibt, ist immer zugleich die Erkenntnis, dass es eine atmende Welt ist, in der wir atmend existieren. Der atmende Glaube ist kein bloß psychologisches Phänomen, sondern eine existentielle Struktur – wir existieren nur durch und mit der Luft, die durch das Atmen zu unserer Lebensquelle wird.

In der Atmung erfahren wir, dass das Innen und Außen nicht strikt getrennt sein können. Das atmende In-der-Welt-Sein ist durch ein beständiges Ineinander-Übergehen von innen und außen gekennzeichnet. Die ein- und ausströmende Luft ist zugleich Eigenes wie Fremdes, immer ineinander vermischt.  Mit jedem Atemzug werden das Innere zum Äußeren und das Äußere zum Inneren. Das Leben ist ein dynamischer Austauschprozess, bei dem die Atmung die grundlegende Gestaltung vornimmt und das Medium bildet, in dem alles stattfindet. Wir sind in jedem Moment in der Welt und die Welt ist in uns, durch die Luft, die in uns einströmt und aus uns entweicht. Die Luft, die wir aufnehmen, verändert uns, und wir verändern die Welt um uns mit der Luft, die wir ausatmen. 

Das atmende In-der-Welt-Sein ist ein verkörpertes Sein, denn die Atmung ist ein physiologischer Vorgang, der ohne einen Körper nicht stattfinden kann. Auf der anderen Seite erschöpft sich der atmende Lebensvollzug nicht in einem leiblichen Prozess, sondern enthält zugleich einen immateriellen Anteil. Denn jeder Atemzug ist ein Informationsaustausch. Jedes Luftmolekül, das in uns über die Atmung gelangt, enthält Informationen, die in uns empfangen und verarbeitet werden; jedes ausgeatmete Teilchen wiederum gerät in die äußere Welt und entfaltet dort seine Wirkung. Wir kennen diesen Informationsgehalt der Luft, wenn wir Gerüche wahrnehmen, doch enthält sie noch viel mehr andere Dimensionen, von denen uns die meisten nicht bewusst sind und die dennoch Wirkung in uns entfalten. 

In den östlichen Philosophien ist viel von diesen unsichtbaren Energien die Rede, sei es als  Qi im Taoismus oder als Prana im Hinduismus. Diese beiden Begriffe sind eng mit der Atmung verbunden. Die respiratorische Philosophie verbindet also auch westliche und östliche Denktraditionen.

Literatur:
Petri Berendtson: Phenomenological Ontology of Breathing: The Respiratory Primacy of Being. Rutledge 2023


Sonntag, 16. März 2025

Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"

Wenn Elon Musk ein Milliardär wäre, der skurrile Dinge von sich gibt, wäre das nicht besonders bedenkenswert. Gegenwärtig ist dieser Mann allerdings nicht nur der reichste, sondern auch einer der mächtigsten Menschen auf dieser Welt, durch die Stellung, die ihm der US-Präsident gegeben hat. Die Einsichten, die er offenherzig teilt, sind aber nicht bloß Privatmeinungen, die man als folgenlose Spinnereien eines verzogenen Rotzers abtun könnte, sondern entsprechen einer Geisteshaltung, die vor allem in den rechten Kreisen weit verbreitet ist, denen er angehört. Es ist übrigens wenig bekannt, dass Musk aus der Ahnenreihe einschlägig vorbelastet ist: Der Großvater mütterlicherseits, Joshua Haldemann, war Anhänger der Herrschaft der Weißen, Rassist und Antisemit. Er hielt Südafrika bis zum Fall des Apartheitregimes für den „Himmel der weißen christlichen Zivilisation“ und pflegte nach Medienberichten Nazi-Traditionen.

In einem Podcast-Gespräch mit Joe Rogan, einem bekannten US-Podcaster, teilte Musk nicht nur die seltsame Theorie, dass die Demokraten daran arbeiteten, so viele Einwanderer ohne Papiere wie möglich ins Land zu holen, damit sie die US-Regierung für immer übernehmen können. „Wenn sie noch vier Jahre hätten, würden sie genug Illegale in den Swing-States legalisieren, um die Swing-States zu Nicht-Swing-States zu machen“, sagte Musk zu Rogan. “Sie wären einfach blaue Staaten. Dann würden sie ... die Präsidentschaftswahl gewinnen; sie würden das Repräsentantenhaus, den Senat und die Präsidentschaft gewinnen.“ Diese Theorie hat deshalb keine Grundlagen, weil Illegal Eingewanderte nicht wählen dürfen. Also handelt es sich um eine Verschwörungstheorie, ein Hauptthema der rechten Propaganda. Leider wird das Gegenteil angebahnt: Die Agitatoren von Trump und Musk arbeiten daran, die Demokratie in den USA zu untergraben und die Gewaltenteilung auszuhebeln, um die Herrschaft der Republikaner auf Dauer zu stellen. 

Was aber noch bedenkenswerter ist, ist Musks Einstellung zur Empathie. Er meint, dass Mitgefühl für den Einzelnen der Gemeinschaft teuer zu stehen kommt. In Hinblick auf den Schritt Kaliforniens, auch Menschen ohne Papiere, die für das einkommensschwache Medi-Cal-Programm in Frage kommen, eine Krankenversicherung anzubieten, meinte er: „Wir haben es mit einer zivilisatorischen selbstmörderischen Empathie zu tun“. Einerseits meint er, dass man sich um andere Menschen kümmern sollte, aber zugleich auch dass die Empathie die Gesellschaft zerstört. „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie, die Ausbeutung von Empathie“, sagte Musk. „Dort wird ein Fehler in der westlichen Zivilisation ausgenutzt, nämlich die Empathie-Reaktion.“ Empathie, sagte er, sei zur Waffe gemacht (“weaponized”) worden - offenbar nur eine Waffe gegen die Feinde der Empathie.

Mit krassen sozialen Statusunterschieden und Schlechterstellungen geht ein kollektives Schamgefühl einher. Soziale Strömungen in der Politik, die das Auseinanderdriften zwischen arm und reich sowie zwischen mächtig und ohnmächtig ausgleichen will, geraten im Weltbild von Musk zu Ideologien der schädlichen Übertreibung der Empathie. Es kreuzen sich bei diesem Angriff auf die Empathie rechte und neoliberale Abwertungen von den Schwächeren in der Gesellschaft. Zur neoliberalen Ideologie zählt die Verachtung von jenen, die weniger leisten oder weniger leistungsfähig sind. (Der Maßstab für Leistungen liegt dabei im monetären Erfolg, deshalb gelten z.B. die Leistungen von alleinerziehenden Personen nicht.) Es wird deshalb z.B. Druck ausgeübt, die Arbeitslosenunterstützung möglichst gering zu halten, damit die Betroffenen gedrängt werden, schnellstens wieder Leistungen zu erbringen. In der rechtsgerichteten Propaganda wird der Neid auf jene geschürt, die angeblich für Wenig- oder Nichtstun vom Staat erhalten werden oder im Krankheitsfall Hilfe bekommen. Es soll die Angst geschürt werden, dass einem diese Leute etwas wegnehmen, was einem zustünde. In diese Kerbe schlägt die Angstmache vor Migranten, die ebenfalls als Gefahrenträger für den eigenen Wohlstand dargestellt werden.

Empathie als Grundbedrohung

Musk geht noch weiter: Empathie ist nicht nur eine Schwäche von moralinsauren Linken, sondern sie führt zum Selbstmord der Zivilisation. Sie bedroht also die Grundlagen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Sie sei zur Waffe gemacht worden. Aus diesem Bedrohungsbild leuchtet ein, mit welchem Furor Musk die Institutionen des Staates demolieren will, als müsste möglichst schnell alles, was den Bazillus der Empathie in sich trägt wie Entwicklungshilfe- oder Gleichberechtigungsprogramme vernichtet werden.

Diese Besessenheit rührt daher, dass Musk Empathie mit Barmherzigkeit oder Mitmenschlichkeit verwechselt. Empathie impliziert nicht bestimmte Handlungen, sondern bezeichnet einen inneren Zustand, bei dem das Leid anderer Menschen im eigenen Gefühlsleben wahrgenommen wird. Wohl kann die Empathie zu einem Tun führen, aber nicht notwendigerweise. 

Der Hass auf die Empathie, den Musk, stellvertretend für viele Gleichgesinnte, zum Ausdruck bringt, kann nur durch einen Mangel an erfahrener Empathie erklärt werden. Wer nie oder viel zu wenig Mitgefühl für die eigenen Schwächen und Mängel bekommen hat, kann andere Menschen mit Schwächen und Mängeln nur verachten und muss sie aus der Gesellschaft ausschließen oder an den äußersten Rand drängen. Außerdem wird für ihn die Empathie zum gefährlichsten Gift, denn sie trägt dazu bei, dass die Schwachen und Mangelhaften einen geachteten Platz in der Gesellschaft einnehmen können

Das Kapern von Begriffen der Menschlichkeit

Es steht zu befürchten, dass ein Schlüsselbegriff für ein gutes menschlicheres Zusammenleben in Misskredit gebracht wird und damit der Entwicklung Vorschub geleistet wird, deren Fahnenträger mit dem Pathos des heroisierten Empathieverzichts zu Initiatoren von Unmenschlichkeiten werden. Eine in vorhergehenden Blogbeiträgen beschriebene Taktik rechter und rechtsextremer Publizisten und Politiker besteht ja im Aufgreifen von Begriffen mit prosozialem oder emanzipativem Gehalt, die ihrer ursprünglichen Bedeutung entkleidet, umgedeutet und dann gegen die Aufrechterhaltung der Menschlichkeit in Stellung gebracht werden. Eine Gesellschaft, in der die Empathie in Verruf gerät, reißt die Dämme gegen die brutalen Machtkämpfe von schrankenlosen Egoisten nieder. In diesem Zusammenhang wird jetzt häufig Hannah Arendt zitiert: „Der Tod der menschlichen Empathie ist eines der frühesten und deutlichsten Zeichen dafür, dass eine Kultur gerade der Barbarei verfällt.“

Wie es auch bei anderen Begriffen dringlich erforderlich ist, sollten wir alles tun, um die Werte der Mitmenschlichkeit und der gegenseitigen Fürsorge, für die wir die Fähigkeit zur Empathie brauchen, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Wir dürfen uns auf keinen Fall die Begriffe, mit denen wir das Gute vom Bösen unterscheiden, von radikalisierten Propagandisten wegnehmen lassen. 

Zum Weiterlesen:
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff
Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit
Taktiken zur Machergreifung

Hier zur Videofassung


Freitag, 14. März 2025

Moralischer Fortschritt

Gibt es Fortschritte in der Moral? Verändern sich die Einsichten und Überzeugungen der Menschen über das, was gut und was nicht gut ist, im Lauf der Zeit, und erfolgen solche Veränderungen in einer linearen Richtung, wie es für den Fortschrittsgedanken maßgeblich ist? Ich greife im Folgenden Gedankengänge von Thomas Nagel auf, der in den USA Philosophie lehrt. 

Es gibt Fortschritte in den Naturwissenschaften, die von der Art sind, dass etwas, das als Wahrheit entdeckt wird, und die Entdeckung besteht darin, zu erkennen, dass diese Wahrheit schon immer bestanden hat, bevor sie enthüllt wurde. Der Umfang der Erde am Äquator war immer ca. 40 000 Kilometer, selbst zu einer Zeit, wo niemand eine Ahnung von der Kugelgestalt der Erde hatte. Bei der Moral ist das anders. Sie handelt von dem „wofür wir Gründe haben, es zu tun und nicht zu tun.“ (Nagel 2025, S. 43)

Moralische Einstellungen sind einem Wandel unterworfen, sowohl im Lauf der Lebensgeschichte einer Person als auch im Rahmen von Gesellschaften. Zum Beispiel gilt heute die Sklaverei als Unrecht und die Ausbeutung von Sklaven als moralisch verwerflich. In der Antike, in der sich schon die Philosophen mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, ist man nicht zu diesem Schluss gelangt. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Sklaverei schlecht ist und abgeschafft werden muss. Nachträglich betrachtet, wundern wir uns, warum Denker in der Vergangenheit die Ausbeutung von Menschen durch Menschen nicht kritisiert haben, sondern einfach als gegeben hingenommen haben, als ein Schicksal, das manche erleiden und andere nicht. Aber offensichtlich sind besondere Zeitumstände erforderlich, um soziale Selbstverständlichkeiten auf ihre Moralität hin reflektieren zu können.

Es gibt offenbar einen Fortschritt in der Moral, der durch politische und gesellschaftliche Veränderungen vorbereitet wird. Wo diese Veränderungen noch nicht eingetreten sind, gibt es noch immer Sklaverei; wo so aber stattgefunden hat, erscheint sie zutiefst unmoralisch.

Die neuen ethischen Einsichten ergeben sich aus den geänderten ökonomischen Bedingungen. In der industrialisierten Wirtschaft ist die Sklaverei nicht mehr notwendig und unter Umständen sogar fortschrittshemmend. Darum verbreitete sich die neue moralische Sichtweise der Ablehnung der Sklaverei quer durch die Gesellschaft.

Einen ähnlichen Zusammenhang können wir bei der Entwicklung der Frauenrechte sehen. Solange die Wirtschaft im Agrarbereich und im Handwerk auf Familienstrukturen aufgebaut war, war eine strikte Zuschreibung der Geschlechtsrollen erforderlich – fixe Aufgaben, die die Männer zu leisten hatten, und andere, die den Frauen zukamen, sowie eine klare Grenze dazwischen. Im Gefolge der Industrialisierung wurden diese Formen der Arbeitsteilung obsolet. Dazu kam, dass durch die Einführung von Maschinen die Körperkraft immer unwichtiger wurde; dieser Hauptunterschied zwischen Männern und Frauen spielt kaum mehr eine Rolle. In der modernen Gesellschaft können Frauen alle Männerberufe übernehmen, Männer alle Frauenberufe. Deshalb gibt es auch keine objektiven Gründe mehr, warum Frauen in irgendeiner Weise benachteiligt werden dürften. Während früher wie selbstverständlich gegolten hatte, dass Männer mehr Rechte in der Gesellschaft beanspruchen dürften, gibt es für diese Ungerechtigkeit heutzutage keine moralischen Begründungen mehr.

Es gibt bei den Fortschritten in der Moral immer Vorreiter, oft sind es von Diskriminierung und Ausgrenzung Betroffene, häufig auch Intellektuelle, die vorpreschen und deren Meinungen dann allmählich von der Bevölkerungsmehrheit übernommen werden. In der Regel sind es Jüngere, die schneller auf neue Ebenen der Toleranz wechseln, als Ältere, die eher an traditionellen Werten festhalten.

Jede Zeit braucht die ihr gemäße Moral, um ein höheres Maß an Stabilität zu gewinnen als die vorige. Die Natur der Evolution bewirkt, dass die Komplexität mit jeder neuen Ebene, die erreicht wird, erhöht wird. Vermehrte Komplexität führt zunächst zu Instabilität. Die Moral ist einer der Faktoren, die zur Stabilität auf der sozialen Ebene beitragen, also dazu, dass das Netz der menschlichen Interaktionen möglichst reibungsfrei mit neuen Gegebenheiten zurechtkommt. Deshalb ist auch eine komplexere Form der Moral notwendig, um den fragiler gewordenen Umständen gerecht zu werden.

Eine weitere Entwicklungsrichtung der Evolution verläuft in die Breite, in Form von sich erweiternden Kreisen. Das Stichwort der Globalisierung beschreibt diesen Prozess auf der ökonomischen Ebene. Ähnlich verlaufen solche Prozesse aber auch in Hinblick auf die moralischen Werte. Ein Beispiel bildet die zunehmende Achtung der gleichgeschlechtlichen Liebe und von entsprechenden Lebensformen, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar erschien. Vor allem die männliche Homosexualität stand unter Strafandrohung und wurde gesellschaftlich geächtet. Inzwischen haben viele Länder gleichgeschlechtliche Ehen oder eheähnliche Lebensgemeinschaften rechtlich anerkannt, und das Schwul- oder Lesbischsein wird zu einer akzeptierten Variante. Es gibt noch viele Länder, in denen dieser Schritt noch nicht vollzogen wurde, aber andererseits kommt es bei rechtsgerichteten Parteien in westlichen Ländern immer weniger vor, dass sie homosexuelle Orientierungen angreifen. Deren Hassparolen gelten mittlerweile vor allem den Transpersonen. Vermutlich bildet die Entwicklung der Toleranz für solche Personen die nächste Hürde, die die moralischen Urteile im Bereich der menschlichen Geschlechtlichkeit nehmen werden.

Eine Folge der Globalisierung ist die gesteigerte Mobilität, nicht nur durch Wander- und Fluchtbewegungen, sondern auch durch persönliche Beziehungen über die Kontinente hinweg. Kulturen vermischen sich zusehends und entwickeln sich dadurch weiter, was immer wieder Widerstände hervorruft und Widersprüche erzeugt; dennoch ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten, und sie erzwingt die Weiterentwicklung der Moral. Sie muss so weltweit werden wie ihre Subjekte, die Menschen, die global miteinander verknüpft sind. Zugleich muss sie auf alle Rücksicht nehmen, die durch die Komplexität der Entwicklungen überfordert sind. Doch handelt es sich bei den Hauptproblemen, mit denen wir befasst sind, um weltweite Probleme, und sie können ohne eine weltweite, also alle Menschen einschließende und von allen geteilte Ethik nicht gelöst werden. Wir stehen an der Schwelle zu diesem neuen Niveau der Moral.

Nagel schreibt dazu: „Heute ist diese Vorstellung von Gerechtigkeit durch die Zunahme globaler Vernetzung und die Mobilität von Bevölkerungen einem enormen Druck ausgesetzt. Durch die Ungleichheit im internationalen Vergleich stellt sich offenbar die Frage der grundsätzlichen Gerechtigkeit, auf die wir keine überzeugende Antwort haben. Es ist die folgende Frage: Können wir Prinzipien für die internationale oder globale Steuerung finden, die moralisch und institutionell mit unserer Vorstellung von innerstaatlicher oder gesellschaftsinterner Gerechtigkeit vereinbar sind?“ (Nagel 2025, S. 105)

Quelle: Thomas Nagel: Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt. Berlin: Suhrkamp 2025

Hier zur Videofassung

Zum Weiterlesen:
Die Notwendigkeit der universalen Ethik
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung

Donnerstag, 6. März 2025

Fortschritt trotz Rückschritten

Wenn Rechtsparteien an die Macht kommen, sorgen sie dafür, dass es in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu Rückschritten kommt. Weiterentwicklungen in den Menschenrechten, in den Frauenrechten, in der Anerkennung von Minderheiten, Experimente in der Kultur und Kunst werden abgedreht, zusammengestutzt oder vom Geldhahn abgeschnitten. Unter der Losung „Zurück zur Tradition“ werden liberale Errungenschaften beseitigt, wie nach der Märzrevolution 1848, nach deren gewaltsamer Niederschlagung alle neuen Freiheitsrechte abgeschafft wurden. Es dauerte damals in Österreich 20 Jahre, bis die liberalen Rechte dann als Grundrechte in die Verfassung aufgenommen wurden. In der Slowakei können wir aktuell beobachten, wie die offizielle Kulturlandschaft umgekrempelt wird, indem alle staatlichen Posten mit fachfremden Parteigängern der Kulturministerin besetzt werden, die das Kulturleben auf traditionelle und national geprägte Ausdrucksformen beschränken will.

Was auch immer Politiker veranstalten, ändert nichts daran, dass der Fortschritt weitergeht: In den Wissenschaften, in der Technik und in der Ökonomie. Auch die sozialen Beziehungsformen entwickeln sich weiter. Manche dieser Prozesse können durch politische Maßnahmen verlangsamt werden, manche andere zeitweilig und regional unterbunden und unterdrückt werden; gänzlich aufgehalten können sie nicht werden. Denn die Menschen verfügen über ein unbegrenztes Potenzial an Neugier und Kreativität, das sich ausdrücken und verwirklichen will, gleich unter welchen politischen Verhältnissen sie leben. 

In der gesamten Menschheitsgeschichte gibt es Phasen der stürmischen Weiterentwicklung in manchen Gebieten, wie z.B. im antiken Griechenland oder im Wien der Zwischenkriegszeit.  Es gibt auch Phasen des scheinbaren Stillstandes oder der Rückentwicklung, wie z.B. im Biedermeier, als die Reformen der französischen Revolution rückgängig gemacht wurden. Aber selbst in diesen Zeiten haben sich andere Entwicklungsstränge beschleunigt, z.B. die Industrialisierung oder die Weiterführung der Klassik in die Romantik in der Literatur und Musik. 

Der Fortschrittsmotor Kapitalismus

Der Kapitalismus kennt keine Rückschritte. Sein Wachstumsprinzip ist das Mehr und Noch Mehr. Die politischen Rahmenbedingungen wirken bestenfalls modulierend auf diese Dynamik ein. Sie können das Tempo, die Richtung und die inhaltliche Gestaltung beeinflussen, nicht aber den Wachstumsdrang selbst. Nach dem Zweite Weltkrieg lag die Wirtschaft in den zerstörten Gebieten darnieder, doch bahnte sich dann ein Wirtschaftsaufschwung samt noch nie dagewesener Wohlstandsmehrung an. 

Das kommunistische Sowjetexperiment hatte ja das Ziel, die Macht der kapitalistischen „Naturgewalt“ zu brechen und eine Wirtschaftsform unter durchgängiger politischer Kontrolle zu etablieren. In China gab es unter Mao Zedong ähnliche Bestrebungen. Das Gesamtergebnis dieser Experimente (neben dem hohen Blutzoll, den sie angerichtet haben) liegt darin, dass die ökonomische und technische Entwicklung dennoch weiterging, nur wesentlich langsamer, sodass die Länder des „real existierenden Sozialismus“ bei dessen Ende in fast allen Bereichen der Wirtschaft weit hinter dem Niveau der westlichen Länder hinterherhinkten. China hat in den 1980er Jahren die politische Kontrolle der Wirtschaft aufgegeben und dadurch konnte dort der Kapitalismus schnell aufholen. 

Der Preis, den Kapitalismus durch politische Eingriffe aufzuhalten, ist also hoch. Darin bestand der Lernprozess, und viele Theoretiker und Politiker wechselten vom Kommunismus zum Sozialismus oder zur Sozialdemokratie, weil sie erkannten, dass der Kapitalismus nicht einfach abgeschafft werden kann, sondern eingehegt werden muss. Denn ein Kapitalismus, der überhaupt nicht durch politische Einflüsse reguliert wird, richtet sich gegen die Menschen, indem sie ungeschützt ausgebeutet werden. Er braucht also Rahmenbedingungen und Regulierungen, wie ein Fluss, der nicht am Fließen gehindert werden soll, sondern dessen Verlauf so gestaltet wird, dass Hochwässer am wenigsten Schaden anrichten. Allerdings sollte diese Metapher mit Vorsicht genossen werden, weil der Kapitalismus ein menschengemachtes Phänomen ist und keine Naturgewalt. Wir machen also durch unsere ökonomischen Handlungen den Kapitalismus, und wir können ihn durch das, was wir tun oder unterlassen, beeinflussen und gestalten.

Die Verlangsamung des Lernens durch Machteinflüsse

Das Problem bei politischen Bremsversuchen des Fortschritts besteht darin, dass die in der Politik involvierten Machtstrukturen zur Verlangsamung nicht nur der sozialen und ökonomischen Prozesse, sondern auch der Lernvorgänge insgesamt führen. Das Sowjetimperium hat siebzig Jahre gebraucht, bis es möglich war, die Lehren aus dem, was schiefgelaufen ist, zu ziehen, und bis heute leidet Russland an seiner Zurückgebliebenheit und versucht, diese Schmach durch kriegerische Zerstörungen wettzumachen.

Die Pathologie der Macht besteht darin, dass die Mächtigen sie nicht loslassen können. Damit verhindern sie Weiterentwicklung und Lernen. Macht, die zum Selbstzweck geworden ist, versucht verzweifelt, das Rad der Geschichte aufzuhalten, die ganze Kraft fließt in diese mühsame und letztlich fruchtlose Anstrengung. Aus der Sicht der Mächtigen muss alles so bleiben, wie es ist, denn nur so kann die Macht erhalten werden. Wer zu viel lernt, wird gefährlich für die Mächtigen.

Die Bremsung der gesellschaftlichen Lernvorgänge durch autoritäre Staatsformen und Diktaturen wird durch das Vorantreiben von Spaltungen verstärkt. Einzelne Bevölkerungsgruppen werden gegeneinander ausgespielt; damit wird Misstrauen und Konkurrenz in der Gesellschaft gesät. Die angstgetriebenen Energien fließen weniger in Erneuerungsprozesse als in die Aufrechterhaltung des eigenen Status. Je mehr Unsicherheit in der Gesellschaft herrscht, desto schwerer hat es die Kreativität. Je mehr Traumen das kollektive Bewusstsein durchziehen, desto weniger Kräfte stehen für das Lernen und Weiterentwickeln zur Verfügung.

Die Demokratie als Nährboden für Lernprozesse und Kreativität

Die Demokratie wurde unter anderem zu dem Zweck erfunden, die Macht von Einzelpersonen zu begrenzen und zu kontrollieren. Dadurch soll das Festklammern an der Macht (Putin regiert seit 25 Jahren, Lukaschenko seit 31) und das Einzementieren von Ideologien unterbunden werden. Andererseits werden Räume garantiert, in denen sich die Lern- und Weiterentwicklungsprozesse entfalten können. Diese Räume sollen weitgehend frei von Herrschaft sein, sodass eine vernunftgeleitete Diskurs-, Forschungs- und Kreativkultur gedeihen kann.

Die Demokratie wird von rechten Ideologen und Politikern bekämpft und von vielen Menschen weniger geschätzt, weil sie sich mit ihren Problemen und Interessen nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Sie stellt – mit all ihren Schwächen – die reifste Form der Machtausübung dar. Sie ist ein Produkt des Fortschritts sozialer Kompetenzen und ethischer Reflexionen und sie enthält in sich die Motive zu ihrer beständigen Verbesserung.

Momentan erkennen wir in vielen Bereichen Rückschritte – vergessen wir aber nicht den größeren Bogen und den langen Atem der Geschichte. Fortschritte verzögern sich manchmal, und in solchen Zeiten reifen die Kräfte für das Weitergehen im Verborgenen. Wir wissen noch nicht, was die gegenwärtigen Entwicklungen zum Fortschritt beitragen, weil es so ausschaut, als würde die halbe Menschheit um Stufen auf der zivilisatorischen Leiter zurückfallen (überall wird aufgerüstet, was nur geht, Demokratien verwandeln sich mir nichts dir nichts in Autokratien). Aber jedes Chaos evolviert irgendwann zu einer neuen Ordnung mit mehr Spielräumen und Möglichkeiten. Die Errungenschaften der Menschlichkeit, die da und dort mit Füßen getreten werden, gehen nicht verloren. Wir können ihre Banner tragen und möglichst viele ermutigen, es uns gleich zu tun. Vertrauen wir auf die Macht des Fortschritts, die die Kraft der Bewusstseinsevolution in sich trägt.

Zum Weiterlesen:

Demokratie in der Krise?
Das Erlernen der Demokratie in der Kindheit

Hier zur Videofassung


Mittwoch, 5. März 2025

Taktiken zur Machtergreifung

Im vorigen Blogartikel war von rhetorischen Mustern die Rede, die von Rechten und Rechtsextremen genutzt werden. Hier geht es um ähnliche Taktiken, die ergriffen werden, um auf demokratischem Weg  an die Macht zu gelangen und sie dann nicht mehr aus der Hand zu geben. 

Die Propaganda um die Meinungsfreiheit 

Häufig ist die Beschwerde aus der rechten Ecke zu hören, dass man bestimmte Dinge nicht mehr in der Öffentlichkeit sagen dürfe. Die Meinungsfreiheit bestünde eben nur am Papier. Denn andere drohen gleich mit der “Nazi-Keule”, weil man nicht eine gerade menschenfreundliche Botschaft an die Öffentlichkeit gebracht hat. Also stilisiert man sich als Opfer einer gesellschaftlichen Intoleranz und klagt das Fehlen der Meinungsfreiheit an, die man selber für eine abwertende Nachricht und jemand anderer gerade für eine Kritik daran genutzt hat. Gut im Austeilen, schwach im Nehmen, so stilisiert sich diese Haltung. Kaum war man aggressiver Täter, schon fühlt man sich als wehleidiges und ungerecht behandeltes Opfer, wenn andere zurückschlagen.  

In diesem Denkhorizont besteht eine echte Meinungsfreiheit nur dann, wenn alle dem zustimmen, was man denkt und äußert. Das ist allerdings eine kindliche Erwartung, verbunden mit der Überzeugung, die Wahrheit gepachtet zu haben. Diese Überzeugung, die eigentlich eine Verbohrtheit darstellt, kennt keine Gesprächsfähigkeit und keinen Austausch von unterschiedlichen Standpunkten. Sie will Einheitlichkeit statt Pluralität. In ihr spiegelt sich die autoritäre Struktur: Statt einer Vielzahl von Meinungen soll es eine bestimmende Ideologie geben, der sich alles andere anpassen oder unterordnen muss. Erst dann, wenn die echte Meinungsfreiheit abgeschafft wurde, käme die eigene Meinung, die sich mit der Ideologie deckt, zur unbestrittenen Geltung. 

Einheitlichkeit statt Unterschiedlichkeit ist die Losung und das Ziel von autoritären Diktaturen. Jede Abweichung von dem, was den Konsens darstellt, muss gleichgerichtet werden. Dann kennt sich jeder aus, und es gibt nur mehr Menschen, die für die vorherrschende Richtung und damit für die wahre Gemeinschaft sind, und solche, die dagegen sind. Sie sind die Feinde der Gemeinschaft und müssen folglich bekämpft werden. 

Jede Uneindeutigkeit stört und muss beseitigt werden, jede Ambiguität muss auf das Schwarz-Weiß-Schema der Machtausübung reduziert werden. Die Zwischentöne, die dem Leben eigentlich die Würze und Buntheit geben, werden zum Verstummen gebracht.

Die Beherrschung wird einfacher, wenn alle nur eine Meinung haben und ausdrücken dürfen. Das erleichtert die Kontrolle und die Unterdrückung. Die Medien werden gleichgeschaltet, und nur mehr eine Botschaft schallt aus den Lautsprechern. Jeder kann frei seine Meinung sagen, solange sie mit der Ideologie übereinstimmt. Wer eine andere Meinung vertritt, stellt sich außerhalb der Gemeinschaft und muss mit unangenehmen Konsequenzen rechnen. Ein aktuelles Beispiel: In den USA müssen die Staatsbediensteten jetzt ideologische Bekenntnisse ablegen, indem sie die Verbrechen um die Erstürmung des Kapitols leugnen und nach dem Willen des Präsidenten den Golf von Mexiko als Golf von Amerika bezeichnen. Ansonsten droht die Kündigung. Ob sie dann außerdem auf einer Liste des IFB stehen, weiß man nicht.

Der erste Schritt besteht, wie schon beschrieben wurde, darin, die Hassrede zur Normalität zu machen, also immer wieder Hass zu säen, bis sich niemand mehr daran stößt. Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit erlaubt z.B. der Mega-Konzern (facebook, Instagram, WhatsApp etc.) jede Form der Verhetzung und der Verbreitung von Hass - antisemitische Propaganda zu verbieten, wäre ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. Das Ziel kann nur sein, die Gesellschaft tief zu spalten und zu demoralisieren. 

Die Entmoralisierung

Radikalität im gesellschaftlichen Verhalten hat immer etwas mit dem Überschreiten von Moralgrenzen zu tun. Die Überzeugung von der abgrundtiefen Schlechtigkeit der Zustände und der Dringlichkeit, das Schädliche sofort zu beenden, rechtfertigt scheinbar die Mittel. Würde man sich an die Vorgaben der Moral halten, wäre man zu schwach und zu langsam und das Leiden an den schlimmen Verhältnissen würde viel zu lange andauern.

Viele Rechtsradikale verstehen sich als Rebellen gegen das „System“ oder gegen irgendwelche „Eliten“ und geben sich die Erlaubnis, auch gleich gegen die Grundsätze der Moral zu rebellieren. Sie sehen sich als Vorreiter und als Außenseiter. Damit können sie ihre Stellung am Rand oder außerhalb der Moral und der Gesetze begründen. Selbst wenn es verboten ist, werden Nazi-Devotionalien und Waffen gesammelt, um notfalls zuschlagen zu können, wenn die Machtergreifung naht. Rechtsextreme Straftaten sind in vielen Ländern Europas im Ansteigen begriffen. Oft sind sie gegen Juden oder Ausländer gerichtet, also gegen Personen, die nicht in das rechte Volksschema passen, und die außerdem die Schwächeren sind. 

Die Gutmenschen

Der Terminus des Gutmenschen kommt da gerade recht. Er ist zu einem Kampfwort gegen die Liberalen und Linken geworden und kritisiert jene, die es scheinbar mit der Moral zu ernst nehmen und den Eigennutz viel zu häufig hintanstellen. Es sind z.B. die, die sich für Flüchtlinge einsetzen, statt alle auszuweisen und die Grenzen dicht zu machen. Es sind die, den Bettlern Almosen geben, anstatt sie in Arbeitslager zu stecken. Sie werden als naiv abgewertet und als übermoralisch verspottet. In diesen Zusammenhang passt, dass Adolf Hitler in „Mein Kampf“ das Wort „gut“ häufig in abwertendem Sinn einsetzte: Die „Gutmeinenden“ verwendete er synonym für die Juden als auch für die Gegner des Nationalsozialismus.  

Das Böse, das in jeder Form von Menschenfeindlichkeit und Gewalt steckt, ist ein Stachel in der Psyche von aggressiven Rechtspopulisten und deren Anhängern. Um den inneren Konflikt zu neutralisieren, wird das Gute als schädlich und als das eigentlich Böse umgewertet. Es steht der Härte im Weg, mit der allein die Welt in die richtige Richtung gelenkt werden kann. Es ist ja offensichtlich, dass die Zustände durch die Gutmenschen nicht verbessert wurden. Sie müssen gewaltsam über den Haufen geworfen werden. 

Um die eigene Gewalttätigkeit und Aggressivität sowie den Hass rechtfertigen zu können, sodass man schließlich auch über Leichen gehen kann, muss das moralische Empfinden verwirrt und abgestumpft werden. Die Rede vom Gutmenschen ist der Beginn dieser Entwicklung. Dabei wird das äußere Gute in Böses umgemünzt, damit das eigene Böse gut sein kann. Am Ende dieses Prozesses steht der innere und der äußere Faschismus. 

Die Angriffe auf die öffentlich-rechtlichen Medien

In liberalen Staaten, in denen es öffentlich-rechtliche Medien gibt, werden diese von den Rechtsparteien angegriffen. Denn ihrem Auftrag nach vermitteln sie liberale Werte und grenzen sich von extremen Positionen ab. Sie müssen sich am wissenschaftlichen Standard und Grundkonsens orientieren und nicht an Verschwörungstheorien oder Außenseitermeinungen. Sie fördern die Pluralität und Diversität. Der Rechtsextremismus will nicht nur die Liberalität, also die Grundrechte der Freiheit einschränken oder abschaffen, sondern auch die Horte dieser Rechte ausräuchern. Sie verkörpern nämlich so ziemlich alles, was diesen Leuten gegen den Strich geht, und werden von ihnen als „linksversiffter“ Mainstream wahrgenommen. 

Es gibt verschiedene Strategien, mit denen vorgegangen wird. In Österreich ist es der Kampf gegen Rundfunkgebühren, mit dem scheinbar die Bürger entlastet werden sollen, während es tatsächlich darum geht, die öffentlichen Medien finanziell auszuhungern, damit sie dann privatisiert werden müssen; und private Geldgeber aus dem Hochfinanzbereich können dann mit den Sendern machen, was ihnen in den ideologischen Kram passt, so wie der Sender Servus-TV den rechtslastigen Meinungshorizont des verstorbenen Red-Bull-Milliardärs wiedergibt. Eine weitere Strategie, die erfolgreich gefahren wird, besteht in den Attacken auf den „Mainstream“. Damit ist alles gemeint, was der eigenen ideologischen Ausrichtung nicht entspricht. Mainstream-Medien sind nicht nur die öffentlich-rechtlichen, sondern auch Qualitätsmedien, also solche, die sich den Regeln des qualifizierten Journalismus verpflichtet fühlen. Sie alle sollen mit einem Geruch von Elite, Abgehobenheit, Systemerhalt und Ignoranz gegen die Nöte der Menschen imprägniert werden. Damit sollen möglichst viele Medienkonsumenten auf die „alternativen“ Medien umgeleitet werden, wo sie dann von der Propaganda von rechts erreicht und manipuliert werden können.

In Ländern, wo die Rechten die Macht errungen haben, werden die öffentlich-rechtlichen Medien in einen Staatsfunk umgewandelt. Alle Inhalte werden von der Regierung kontrolliert und von ihrer Ideologie durchtränkt. Sie werden also zum Propagandainstrument der Macht. Am Beispiel Russland kann man erkennen, wie gut das gelingen kann. Eine große Mehrheit der Russen glaubt, dass die Ukraine Russland angegriffen hat und dass sich Russland in einem Verteidigungskrieg befindet, weil das Staatsfernsehen diese Propaganda beständig wiederholt. Gewissermaßen gibt es in jedem russischen Haushalt nur mehr „Volksempfänger“, aus denen die immer gleichen Botschaften kommen, solange, bis alle genauso denken wie der Diktator. In den USA und damit weltweit besorgen Tech-Milliardäre diesen Job, indem sie die Plattformen der sogenannten sozialen Medien mit gleichgeschalteten Botschaften fluten.

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