Der Schriftsteller Franzobel hat den Ausdruck „homo corruptus“ in einem lesenswerten aktuellen Feuilleton in der Neuen Züricher Zeitung auf den „gelernten Österreicher“ angewendet und damit eine Spezies Mensch gemeint, die nonchalant öffentliche Gelder in die eigene Tasche (oder in die der eigenen Partei) abzweigen, mit einem Selbstverständnis, als würde das jeder so machen und als wäre deshalb nichts daran auszusetzen – solange es im Geheimen bleibt. Im aktuellen Fall zeigt sich eine besonders perfide Variante, als die mutmaßlichen Betrüger noch dazu die Chuzpe aufbrachten, den Betrug am Steuerzahler als Betrugsbekämpfung zu kaschieren, so als würde ein Bankräuber sein Verbrecher als Initiative zu Verbesserungen der Sicherheit der beraubten Bank und ihrer Sparer rechtfertigen.
Sobald das korrupte Treiben offenbar wird, meldet sich die Empörung bei den mutmaßlichen Tätern: Wie konnten diese bösartigen und hinterlistigen Behörden ihre auf nichts gegründeten Erhebungen bloß auf eine solche äußerst unfaire Art durchführen, nämlich indem sie private Konversationen ausheben und dokumentieren? Was für ein unverschämter Eingriff in die eigene Privatsphäre, hallt es durchs Land. Müssen wir jetzt bei jeder Mauschelei fürchten, vor den Kadi und an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden? Wo kommen wir da hin? Wir verlieren unsere gewohnte Unbefangenheit in den Grauzonen zwischen dem Legalen und dem gerade nicht mehr Legalen, in denen wir uns so wohl fühlen und so viele Dinge in unserem Sinn richten können.
Der Zorn der Verbrecher über die Aufdecker
Natürlich ärgert sich der Verbrecher, der sein Verbrechen sorgfältig plant, sodass es geheim bleibt und nie entdeckt werden kann, wenn er auffliegt. Er findet es gemein, dass die Polizei Methoden der Ausforschung benutzt, an die er nicht gedacht hat. Das ist eine Kränkung des verbrecherischen Narzissmus, der nach dem perfekten, sprich nie ausgeforschten Verbrechen strebt, damit der persönliche Vorteil ungestört lukriert werden kann.
Wenn nun Politiker diesen Ärger in propagandistischer Absicht an die Öffentlichkeit bringen, ist das erstaunlich, weil die Selbstoffenbarung so offensichtlich ist: Schamvoll einbekennen zu müssen, dass man selbst als der Dümmere aussteigt. Da wirkt der plumpe Versuch, die, die einem diese Scham bereiten, weil sie die Unrechtmäßigkeit des Tuns aufzeigen, ihrerseits aggressiv zu beschämen, nur mehr wie ein tieferes Eingeständnis der eigenen Schuld.
Die Unschuld und ihre Vermutung
Dass bei solchen Wortmeldungen nicht alle gleich lauthals auflachen, in Fremdscham verfallen oder entsetzt den Kopf schütteln, ist nur verständlich, wenn wir bedenken, dass das Pendant zum homo corruptus im homo innocens (wörtlich: Der, der keinen Schaden anrichtet, also unschuldig ist) gefunden werden kann. Diese Spielart des Menschlichen, die ich hier einführe, pflegt den naiven Glauben an die Personen, die sie idealisiert und in einen Bereich jenseits von Gut und Böse ansiedelt. Dazu setzt sie ihren Verstand, ihre Vernunft und ihre Ethik aus und schaltet nur auf der Gefühlsebene auf Empfang.
Wir alle haben gierige und rücksichtslose emotionale Anteile in uns, in vielen Aspekten vergraben im Unbewussten, und das macht uns verführbar für die Dynamik, die in der Öffentlichkeit aufgeführt wird. Wir alle sind korrumpierbar und hätten nichts dagegen, auf Kosten des Staates reicher zu werden, nur scheuen die meisten das Risiko aufzufliegen und meiden deshalb die entsprechenden Grauzonen.
Wir alle lieben es, unschuldig zu erscheinen und nichts mit dem Bösen zu tun zu haben, das vor unseren Augen ausgeübt wird, solange das eigene Böse ausgeblendet bleibt. Das Böse ist irgendwo außen, innen ist alles gut. Der Politiker, der sich angesichts massiver Beschuldigungen als homo innocens präsentiert, zieht alle an, die die Leichen in ihren dunklen Kellern ebenso erfolgreich verdrängen wollen. Insgeheim ahnen sie, worum es bei dem ganzen Spiel in Wirklichkeit geht – ein vages Unbehagen, das von der Scham erzeugt wird, erinnert sie daran –, sie glauben aber auch, dass es schlimmer ist, sich der Wahrheit zu stellen als nach außen den unschuldigen Schein zu wahren.
Hinter der Rhetorik der versteckten Korruption
Ein homo corruptus muss sich darauf verstehen, von seinen Anhängern als lupenreiner Gutmensch gesehen zu werden, also als homo innocens mit versteckter Überheblichkeit und arrogantem Verächtlichmachen der Gegner. Er vermittelt effektiv eine augenzwinkernde Doppelbotschaft: Ich bin das herausragende Beispiel von moralischer Reinheit, weil ich meine Untaten so gut kaschieren kann. Seht meine Unschuld, die meiner Korruptheit übergestülpt ist. So smart wie ich bin, wird niemand an meiner Patina kratzen können. Alle, die ihr diese Doppelrolle kennt und schätzt, versammelt euch hinter mir.
Dazu braucht er die Meisterschaft in der unterschwelligen Kommunikation, also im Öffnen der unbewussten Gefühlskanäle seiner Anhänger. Dorthin kann er seine Botschaften einfüttern und sie auf diese Weise an sich binden. Die Unschuld liegt im treuherzigen Blick, der im Bauchhirn der Anhänger ankommt, um dort ein wohlig warmes Gefühl zu erzeugen: “So ein netter und freundlicher Mensch, wie arm, wenn ihm, dem Unschuldigen, soviel Ungerechtigkeit und Leid zugefügt wird.” Mit geschliffener Rede lullt er das Denken der Anbeter ein, auch und besonders indem er nur Phrasen verwendet. Die lässige Gestik vermittelt die Überlegenheit über alle Widrigkeiten und infamen Beschuldigungen.
Das Idol und die Anhänger
In der Rechtschaffenheit und Anständigkeit, die ihm vom Idol präsentiert wird, fühlt sich der angesprochene homo innocens unter Seinesgleichen. Er verehrt die glattpolierte Fassade seines Idols und nimmt ihn zum Vorbild, hinter seiner eigenen Kulisse die dunklen Geheimnisse gut zu verstecken, um sich selber damit in Sicherheit wiegen zu können. Er kämpft für die Unversehrtheit des Vorbilds, der eben kein homo corruptus sein darf, weil man selber keiner sein will, obwohl und gerade weil man einer ist.
Die Unversehrtheit des Vorbilds stärkt den Glauben an die eigene moralische Integrität und muss deshalb um jeden Preis intakt bleiben. Das Vorbild wird gegen alle Angriffe verteidigt, um nicht nur das Idol, sondern auch sich selber und die eigene angemaßte Unschuld zu schützen. Was es zu schützen gilt, ist die Fassade, hinter der gar nicht so unschuldige innere Antriebe lauern wie z.B. die Gier oder der Hass – Gefühle, die nicht da sein sollten, weil sie nicht zum Selbstverständnis eines homo innocens passen. Die Fassade steht also im Dienst der Abwehr gegen die dunklen Seelenteile und Impulse, die im frisierten Selbstbild des Unschuldigen keinen Platz haben.
Der homo corruptus und die Justiz
Der homo corruptus fühlt sich nicht nur von der Justiz gemein und schlecht behandelt, sondern muss dazu noch seine politische Macht einsetzen, um diesem Treiben ein Ende zu setzen, sodass das eigene sinistere Treiben ungestört weitergehen kann. Also werden die Behörden angegriffen und als die eigentlichen Täter hingestellt. Böse ist, wer die fleißige fabrizierte Fassade nicht glaubt und nach dem Bösen dahinter sucht, das es nicht geben darf.
Hier handelt es sich um eine wirklich bemerkenswerte und bedenkliche Variante im Spiel der Opfer-Täter-Umkehr: Die mögliche Täterschaft wird damit verschleiert, dass die Aufdecker als Täter hingestellt werden. Wir können von Glück reden, dass wir in Österreich noch Behörden haben, die vor der Rache der Aufgedeckten von der Verfassung geschützt werden. Weltweit gibt es das Phänomen der von den eigentlichen Tätern verfolgten Aufdecker der Taten, mit Julian Assange als vielleicht prominentestem Beispiel. Diktatoren nutzen ihre unbegrenzte Macht regelmäßig für diese Zwecke, während sie in Demokratien wie z.B. den USA geheim im verdeckten Hintergrund ablaufen. In anderen Demokratien wie der unseren werden stattdessen die Heroenbilder des homo innocens, hinter denen sich der homo corruptus verbirgt, gepflegt und von einer breiten Schar von blinden Anhängern, bis hin zum neuen österreichischen Bundeskanzler, verehrt.
Es ist menschlich verständlich, sich gegen Vorwürfe zu wehren, indem man diejenigen persönlich angreift, die einem bestimmte Taten vorwerfen, und ihnen schlechte Absichten unterstellt. Es ist verständlich, aber unreif, weil die eigene Verantwortung abgeleugnet wird. Und es ist besonders peinlich, wenn das in der Öffentlichkeit geschieht; erkennbar ist die Peinlichkeit und Unreife aber nur für jene, die sich nicht unter die homines innocentes einreihen. Aus Wahlergebnissen und Umfragedaten kann man ablesen, dass immerhin zwischen 20 und 25 Prozent unserer Bevölkerung in diese Kategorie fallen.
Die Dynamik der Scham
Die innere Dynamik zwischen den beiden oben skizzierten Typen enthält viele Anteile der Scham und führt unweigerlich zu einer inneren Spaltung, solange sie nicht im Bewusstsein wahrgenommen wird. Der Persönlichkeitsanteil des homo innocens übernimmt den verschämten Teil, der sich als Opfer fühlt. Der Aspekt des homo corruptus ist der unverschämte Täter, der sich gleichwohl seinerseits verschämt, aber auch verschmitzt hinter dem homo innocens verbirgt und auf diese Weise seine Schäfchen ins Trockene bringt. Der eine ist stolz auf seine Tat, weil sie ihm zum Vorteil gereicht und er dadurch seinen Narzissmus stärkt. Er delegiert die Scham an den anderen Teil, der ja einsieht, dass man ein guter Mensch sein soll und der sich auch als solchen sieht, weil das Böse ja im anderen Teil lokalisiert ist. Es braucht also eine klare und verlässliche Abspaltung, damit die Dynamik innerpersönlich reibungslos ablaufen kann.
Diese Spaltung zeigt sich im Äußeren zwischen den korrupten Politikern und ihren naiven Anhängern. Die Anhänger verkörpern in ihrem Glauben an das Vorbild die Reinheit und moralische Integrität, die sich nicht zu schämen braucht. Sie wird als „Unschuldsvermutung“ immer wieder öffentlich eingemahnt, gemeint ist eigentlich ein Unschuldsglaube oder ein Unschuldsdogma, notwendig für die Aufrechterhaltung der eigenen Integrität.
Es ist also nur eine behauptete Schamfreiheit, die vom Vorbild und seiner Präsentation als unschuldiges Opfer übernommen wird. Denn die Scham befeuert im Hintergrund das ganze Spiel, indem sie beharrlich und unerbittlich jede Abweichung vom Weg der Achtung der Menschenwürde und der sozialen Ausgewogenheit und Gerechtigkeit aufzeigt. Das ist für die Betroffenen nie angenehm, und deshalb muss die Scham verdrängt und abgewehrt werden.
Erst wenn die Scham als Motor dieser Dynamik erkannt wird, wird deutlich, dass über sie der einzige Ausweg aus der Spaltung zwischen Korruption und Unschuld gefunden werden kann, im Inneren und in der Gesellschaft. Das Anerkennen der eigenen Schamanteile führt zur Bewusstheit über die vielfältigen Formen der Schamverdrängung und ihrer destruktiven Folgen.
Das ist aber für viele Menschen und für viele Kollektive ein langer und mühsamer Weg, weil die Scham ein geheimnisvolles Geflecht entfaltet hat, das nur mit viel Bewusstheit und Bereitschaft für das Konfrontieren der eigenen inneren Abgründe und der gesellschaftlichen Verwerfungen entwirrt werden kann. Die Anstrengungen lohnen sich aber allemal, weil durch sie das individuelle Leben befreit und die Gesellschaft menschlicher gestaltet wird – all das, was sich die narzisstischen Idole auf ihre Fahnen heften.
Zum Weiterlesen:
Machtmissbrauch und Scham
Der Stolz der Opfer
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