Dienstag, 11. Februar 2025

Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit

Im Bereich der relativen Wahrheiten gibt es kein eindeutiges und absolut gültiges Richtig oder Falsch. Vielmehr geht es darum, zu überprüfen, ob eine bestimmte Theorie nahe an die Wirklichkeit herankommt, sodass ihre Anwendung in der Praxis erfolgreich ist oder nicht. Hier hat sich die Vorgehensweise der Wissenschaften ausgezeichnet, weil sie durch die beständige Weiterentwicklung und Verfeinerung der Methoden der Wahrheitsprüfung viele Theorien hervorgebracht hat, die dann anwendbar und umsetzbar waren. Wir können uns jedes moderne technische Gerät, auch jenes, auf dem dieser Text geschrieben wird, als Ergebnis von Tausenden von praxistauglichen Theorien vorstellen, bei deren Anwendung verwertbare Ergebnisse entstanden sind. Andere Theorien wie die von der flachen Erde haben für manche eine gewisse Plausibilität, aber sie haben nichts zur Entwicklung eines einzigen technischen Gerätes oder eines wirksamen Medikamentes beigetragen. Sie sind im besten Fall folgenlose Spielereien des menschlichen Verstandes mit einem gewissen Unterhaltungswert.

Es gibt wichtige qualitative Unterschiede in der Realitätsnähe einer Theorie: Je näher sie zur Wirklichkeit steht, desto höher ist die Praxistauglichkeit und desto fortschrittsdienlicher ist sie. Diese Gleichung betrifft nicht nur physikalische Hypothesen, sondern auch solche aus der Ökonomie, Psychologie oder Soziologie. Zum Beispiel haben Studien über das Leiden von Personen mit einer vom binären Schema abweichenden Geschlechtsidentität zu mehr Toleranz geführt (solche Studien dürfen übrigens laut der neuen US-Regierung nicht mehr vom Staat gefördert werden). Studien über die Zunahme der Konzentration des Reichtums in einer immer dünner werdenden Oberschicht haben in manchen Ländern zu einer Umverteilung von oben nach unten geführt (die gegenwärtige US-Administration nutzt sie allerdings für eine Umverteilung von unten nach oben). Studien zum Ozonloch haben in den 1980er Jahren ein weltweites Verbot von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen bewirkt (damals ohne jegliche Einmischung von Verschwörungstheorien wie es leider beim Thema Klimawandel der Fall ist).

Realitätsuntaugliche Verschwörungstheorien

Auch wenn der Verschwörungsglaube keinen Wahn darstellt, obwohl er wahnhafte Elemente beinhaltet, ist er dennoch nicht realitätstauglich.  Denn er gewinnt seine Anziehungskraft aus Fantasien und nicht aus einer Wirklichkeitsprüfung. Diese Fantasien werden von Ängsten erzeugt und versprechen einen Ausweg aus der Not, indem die Verursacher des Bösen namhaft gemacht werden. Wenn es gelingt, mit einer Verschwörungserzählung kollektive Angstquellen anzusprechen, werden leicht Anhänger gefunden. Die Gruppe der Verschwörungsgläubigen erfährt eine subjektive Angsterleichterung, weil sie mit dem Erkennen der scheinbaren Angstverursachung ein Stück Kontrolle über die Bedrohung erlangt hat. Im sozialen Umfeld werden allerdings mit der neuen Theorie neue Ängste entfacht. Wer wäre z.B. schon auf die Idee gekommen, dass über Impfungen Elektroden in den Körper geschleust würden? In solchen Fantasiegebilden liegt die sozialschädliche Macht dieser Glaubensformen, die in vielen Fällen von den Anstiftern bewusst in Kauf genommen wird.

Verschwörungstheorien sind deshalb nicht nur realitätsfern, sie haben zusätzlich noch destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaft bis hin zu katastrophalen Unmenschlichkeiten. Die historisch folgenreichste dieser Theorien ist wohl die von der jüdischen Weltverschwörung. Sie fand durch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Antisemiten verfassten „Protokolle der Weisen von Zion“ weite Verbreitung. Dieser fiktive Text hat viele rechtsextreme Personen und Gruppierungen in ihren Judenhass angestachelt und damit das Feld für die Massenvernichtung der Juden unter den Nationalsozialisten bereitet.

Viele der Verschwörungstheorien sehen nach dem Modell dieser „Protokolle“ die „eigentliche“ Weltherrschaft in den Händen von wenigen Verschwörern (Illuminaten, Bilderberger, Jesuiten, Deep State, Finanzoligarchie, WHO etc.) oder in Einzelpersonen (George Soros, Bill Gates etc.). Statt sich in der Politik für Änderungen einzusetzen, werden die Ursachen für gesellschaftliche Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten dort gesucht, wo sie nicht unschädlich gemacht werden können. Denn die Verschwörer sind mächtig und gut versteckt, dass sie höchstens in ihren Stellvertretern bekämpft werden, aber nie endgültig erledigt werden können. Deshalb halten sich viele Verschwörungstheorien über lange Zeiträume – diejenige von der Judenverschwörung geht bis aufs Mittelalter zurück. Jene Erzählungen, die sich um die Corona-Pandemie rankten, sind noch immer aktiv oder leben immer wieder neu auf.

Je realitätsferner eine Verschwörungstheorie ist, desto größer ist der Begründungs- und Rechtfertigungsaufwand und damit auch eigene Anhänglichkeit an die Theorie. Mit der Wirklichkeits- und Faktenferne steigt auch der Aufwand an Aggressivität, die notwendig wird, um die eigene Position gegen Anfechtungen durchzusetzen und abzusichern. Es wird dabei auch die Wut und der Hass entschuldigt, die ja notwendig sind, weil die Gefahr so groß wäre, und weil in der Gefahr so viel Zerstörerisches stecke, dass ihr nur durch Gegengewalt Paroli geboten werden kann. Verschwörungstheorien sind also immer aggressiv geladen. Deshalb verbinden sie nicht, sondern sie spalten. Denn sie lassen nur eine paranoide Reaktion zu: Dafür oder dagegen zu sein. Und wer dagegen ist, steckt automatisch mit den Verschwörern unter einer Decke und muss auch bekämpft werden.

Realitätsnahe und realitätsferne Theorien

Theorien hingegen, die aus der Realitätsnähe gewonnen werden, zeichnen sich durch ihre Praxistauglichkeit aus. Im technischen Bereich entstehen funktionierende Geräte und Maschinen, im sozialen Bereich werden die gesellschaftlichen Bindungen gestärkt, es wird Inklusion statt Exklusion gefördert. Dadurch entsteht mehr Sicherheit für mehr Menschen, die individuellen und kollektiven Ängste werden weniger und positive Zukunftsaussichten entstehen.

Theorien, die aus ihrer Realitätsferne leben, also einen hohen Anteil an Fantasien enthalten, haben die gegenteilige Wirkung. Sie fördern den Rückschritt, die gesellschaftliche Spaltung sowie Aggression und Gewalt.

Hier zur Videofassung

Zum Weiterlesen:
Verschwörungstheorien zwischen Wahn und Normalität

 

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