Donnerstag, 8. Oktober 2020

Das duale Weltbild und seine Grenzen

Ich habe mit Carsten Rachow in den letzten Tagen einen kleinen Austausch gepflogen, im Zuge dessen das Thema der dualen Weltsicht zur Sprache gekommen ist.

Carsten Rachow schreibt dazu in einem Kommentar zum Thema Fakeisten gegen Objektivisten: „Einen besonders wichtigen Wert sehe ich in der Rolle der Fakeisten als ‚Kontrastmittel‘ – sie stärken durch ihre Fakes, durch ihre erfundene Objektivität, durch ihre Unwahrheiten, die Gegenseite ... Wie das Sinnvolle durch die Sinnlosigkeit gestützt wird, wird das Nützliche durch das Unnütze gestützt. Je lauter Fakeisten ihre abstrusen Theorien verkünden, desto besser für die Wissenschaftler – und für uns alle, denn ‚Nützlichkeit‘ ist ein wichtiges Merkmal, wenngleich nur eines unter vielen.“ 

Das sind Gedankengänge, die immer wieder auftauchen, oft im Kontext der dualen Weltsicht, in der sich die Gegensätze gegenseitig fordern, stärken und schwächen. Alles, was ist, hat sein Gegenteil, von dem es lebt, aus dem es seinen Sinn zieht und dem es Sinn gibt.

Unnützes schadet dem Nützlichen

Können wir dieses Weltmodell auf die obigen Beispiele anwenden? Es zeigen sich Schwierigkeiten: Nützliches wird durch Unnützes nicht nützlicher, vielmehr kann das Unnütze den Wert des Nützlichen mindern. Es wird immer Leute geben, die das Unnütze zu schätzen beginnen, sobald es als etwas Nützliches propagiert wird und die dann das Nützliche verachten – eine wichtige Aufgabe der Werbewirtschaft. Es braucht dann zusätzliche Anstrengungen, um das Nützliche in dem Platz, den es eigentlich schon immer hat, zu sichern und zu festigen. Die Folge ist, dass sich die Welt zunehmend mit unnützen Dingen füllt (ganz abgesehen von den vielen unnützen Gedanken, die in unsere Köpfe eingelagert werden).

Ebenso bringt uns ein Mehr an Unwahrheiten nicht weiter. Je mehr von ihnen verbreitet wird, desto mehr Unsicherheit und Skepsis gegenüber den bisherigen Sicherheiten, die in diesem Fall von den Wissenschaften aufgebaut wurden, entsteht. Durch erfundene Fakten wird jede verantwortungsvolle Form des Wissenserwerbs diskreditiert, sodass mehr und mehr Menschen nicht mehr wissen, wem sie Glauben schenken sollen.

Eine Form zu dieser Destabilisierung können wir beobachten, wenn Wissenschaftler in den Medien gegeneinander in Stellung gebracht werden und dann nach außerwissenschaftlichen Extrapolationen oder Einschätzungen befragt werden, in die dann unweigerlich subjektive Elemente einfließen. Hier scheiden sich die Geister: Die einen glauben dem, was gesagt wird, als wäre es ein Dogma, obwohl es nur eine subjektive Sicht widergibt, die anderen nehmen die subjektive Einschätzung als Beleg dafür, dass alles, was von der Wissenschaft kommt, subjektive Erfindung ist.

Regression in die Naivität

Es gibt auch manche Wissenschaftler, die mit dem Pathos der letztgültigen Welterklärung auftreten oder in fachfremden Gebieten ihre Autorität ohne ausreichende Kenntnisse ausspielen (wie z.B. ein US-Klimawandelleugner, der in den 90er Jahren einen Nobelpreis in der Informationstechnologie erhalten hat) und damit ihre Integrität als Forscher missachten. Sie tragen dazu bei, dass Faktenfragen in Glaubensfragen umfunktioniert werden. Jeder Gegenhalt gegen die Gleichsetzung von Meinung und Wahrheit wird für obsolet erklärt, und wir können uns nur mehr dafür entscheiden, dass wir den rechten Glauben haben und die anderen den Aberglauben. Wir sind in die vorwissenschaftliche naive Welt der Fantasien regrediert.

Es erfordert viel Klärungs- und Erklärungsaufwand, die Dinge, die durcheinandergebracht wurden, wieder auseinanderzulegen und Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden, ähnlich wie es mehr Arbeit erfordert, Unordnung in Ordnung zu verwandeln als umgekehrt. Ein Teller ist schnell zerschmettert, und es braucht viel Zeit, um ihn wieder zusammenzukleben. Falschmeldungen, ausgestreute Lügen, angemaßte Fachkompetenz sind ganz einfach Phänomene, die der Allgemeinheit Schaden zufügen, die es mühsamer machen und nicht erleichtern, der Wahrheit näher zu kommen. Am Land würde man sagen: „So notwendig wie ein Kropf.“

Mit den Mitteln der sozialen Medien kann heute jeder Computer- und Tastaturbesitzer, der irgendeinen Verdacht, irgendeinen Einfall, irgendeinen Zweifel hat, diesen in die weite Welt schicken mit der missionarischen Glaubensüberzeugung, eine wichtige Wahrheit zu verbreiten, und schon ist Zwietracht gesät, schon sind Ängste erzeugt, schon sind die Unsicherheiten vermehrt.

Wenn durch die Außenbedingungen Zustände von Ungewissheit entstehen, wie es jetzt der Fall ist, werden viele dazu verleitet, sich möglichst einfache Erklärungsmodelle zurechtzuzimmern oder sich anderen mit solchen Modellen anzuschließen, die Gewissheit garantieren sollen. Solche Modelle brauchen keine Basis in der Realität, weil das Vergleichen der eigenen Konstrukte mit der Wirklichkeit Arbeit und Mühe erfordern würde und weil sich gerne der Wunsch nach Einfachheit mit dem nach Bequemlichkeit paart.

Lügen haben lange Beine

Die Wahrheit wird nicht deutlicher, wenn sie durch Lügen infrage gestellt wird. Sie muss sich noch lautstärkerund umfangreicher artikulieren, und das ist im Grund ein unnützer Energieverbrauch. Das Dementi zur Falschmeldung, die vielleicht aus Unwissenheit oder aus Bosheit lanciert wurde, kommt immer zu spät. Es trägt nicht wirklich zur Stärkung der Faktizität bei, weil der Schatten von Unsicherheit bleibt – was, wenn die Falschmeldung doch richtig wäre?

Die meisten Menschen kommen erst durch Falschmeldungen auf die Idee, dass etwas falsch sein könnte, und entwickeln neue Ängste und Sorgen. Aktuelles Beispiel: Irgendjemand bringt das Gerücht auf, dass Kinder durch Maskentragen gestorben sind. Für die virale Verbreitung ist gesorgt, denn das Leben von Kindern ist uns ein wichtiges Anliegen. Die Entwarnung folgt verspätet und dringt möglicherweise nicht zu jenen durch, die sich schon in einem Staat wähnen, der das Leben von Kindern durch unsinnige Maßnahmen aufs Spiel setzt.

Durch jede Falschmeldung werden wir gezwungen, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, die uns sonst nicht beschäftigen würden. Aber wir haben dann nur die Alternative, alles zu glauben, was uns vorgesetzt wird, oder alles, was an Informationen herumschwirrt, für manipuliert zu erklären und damit völlig orientierungslos zu sein.

Die wachsende Komplexität und die innere Einfachheit

Die Welt wird von sich aus permanent komplexer; Lügengespinste, Wahrheitsverzerrungen und Falschmeldungen sind künstliche und willkürliche Beiträge, die zusätzlich den Komplexitätszuwachs steigern, ohne einen Erkenntnisgewinn zu liefern und ohne dass sie Anleitungen mitliefern, wie wir die Komplexität reduzieren könnten. Ordnungsstrukturen, Klassifikationen, Systematisierungen etc., die von den Wissenschaften erarbeitet werden, helfen uns bei der Verarbeitung von Information, helfen uns bei der inneren Komplexitätsreduktion. Ohne sie würden wir hilflos durch das Chaos einander widersprechender Informationen taumeln.

Insoferne können wir diese Ordnungsstrukturen als Unterstützung verstehen, die unser Innenleben braucht, wenn es die Erfahrung der Einfachheit des Daseins in sich kultivieren will. Denn wir brauchen diesen Gegenpol zur sich rasend entwickelnden Informationsflut, damit wir im Frieden bleiben können, wenn scheinbar das Äußere in der Unübersichtlichkeit zu zerfallen droht.

 Zum Weiterlesen:

Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Die Anhänglichkeit an die Dualität
Polaritäten - Ursprünge und Folgen

 

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