Donnerstag, 13. Mai 2021

Autarkie und Scham

„Ich muss es alleine schaffen.“ Das ist das Credo der Autarkie. „Wenn ich es nicht alleine schaffe, bin ich nichts wert.“ Das ist der schamdurchtränkte Subtext zu dem Glaubenssatz, der die Autarkiescham begründet. 

Menschsein heißt abhängig sein. Wir entstehen in Abhängigkeitsverhältnissen und kommen aus einer Position der Hilflosigkeit und Schwäche. Ohne unsere Eltern oder andere Pflegepersonen hätten wir keinen Tag unserer frühen Kindheit überlebt. Als Babys hatten wir die Möglichkeit, unsere Bedürfnisse lauthals auszudrücken und für deren Erfüllung stille Dankbarkeit zu schenken: Ein Regelkreis von Geben und Nehmen, in dem die Fähigkeit der Kleinen von Tag zu Tag wächst, für sich selbst zu sorgen, bis die Abhängigkeit nicht mehr notwendig ist. Die erwachsene Selbständigkeit steht nun zur Verfügung, um für die Bedürfnisse der nächsten Generation zu sorgen.

Genauso hat es die Natur eingerichtet, genauso hat sich die Menschheit als Gattung seit ihren Anfängen erhalten und vermehrt. Sobald sich aber andere Motive in diese Zusammenhänge einmischen, entsteht der Nährboden für die Scham. Eltern, die aufgrund ihrer eigenen Kindheitserfahrungen die Bedürfnisse ihrer Kinder nur mangelhaft verstehen und deren Dankbarkeit nicht erkennen, neigen dazu, sich als Opfer der Ansprüche ihrer Kinder und der Pflichten der Elternschaft zu sehen. Sie leiden nicht nur unter der physischen Belastung, die das Leben mit einem Baby, das oft nicht durchschlafen kann, schwer zu beruhigen ist oder von einer Krankheit geplagt ist, mit sich bringt. Sie leiden noch mehr an dem, was sie als emotionales Ungleichgewicht erleben: Viel geben zu müssen, ohne ausreichend zurückzubekommen. Damit geben sie ihren Kindern nicht nur das, was diese zum Aufwachsen brauchen, sondern vermitteln ihnen auch das Gefühl, den Eltern etwas schuldig zu bleiben. 

Autarkie als Überlebensstrategie

Um ihren Eltern nicht zur Last zu fallen, versuchen die Kinder, so früh wie möglich ihre Selbständigkeit zu erwerben. Sie stellen ihre Bedürfnisse zurück, sobald sie merken, dass sie nur widerwillig befriedigt werden oder eine Belastung für die Eltern darstellen. Sie werden früh sauber und fügen sich klaglos in eine Kinderkrippe ein. Sie lernen, sich still zu halten und keinen Lärm zu machen. Sie stützen sich auf ihre wachsende Autarkie, aus der langsam dämmernden Erkenntnis, dass Unterstützung und Hilfe immer an Bedingungen geknüpft ist und mit Schuld abbezahlt werden muss. 

Im späteren Leben mündet diese eingeprägte Überlebensstrategie häufig in Überlastung. Denn das Grundgefühl, es alleine schaffen zu müssen, erzeugt eine innere Isolation und einen verbissenen Aktionismus nach außen. Ständig geht es darum, durch Erfolge zu beweisen, dass der Eigenwert berechtigt ist. Jeder Erfolg muss mit übermäßigem Stolz quittiert werden, denn das innere Wertgefühl ruht auf wackeligen Beinen.

Bleiben die Erfolge aus, kann es schnell zum Zusammenbruch kommen. Die Bestätigung für die eigene Werthaftigkeit bricht weg, und es bleibt ein Trümmerhaufen übrig. Die Scham meldet sich massiv und ersetzt den Stolz, der sich aus den Errungenschaften der Autarkie genährt hat.

Im Inneren tobt der quälende Kampf zwischen dem verbliebenen Stolz, der noch immer glaubt, alles alleine zu bewältigen, und der Scham, die sich aus der Erfahrung nährt, es doch nicht zu schaffen. Ein Teufelskreis entsteht, bei dem der Stolz daran erinnert, was früher alles möglich war, und der Scham, die resigniert zur Kenntnis nimmt, dass selbst kleine Schritte unendlich schwer fallen oder dass die immer wieder gefassten Vorsätze wieder und wieder im Sand verlaufen. Der Stolz hindert daran, sich Hilfe zu holen und um Unterstützung zu bitten und verstärkt damit die Scham. 

Menschen mit diesem Muster ziehen sich logischerweise zunehmend zurück und vermeiden den Kontakt mit anderen Menschen. Sie glauben, jeder sieht ihnen ihr Versagen an. Sie wollen mit niemandem mehr reden, weil sie meinen, dass sie nichts vorweisen können, was andere interessiert. Sie verschwinden allmählich in sich selbst und beginnen sich zu vernachlässigen, was wiederum die Scham anstachelt. 

Das Eingeständnis der Hilflosigkeit

Tatsächlich besteht die einzige Abhilfe darin, dass sie die Hand ausstrecken und einbekennen, es nicht mehr aus eigenen Kräften zu schaffen. Wenn sie diesen Schritt gehen, wandelt sich die Scham in Demut und der alte Stolz verabschiedet sich. Gelingt es, auf diesem Weg weitere Schritte zu gehen, wächst das Selbstbewusstsein und damit auch die schöpferische Kraft. 

In der Mitte zwischen Stolz und Scham befindet sich der Selbstwert. Schaukelt es zu heftig zwischen den beiden Polen, leidet die Mitte und wird aufgerieben. Deshalb geht bei der Rückeroberung des Selbst kein Weg daran vorbei, sowohl den Stolz als auch die Scham abzumildern. Da die beiden Pole von sozialen Gefühlen gebildet werden, ist die Mithilfe anderer wohlmeinender Menschen unerlässlich. Sie geben das Gefühl zurück, dass der innere Wert nicht vom Reüssieren auf den steilen Pisten der Leistungsgesellschaft abhängt, sondern in der Person selbst liegt, gleich, wie viel sie aktuell oder im ganzen Leben zustande bringt. 

Die tiefere Einsicht

Wer hat den Maßstab, nach dem ein individuelles Leben bemessen wird? Nicht umsonst kommt es nach den traditionellen Religionen zum Abwägen des Wertes der Menschen erst nach ihrem Tod. Vorher ist es vermessen, den einen mehr Wert zuzuerkennen als den anderen. Jedes Kriterium, das wir dafür anwenden, ist willkürlich, subjektiv und ungerecht.

Das ist die Lektion aus dem Dilemma, in das die Autarkiescham verstrickt. Wo der Aufbau eines tragfähigen Selbstgefühls und Selbstwertes in der Kindheit missglückt ist, kommt es unweigerlich zur Irrfahrt zwischen Scham und Stolz, die erst endet, wenn die tiefere Einsicht in die Unschätzbarkeit und Unauslotbarkeit des Wertes jedes einzelnen Menschen dämmert.

Die äußeren Juwelen, die wir auf der Straße des Erfolgs einsammeln, sind vergänglich und ihr Wert verblasst oft sehr schnell, während wir weiterhasten. Die inneren Juwelen sind zeitlos und immer bei uns, gleich, ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht. Oft brauchen wir aber auch bittere Lektionen im Leben, damit wir erkennen, was uns in Wirklichkeit ausmacht und wer wir in der Essenz sind.

Und wenn wir uns schon auf dieser Warte befinden, pflücken wir gleich die nächste Weisheit: Alles, was wir schaffen, ist ein Geschenk. Ein Erfolg ist zwar unsere Leistung, weil wir ihn durch unsere Anstrengung errungen haben, aber alles, was wir für diese Leistung brauchen, ist uns gegeben, durch unsere Gene, Lernvorgänge, Ausbildungen, Sozialkontakte usw. bis hin zur Luft, die wir atmen. Nichts haben wir dazu getan, dass wir ein Körper mit 50 Billionen Zellen sind, dass wir über ein unermesslich komplexes Gehirn verfügen und dass wir Menschen um uns herum haben, von denen wir permanent lernen. 

Das ist der Entspannungspunkt für das Autarkiemuster. Die Botschaft lautet: Hör auf, dich verbissen von Leistung zu Leistung zu mühen und lass stattdessen das Geschehenlassen mehr zur Geltung kommen. Dazu braucht es nur, die selbsterschaffenen Hindernisse gegen das Vertrauen auf den Fluss aus dem Weg zu räumen und zu tun, was zu tun ist. Dazwischen ist Zeit zum Entspannen, in der das schöpferische Potenzial gedeiht.

Zum Weiterlesen:
Scham und Verletzlichkeit


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