Dienstag, 22. September 2015

Großprobleme und der Drang zum Irrationalisieren

 

Wenn wir von Situationen überfordert sind, suchen wir nach Erklärungen. Solange wir keine zureichende Erklärung haben, bleiben wir angespannt. Jemand kommt nicht zu einem vereinbarten Termin – unser Kopf beginnt zu rattern: Was könnte los sein, was ist passiert, habe ich etwas falsch gemacht, hat die andere Person vergessen, ist ihr etwas zugestoßen? Usw. Wir kriegen einen Anruf, die Person entschuldigt sich und erklärt, warum es nicht möglich war zu kommen. Wir verstehen den Grund und entspannen uns. Die Erklärung gibt uns wieder Ordnung im Kopf und Ruhe im Körper.


Wenn Tausende von fremden Menschen in unser Land kommen, sei es auch nur auf der Durchreise wie die meisten, bekommen wir schnell das Gefühl der Überforderung, obwohl die ja nicht alle in unserer Wohnung übernachten wollen und obwohl die wenigsten von uns direkt betroffen sind. „Wie sollen wir das schaffen, so viele Menschen unterzubringen und zu versorgen? Das ist ja unmöglich.“

Viele Leute, mit denen man spricht, erwecken den Eindruck, als würden sie fast schon unter der Last der Erfordernisse zusammenbrechen, obwohl sie die Probleme nur aus den Medien kennen und währenddessen ihr eigenes Leben ungestört voran geht. Die Medien liefern die Ereignisse ins eigene Heim, mitten ins Wohnzimmer, und wir fühlen uns, als würden auf unserer Couch jetzt unzählige Syrer, Afghanen oder Pakistanis ihr Lager aufschlagen.

In dieser Situation der subjektiven Überforderung beginnen wir irrationale Theorien zu schmieden, die uns von dieser Last befreien sollen, die ja in den meisten Fällen nur eingebildet, also im eigenen Inneren erzeugt ist. Wir basteln uns unsere Überforderung selbst, indem wir unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten zugleich über- und unterschätzen.

„Was ist, wenn… (zehnmal so viele Flüchtlinge kommen, die meisten von ihnen Verbrecher sind, die alle über Jahre erhalten werden müssen, die den Islam verbreiten, die nicht arbeiten wollen, die schon arbeiten wollen, die viel zu viele Kinder kriegen, die erhalten werden müssen, die in die Billigjobs drängen………) Endlos können wir uns Szenarien ausdenken, diktiert von unseren Ängsten. Sicher, wenn wir Regierungsverantwortung trügen und mit Verwaltungsaufgaben betraut wären, sollten wir uns zu verschiedenen Aspekten beizeiten Konzepte vorbereiten, die auf Fakten und rationalen Extrapolationen beruhen. Sind wir das nicht, sind unsere Spekulationen auf Treibsand gebaut und dienen zu nichts anderem als zur Fütterung irrationaler Ängste.

Warum zerbrechen wir uns den Kopf über Dinge, die nicht unsere Aufgaben sind, für die wir weder über die Informationen noch die Kompetenzen verfügen? Wir flüchten uns in eine Scheinmächtigkeit: Wir sie ja die, die alles bedenken, was es an Möglichkeiten gibt, vor allem die schlimmsten. Wenn eine dieser Möglichkeiten eintritt, können wir stolz verkünden, dass wir das schon immer gewusst haben, aber dass wieder einmal niemand auf uns gehört hat. Für uns selber bleiben wir dann als die einzig Kompetenten übrig, die nur leider niemand in ihrer überragenden Intelligenz und in ihrem grandiosen Durchblick wahrnimmt.


Rettungsfantasien und Rattenfänger


Wenn wir von Situationen überfordert sind, suchen wir nach Rettern.  Wir brauchen andere Menschen, die handlungsfähig und wirkungsmächtig sind, wenn wir nicht mehr weiter wissen. In unseren Breiten richten sich diese Rettungshoffnungen auf die Politiker. Schließlich haben wir sie gewählt, damit sie die Probleme lösen, die uns zu schaffen machen. Nun zeigt sich aber, dass diese Politiker selber nicht über die Zauberstäbe und Wunderformeln verfügen, die die bösen Geister bannen. Wieder bringen sie nichts zusammen, wieder agieren sie kopflos. Die einen bauen wie wild Zäune um ihr Land herum, die anderen bringen die Armee an die Grenzen, wieder andere lassen alle durch, die ankommen, und noch andere prüfen „stichprobenartig“.  Das ist doch konzeptlos und chaotisch, nicht besser als die Krisensituation selber, also versagen diese Politiker und neue gehören her. Wer noch nicht an der Verantwortung gescheitert ist, muss an die Macht, um seine simplen Parolen in wirkungsvolle Taten umzumünzen. Der Retter muss einfach sein. Wir wollen keine komplizierten Zusammenhänge, keine komplexe Realitäten, sondern einfache handfeste Lösungen, mit markiger Stimme ausgesprochen und mit unerbittlicher Konsequenz umgesetzt.

Schon sind wir mit unseren Retterfantasien auf kryptofaschistischen Geleisen. Leider ist die Wirklichkeit nicht einfach, sondern komplex. Leider gibt es deshalb bei Großproblemen keine einfachen Lösungen. Leider kommt es in allen Teilen des Systems zu Überforderungen, deren Kompensation Zeit braucht. Leider müssen wir Geduld aufbringen und Vertrauen, dass alles letztlich doch einen verträglichen Ausgang findet.

Die Alternative wäre, einem der Rattenfänger nachzulaufen, die uns unweigerlich noch größere Probleme bescheren. Wer aus Angst und Wut handelt, nimmt Zerstörung und Gewalt in Kauf. Er steht dann vor hunderten Kilometern Stacheldrahtzaun als Lebenswerk und Vermächtnis. Rattenfänger produzieren Scherbenhäufen, und dann will es niemand gewesen sein. Laufen wir ihnen nach, fallen wir zurück auf Bewusstseinsstufen, die wir nicht nur schon längst überwunden haben, sondern die dazu noch völlig ungeeignet sind, um mit der Vielfältigkeit der Zusammenhänge und Möglichkeiten zu Recht zu kommen.

Deshalb ist die größte Vorsicht geboten, wenn wir auf die Suche nach Rettern gehen. Welche größenwahnhaften Antriebe werden da wirksam, die aus dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit stammen?  Wo stehen wir in unserem eigenen Leben an, ganz unabhängig von den Großproblemen der Gesellschaft? Was fehlt uns in unserem Inneren, dass wir nach außen ausweichen müssen und von dort die Befreiung erwarten?


Humanität und Selbstbescheidung


Das Gegenmittel gegen Größenphantasien ist nicht die Selbstabwertung – Größenwahn und Minderwertigkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Das Gegenmittel ist die Selbstbescheidung und die Nutzung der Vernunft. Selbstbescheidung heißt, das zu tun, was im eigenen Rahmen möglich ist und alles, was nicht möglich ist, anderen zu überlassen, die das besser können. Damit können wir das Gefühl der Überforderung sein lassen. Die Vernunft verhilft uns dazu, einzusehen, was in unseren Möglichkeiten liegt und wo die Grenzen sind. Sie sieht möglichst viel vom ganzen Bild, und schließt die vielen anderen Kräfte in der Gesellschaft und deren Fähigkeiten und Mittel ein.

Ein kleines Beispiel: Heute (22.09.2015) beschließt die österreichische Regierung, dem Vergleich mit der Bayrischen Landesbank wegen der HypoAlpeAdria-Pleite zustimmend, 1,23 Mrd. Euro zu überweisen. In Österreich haben heuer bis August 46 000 Personen Asyl beantragt, etwas mehr als 0,5% der Gesamtbevölkerung. Eine vierköpfige asylbewerbende Familie erhält in Österreich maximal 820,- €/Monat (ca. die Hälfte dessen, was eine vergleichbare österreichische Familie mit Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen bekommt). Mit dem Betrag, den die Regierung (sprich die Steuerzahler) jetzt nur für den Bankenausgleich locker machen muss (was ja wiederum nur ein Bruchteil [bisher: 11,4 Mrd €] dessen ist, was die ganze von korrupten Politikern und unfähigen Bankmanagern verbockte Sache insgesamt kosten wird [bisher: 11,4 Mrd €]), könnten 500 000 Asylwerber ein ganzes Jahr finanziert werden.

Wir haben alles, was wir brauchen, um unser Leben zu gestalten, in den kleineren und größeren Zusammenhängen. Wir müssen nicht alles für alle anderen besser wissen, wir müssen nicht die Lösungen für die großen Herausforderungen der Gesellschaft in der Tasche haben. Wir können für uns bestimmen, in welche Richtung wir gehen wollen und was wir bereit sind, dafür einzusetzen. Wenn wir uns für die Richtung der Humanität entscheiden, heißt das nicht, dass wir jeden Flüchtling umarmen, trösten und nähren müssen. Es heißt nicht, dass wir mehr geben müssen, als wir geben können, dass wir teilen sollen, was wir gar nicht haben. Es heißt nicht, dass wir uns überfordern müssen.

Human zu leben heißt auch, die eigenen Grenzen zu kennen und anzuerkennen, ohne sie für immer festzuschreiben. Human zu leben heißt, immer bereit zu sein, sich zu weiten in neue Möglichkeiten hinein, aus der Verbindung mit dem eigenen Inneren heraus, das uns sagt, wo und wie wir freier werden können und mit neuen Möglichkeiten spielen können.


Vgl.: Die Flüchtlinge in unseren Köpfen
Für ein Verbot der Angstmacherei


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen