Der Atem ist der Anfang und das Ende. Der Bogen jedes menschlichen Lebens wird durch den Atem eingeleitet und endet mit dem Atem. Von atmenden Menschen gezeugt und geboren, setzt nach der Geburt der erste Atemzug ein und markiert den Beginn des selbständigen Lebens. Die Atmung fließt weiter, bis zum letzten Ausatemzug.
Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt für die respiratorische Philosophie. Ich beziehe mich im Folgenden auf Petri Berendtson, einen Hauptvertreter dieser philosophischen Richtung. Er nennt seinen Ansatz eine phänomenologische Ontologie des Atems. Er sieht das menschliche Leben nicht nur als „In-der-Welt-Sein“, wie es Martin Heidegger formuliert hat, sondern viel grundlegender als „In-der-Welt-Atmen“. Die Begegnung mit dem Sein ist immer eine Begegnung mit dem Atem, bzw. geschieht diese Begegnung im Atem. Damit ist der Atem das Sein, in dem die Seinserfahrung stattfindet.
Im Atem geschieht folglich vor jeder Wahrnehmung (die in der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty im Zentrum steht) und vor jedem Denken (nach Descartes) der Vollzug des Seins. Wir atmen, auch wenn wir nichts wahrnehmen (z.B. im Tiefschlaf) oder wenn wir nichts denken. Dieses atmende „In-der-Welt-Sein“ geschieht vor jeder Bewusstheit und Reflexion, und jede Bewusstheit, jede Reflexion ist atmend. Also wird der „wahrnehmende Glaube“ (foi perceptive) von Merleau-Ponty in der respiratorischen Philosophie zum atmenden Glauben. Dieser Glaube hat nichts mit Religion zu tun. Er bezeichnet vielmehr eine vorbewusste Überzeugung, dass die Welt da ist, bestätigt mit jedem Atemzug. Die Erkenntnis, dass es eine Welt gibt, ist immer zugleich die Erkenntnis, dass es eine atmende Welt ist, in der wir atmend existieren. Der atmende Glaube ist kein bloß psychologisches Phänomen, sondern eine existentielle Struktur – wir existieren nur durch und mit der Luft, die durch das Atmen zu unserer Lebensquelle wird.
In der Atmung erfahren wir, dass das Innen und Außen nicht strikt getrennt sein können. Das atmende In-der-Welt-Sein ist durch ein beständiges Ineinander-Übergehen von innen und außen gekennzeichnet. Die ein- und ausströmende Luft ist zugleich Eigenes wie Fremdes, immer ineinander vermischt. Mit jedem Atemzug werden das Innere zum Äußeren und das Äußere zum Inneren. Das Leben ist ein dynamischer Austauschprozess, bei dem die Atmung die grundlegende Gestaltung vornimmt und das Medium bildet, in dem alles stattfindet. Wir sind in jedem Moment in der Welt und die Welt ist in uns, durch die Luft, die in uns einströmt und aus uns entweicht. Die Luft, die wir aufnehmen, verändert uns, und wir verändern die Welt um uns mit der Luft, die wir ausatmen.
Das atmende In-der-Welt-Sein ist ein verkörpertes Sein, denn die Atmung ist ein physiologischer Vorgang, der ohne einen Körper nicht stattfinden kann. Auf der anderen Seite erschöpft sich der atmende Lebensvollzug nicht in einem leiblichen Prozess, sondern enthält zugleich einen immateriellen Anteil. Denn jeder Atemzug ist ein Informationsaustausch. Jedes Luftmolekül, das in uns über die Atmung gelangt, enthält Informationen, die in uns empfangen und verarbeitet werden; jedes ausgeatmete Teilchen wiederum gerät in die äußere Welt und entfaltet dort seine Wirkung. Wir kennen diesen Informationsgehalt der Luft, wenn wir Gerüche wahrnehmen, doch enthält sie noch viel mehr andere Dimensionen, von denen uns die meisten nicht bewusst sind und die dennoch Wirkung in uns entfalten.
In den östlichen Philosophien ist viel von diesen unsichtbaren Energien die Rede, sei es als Qi im Taoismus oder als Prana im Hinduismus. Diese beiden Begriffe sind eng mit der Atmung verbunden. Die respiratorische Philosophie verbindet also auch westliche und östliche Denktraditionen.
Literatur:
Petri Berendtson: Phenomenological Ontology of Breathing: The Respiratory Primacy of Being. Rutledge 2023
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