Im Bereich der relativen Wahrheiten gibt es kein eindeutiges und absolut gültiges Richtig oder Falsch. Vielmehr geht es darum, zu überprüfen, ob eine bestimmte Theorie nahe an die Wirklichkeit herankommt, sodass ihre Anwendung in der Praxis erfolgreich ist oder nicht. Hier hat sich die Vorgehensweise der Wissenschaften ausgezeichnet, weil sie durch die beständige Weiterentwicklung und Verfeinerung der Methoden der Wahrheitsprüfung viele Theorien hervorgebracht hat, die dann anwendbar und umsetzbar waren. Wir können uns jedes moderne technische Gerät, auch jenes, auf dem dieser Text geschrieben wird, als Ergebnis von Tausenden von praxistauglichen Theorien vorstellen, bei deren Anwendung verwertbare Ergebnisse entstanden sind. Andere Theorien wie die von der flachen Erde haben für manche eine gewisse Plausibilität, aber sie haben nichts zur Entwicklung eines einzigen technischen Gerätes oder eines wirksamen Medikamentes beigetragen. Sie sind im besten Fall folgenlose Spielereien des menschlichen Verstandes mit einem gewissen Unterhaltungswert.
Es
gibt wichtige qualitative Unterschiede in der Realitätsnähe einer Theorie: Je
näher sie zur Wirklichkeit steht, desto höher ist die Praxistauglichkeit und
desto fortschrittsdienlicher ist sie. Diese Gleichung betrifft nicht nur
physikalische Hypothesen, sondern auch solche aus der Ökonomie, Psychologie
oder Soziologie. Zum Beispiel haben Studien über das Leiden von Personen mit
einer vom binären Schema abweichenden Geschlechtsidentität zu mehr Toleranz
geführt (solche Studien dürfen übrigens laut der neuen US-Regierung nicht mehr
vom Staat gefördert werden). Studien über die Zunahme der Konzentration des
Reichtums in einer immer dünner werdenden Oberschicht haben in manchen Ländern
zu einer Umverteilung von oben nach unten geführt (die gegenwärtige
US-Administration nutzt sie allerdings für eine Umverteilung von unten nach
oben). Studien zum Ozonloch haben in den 1980er Jahren ein weltweites Verbot
von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen bewirkt (damals ohne jegliche Einmischung
von Verschwörungstheorien wie es leider beim Thema Klimawandel der Fall ist).
Realitätsuntaugliche Verschwörungstheorien
Auch wenn der Verschwörungsglaube keinen Wahn darstellt,
obwohl er wahnhafte Elemente beinhaltet, ist er dennoch nicht
realitätstauglich. Denn er gewinnt seine
Anziehungskraft aus Fantasien und nicht aus einer Wirklichkeitsprüfung. Diese Fantasien
werden von Ängsten erzeugt und versprechen einen Ausweg aus der Not, indem die
Verursacher des Bösen namhaft gemacht werden. Wenn es gelingt, mit einer
Verschwörungserzählung kollektive Angstquellen anzusprechen, werden leicht
Anhänger gefunden. Die Gruppe der Verschwörungsgläubigen erfährt eine
subjektive Angsterleichterung, weil sie mit dem Erkennen der scheinbaren
Angstverursachung ein Stück Kontrolle über die Bedrohung erlangt hat. Im
sozialen Umfeld werden allerdings mit der neuen Theorie neue Ängste entfacht.
Wer wäre z.B. schon auf die Idee gekommen, dass über Impfungen Elektroden in
den Körper geschleust würden? In solchen Fantasiegebilden liegt die
sozialschädliche Macht dieser Glaubensformen, die in vielen Fällen von den
Anstiftern bewusst in Kauf genommen wird.
Verschwörungstheorien sind deshalb nicht nur realitätsfern,
sie haben zusätzlich noch destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaft
bis hin zu katastrophalen Unmenschlichkeiten. Die historisch folgenreichste
dieser Theorien ist wohl die von der jüdischen Weltverschwörung. Sie fand durch
die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Antisemiten verfassten „Protokolle der Weisen
von Zion“ weite Verbreitung. Dieser fiktive Text hat viele rechtsextreme
Personen und Gruppierungen in ihren Judenhass angestachelt und damit das Feld
für die Massenvernichtung der Juden unter den Nationalsozialisten bereitet.
Viele der Verschwörungstheorien sehen nach dem Modell dieser
„Protokolle“ die „eigentliche“ Weltherrschaft in den Händen von wenigen
Verschwörern (Illuminaten, Bilderberger, Jesuiten, Deep State, Finanzoligarchie,
WHO etc.) oder in Einzelpersonen (George Soros, Bill Gates etc.). Statt sich in
der Politik für Änderungen einzusetzen, werden die Ursachen für
gesellschaftliche Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten dort gesucht, wo sie nicht
unschädlich gemacht werden können. Denn die Verschwörer sind mächtig und gut
versteckt, dass sie höchstens in ihren Stellvertretern bekämpft werden, aber
nie endgültig erledigt werden können. Deshalb halten sich viele
Verschwörungstheorien über lange Zeiträume – diejenige von der
Judenverschwörung geht bis aufs Mittelalter zurück. Jene Erzählungen, die sich um
die Corona-Pandemie rankten, sind noch immer aktiv oder leben immer wieder neu
auf.
Je
realitätsferner eine Verschwörungstheorie ist, desto größer ist der Begründungs-
und Rechtfertigungsaufwand und damit auch eigene Anhänglichkeit an die Theorie.
Mit der Wirklichkeits- und Faktenferne steigt auch der Aufwand an Aggressivität,
die notwendig wird, um die eigene Position gegen Anfechtungen durchzusetzen und
abzusichern. Es wird dabei auch die Wut und der Hass entschuldigt, die ja
notwendig sind, weil die Gefahr so groß wäre, und weil in der Gefahr so viel
Zerstörerisches stecke, dass ihr nur durch Gegengewalt Paroli geboten werden
kann. Verschwörungstheorien sind also immer aggressiv geladen. Deshalb verbinden
sie nicht, sondern sie spalten. Denn sie lassen nur eine paranoide Reaktion zu:
Dafür oder dagegen zu sein. Und wer dagegen ist, steckt automatisch mit
den Verschwörern unter einer Decke und muss auch bekämpft werden.
Realitätsnahe und realitätsferne Theorien
Theorien
hingegen, die aus der Realitätsnähe gewonnen werden, zeichnen sich durch ihre Praxistauglichkeit
aus. Im technischen Bereich entstehen funktionierende Geräte und Maschinen, im
sozialen Bereich werden die gesellschaftlichen Bindungen gestärkt, es wird Inklusion
statt Exklusion gefördert. Dadurch entsteht mehr Sicherheit für mehr Menschen, die
individuellen und kollektiven Ängste werden weniger und positive
Zukunftsaussichten entstehen.
Theorien,
die aus ihrer Realitätsferne leben, also einen hohen Anteil an Fantasien
enthalten, haben die gegenteilige Wirkung. Sie fördern den Rückschritt, die
gesellschaftliche Spaltung sowie Aggression und Gewalt.
Zum Weiterlesen:
Verschwörungstheorien zwischen Wahn und Normalität
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