Macht ist ein Begriff, dem wir eher mit Widerwillen und Misstrauen begegnen. In wikipedia z.B. wird der Begriff folgendermaßen beschrieben: „Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.“ Macht besteht also darin, Herrschaft über andere auszuüben, nämlich über jene, die über weniger Macht verfügen. Damit ist klar, dass die Macht nur angenehm für jene ist, die sie haben, und unangenehm für jene, die sich ihr fügen müssen.
Das Ausüben von Macht geschieht notgedrungen in jeder Form menschlichen Zusammenlebens. Macht ist ein „Lebensmittel“ von sozialen Systemen, ein wichtiges und unverzichtbares Ingredienz von sozialer Dynamik. Menschen üben aufeinander Einflüsse aus, die vom Eigenwillen gesteuert sind. Ich will, dass du heute Abend mit mir ins Kino gehst. Weil es mir ein wichtiges Anliegen ist, setze ich meine Macht ein, um mein Ziel zu verwirklichen. Es kann sein, dass ich auf eine Gegenmacht stoße, indem die angesprochene Person sagt, dass sie lieber zuhause bleiben möchte. Macht stößt auf Macht, und es wird sich weisen, ob sich eine Seite durchsetzt, ob es einen Kompromiss gibt oder eine andere Form des Ausgleichs.
Das Machtthema ist immer präsent, wenn Menschen mit unterschiedlichen Intentionen etwas Gemeinsames erschaffen wollen. Im günstigen Fall sind beide Seiten einer Meinung, und die Machtfrage ist erledigt. In anderen Fällen, wenn sich eine Seite unterlegen fühlt, während die andere dominiert, ist damit zu rechnen, dass es zu Racheaktionen kommt. Der Machtausgleich wird dann auf indirekte, versteckte oder unbewusste Weise gesucht. Z.B. geht jemand mit ins Kino, obwohl er eigentlich nicht will und äußert sich im Lauf des Films unmutig und kritisch über die Handlung oder die Schauspieler oder die Musik, und die andere Person fühlt sich um das Vergnügen des Kinobesuchs gebracht.
Die Frage der Machtverteilung und Machtflexibilität
Probleme mit der Macht ergeben sich nicht dort, wo Machtansprüche erhoben werden, sondern dort, wo die Verfügung über die Macht ungleich verteilt ist, diese Verteilung keine nachvollziehbare Grundlage hat und nicht geändert werden kann. Der Machtmissbrauch beginnt an dem Punkt, an welchem dem oder den Adressaten des Machtanspruchs keine oder nur untergeordnete Möglichkeiten zur Behauptung der Eigenmacht zugestanden werden. In diesen Fällen ist die Machtbeziehung unsymmetrisch, eine Seite hat mehr davon als die andere. Für solche Fälle bräuchte es eine Begründung und eine zeitliche Begrenzung, damit eine stabile Ordnung erhalten bleiben kann. Z.B. haben Eltern mehr Macht über die Gestaltung der Lebensumstände als die Kinder. Die Begründung ist, dass die Kinder noch nicht über genug Erfahrung, Wissen und Einsicht verfügen, um die Wahl des Wohnortes zu bestimmen. Diese Macht der Eltern endet mit dem Erwachsenwerden der Kinder, die dann selbst über ihren Wohnort bestimmen. Oder eine Regierung beschließt freiheitseinschränkende Maßnahmen, um einer Epidemie Herr zu werden; sobald die Krankheit eingedämmt ist, müssen die Freiheiten wiederhergestellt werden.
Ein höheres Maß an Macht ist ein von der Gemeinschaft geborgtes Gut. Es wird Personen im besonderen Maß zugebilligt, die mehr Verantwortung für die Gemeinschaft tragen, z.B. dem Anführer eines Stammes, dem Klassensprecher in der Schule oder dem Chef eines Unternehmens. Es kann prinzipiell immer entzogen werden, sobald der Träger der Macht die Verantwortung schuldig bleibt. Der Anführer, der sich nicht bewährt, wird durch jemand anderen ersetzt; die Klassensprecherin, die sich zu wenig für die Klasse einsetzt, wird abgewählt. In der Wirtschaft ist es der Gedeih oder Verderb des Unternehmens. Über die Beobachtung, wie die mit der Macht verknüpfte Verantwortung ausgeübt wird, kontrolliert die Allgemeinheit die Machtträger.
In Demokratien gilt der Grundsatz, dass jedem Akt der Machtausübung eine Kontrolle übergeordnet ist, die ihren Missbrauch verhindern soll. Gesetze, die von der Mehrheit in der Volksvertretung beschlossen wurden und für alle gelten, können durch den Verfassungsgerichtshof außer Kraft gesetzt werden. Regierungen, die Maßnahmen durchsetzen, können von der Volksvertretung abgesetzt werden. Usw.
Wo es allerdings den Machtträgern gelingt, die Macht bei sich festzuschreiben, also sich das geborgte Gut anzueignen, wird die Kontrolle ausgehebelt. Damit eröffnet sich ein Spielraum für individuelle Willkür, denn die Machtträger können selber bestimmen, inwiefern sie ihre Macht im Sinn der Gemeinschaft oder für ihre eigenen Zwecke ausüben. Die Macht wird dann missbraucht, wenn sie ohne Verantwortung für die Gemeinschaft, die die Macht verliehen hat, und stattdessen willkürlich praktiziert wird.
Die Scham als Machtregulatorin
Machtmissbrauch ist mit Scham verbunden. Immer dort, wo ein soziales Gefälle offenbar wird, das durch individuelle oder kollektive Willkür entstanden ist, meldet sich die Scham bei denen, die dafür verantwortlich zeichnen. Wir wollen miteinander gleichrangig sein und uns auf Augenhöhe begegnen. Wenn wir andere durch das Behaupten der eigenen Macht herabstufen und zurücksetzen, macht uns die Scham auf die soziale Grundausrichtung aufmerksam: Die wechselseitige Achtung in der Gleichrangigkeit. Ungerecht ausgeübte Macht erzeugt Schuld- und Schamgefühle.
Warum gibt es dann überhaupt solche Phänomene? Müsste nicht die Scham dafür sorgen, dass sich Machtgefälle ausgleichen? Die Menschen haben wirksame Gegenmittel gegen das lästige Schamgefühl ersonnen oder erspürt. Um es nicht wahrnehmen zu müssen, stehen verschiedene Formen der Schamvermeidung und Schamabwehr zur Verfügung. Machtmenschen, also solche, die gerne die Macht an sich ziehen und zu Machtmissbrauch neigen, müssen gut in diesen Formen bewandert sein. Denn sonst würde sie die Scham zurückpfeifen, sobald sie die Grenzen zum Machtmissbrauch überschreiten.
Solche Abwehrformen der Scham sind z.B. die Arroganz, mit deren Hilfe man sich einreden kann, etwas Besseres zu sein und deshalb auch besser zu wissen, was für andere gut ist, oder die Gier, die einen Überlebensimperativ über die Moral stellt und die Macht zur Erreichung der eigenen Ziele in Dienst nimmt, oder die Angst, dass ohne die eigene Machtausübung alles schlechter wird.
Schamverlust und Machtmissbrauch
Es ist also der Verlust der Schamsensibilität, der den Machtallüren Tür und Tor öffnet. Ohne Schamkultur gibt es keine Bändigung von überschießenden und respektlosen Machtansprüchen. Ohne Scham gibt es keinen Rechtfertigungsdruck auf die Machtmenschen. Sie könnten tun und lassen, was sie wollen, wenn sie einmal die Macht an sich gerissen haben, wofür es ja jede Menge an Beispielen aus Geschichte und Gegenwart gibt.
Schamsensibilität kann auch als soziales Gewissen bezeichnet werden: Ein Gespür dafür, wie das soziale Gebilde in Hinblick auf die Machtausübung beschaffen sein muss, um allen ihren Mitgliedern Sicherheit und Akzeptanz zu geben, im speziellen, welche Begrenzungen die Macht braucht und wie sie durchsetzbar sind. Dort, wo Macht zur Willkür wird, weil sie keiner sozialen Kontrolle unterliegt, entsteht Unsicherheit und Instabilität, die schließlich zur Desintegration des Sozialgebildes führt.
Deshalb ist die Achtsamkeit auf die eigenen inneren Schamreaktionen von grundlegender Bedeutung für eine funktionierende Gesellschaftsordnung, in ihren kleinen Formen (Beziehungen, Familien) über Organisationen, Firmen, Vereinen bis zu nationalen und übernationalen Gesellschaften. Die Scham ist eine Instanz in den Individuen, sie kann aber durch gesellschaftliche Usancen und Deformationen in den Individuen reduziert oder umgedeutet werden, z.B. über ein Bildungssystem, das soziale Ungerechtigkeiten ignoriert, bagatellisiert oder rechtfertigt, oder über Medien, in denen die Machtrepräsentanten verherrlicht werden, oder über Erziehungsvorgänge, bei denen die Kinder manipuliert oder unterdrückt werden.
Der Verlust oder die Verwirrung des inneren Spürens ist eine der Auswirkungen von Machtmissbrauch, sowohl bei den „Tätern“ als auch bei den „Opfern“. Macht wird missbraucht, um Schamgefühle abzuwehren, und dieser Missbrauch bewirkt seinerseits akute Blindheit und Taubheit gegenüber der Scham. Bei denen, die die Macht in missbräuchlicher Weise ausüben, muss die Scham stillgelegt werden, und das geschieht am besten dadurch, dass die Innenbeziehung reduziert wird, dass also das innere Spüren abgestellt wird. Bei denen, die der Macht unterworfen sind, meldet sich auch die Scham, die wegen der Ausweglosigkeit des Ausgeliefertseins entsteht und mit vielen anderen Gefühlen interagiert, wie z.B. mit der Angst vor dem/der/den Mächtigen, mit dem Schmerz über die schlimme Position und mit der Wut, die die Situation verändern möchte. Je aussichtsloser die Umstände sind, desto mehr gehen die Gefühle im Kreis und verwirren die Betroffenen.
Verwirrte lassen sich leichter regieren als die, die in ihrem Inneren spüren können, was eine gerechte und faire und was eine angemaßte und selbstbesessene Form der Machtausübung ist. In unserem Inneren wissen wir, wie und wann Macht menschengerecht ausgeübt wird und wo sie ihre Grenzen hat. Wir erkennen, wann diese Grenzen überschritten werden. In unserem Inneren finden wir die Schamgefühle, die uns helfen, diese Klarheit zu finden.
Die Eigenmacht
Wir brauchen zusätzlich noch das Gespür für unsere Eigenmacht, die aus unserer Würde stammt: Das Geburtsrecht, das wir innehaben, geachtet und respektiert zu werden, unseren Platz einzunehmen und unsere Grenzen zu wahren. Mit der Kraft, die aus der Würde erwächst, kommt der Mut, mit dem wir gegen ungerecht und willkürlich aufgezwungene Macht kämpfen und kämpfen müssen. Wo Machtallüren überhand nehmen und Machtansprüche entgleisen, braucht es mutigen Widerstand, der die Verhältnisse wieder zurecht bringt. Ausufernde Macht kann nur mit Gegenmacht eingedämmt werden. Deshalb gilt es, sich der eigenen Macht zu vergewissern, die darin besteht, die eigenen Grenzen zu sichern, die Grenzen der anderen zu respektieren und die Expansionsbestrebungen, die diese Grenzen verschieben wollen, in die Schranken zu weisen.
Auf dem Weg zur Gewaltfreiheit
Die Macht bedient sich verschiedener Mittel zur Durchsetzung, an deren Ende die Gewalt steht. Wenn wir gegen überzogene Machtansprüche unsere Gegenmacht einsetzen, sollten wir Mittel wählen, die auf der Skala zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit näher der letzteren stehen, als die Mittel, gegen die wir uns zur Wehr setzen, d.h. wir sollten gewaltfreiere Wege einschlagen als jene, gegen die wir uns einsetzen. Nur so können wir dazu beitragen, dass einerseits die Macht ihre Grenzen bekommt und andererseits daraus keine eskalierenden Machtkämpfe entstehen. Wichtig ist es also, die emotionale Ladung zu reduzieren und abzupuffern, die uns entgegengebracht wird. Auf diese Weise können wir zur Klarheit in der Grenzziehung und zur Entspannung der Konfliktsituation beitragen.
Die Reduktion von Gewalt beinhaltet auch die Aufrechterhaltung der Achtung und die Wahrung der Menschenwürde der Person oder der Personen, gegen die wir uns abgrenzen. Je näher ein Konflikt zu Gewaltmaßnahmen kommt, desto schneller gerät die Integrität der Gegner ins Abseits. Das Weiche besiegt das Harte, wie es im Taoismus heißt, allerdings nur wenn es von innerer Festigkeit und Klarheit durchdrungen ist.
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Helden ohne Mythos
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