Montag, 5. Oktober 2020

Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion

In einem Kapitel des Buches „Die IBA-Botschaft“ vergleicht Carsten Rachow die Objektivisten und die Fakeisten, also jene, die Fake-News produzieren. Die Objektivisten sind jene, die möglichst objektive Fakten präsentieren wollen. Zwischen beiden Gruppen tobe ein “seltsamer Meinungskampf” bei den aktuellen Pandemiediskursen. Als Objektivisten werden die „Experten, Virologen und Epidemiologen“ identifiziert, die Fakeisten braucht man nicht extra zuordnen. Der Text läuft darauf hinaus, beiden Seiten ihre Subjektivität nachzuweisen, also die Beliebigkeit ihrer Konstruktionen. In diese fließen „eigene Ängste, Sorgen, Anpassungstendenzen und Weltbilder, aber auch persönlicher Ehrgeiz und die Beeinflussung durch andere Menschen” ein.

Wenn wir einer systemischen Sichtweise folgen, ist unbestritten, dass Wissen immer Konstruktion ist, eine bestimmte Weise, die äußere Wirklichkeit in eine innere Wirklichkeit zu übersetzen. Der maßgebliche Unterschied besteht allerdings in der Weise der Übersetzung. Wissenschaftliches Wissen beruht auf völlig anderen Übersetzungsvorgängen als willkürlich zusammengebastelte oder frei erfundene „alternative Fakten”. Denn die Wissenschaften sind selbstreflektierend und überprüfen sich dauernd selbst, mit Verfahren, die sich über Jahrhunderte ausgebildet und verfeinert haben. 

Inzwischen spielt der Begriff der Objektivität in den Wissenschaften keine Rolle mehr, weil klar ist, dass sich das Wissen ständig weiterentwickelt. Vielmehr geht es mehr um das von Karl Popper formulierte Prinzip der Falsifizierbarkeit, d.h. Theorien so zu formulieren, dass sie prinzipiell widerlegbar sind. Es gilt jeweils die beste der bestehenden Theorien, solange es keine bessere gibt. Insofern versteht sich wissenschaftliches Wissen immer als vorläufig und relativ. Es steht beständig am Prüfstand durch die Forschergemeinschaft. 

Die Fake-News-Produzenten hingegen verkaufen und propagieren ihre Ideen sofort als Wahrheit, manchmal sogar als absolute, zu der es keine Widerlegung oder Verbesserung gibt oder braucht. Sie appellieren also an die (Gut-)Gläubigkeit der Menschen und nicht an ihre Vernunft. Sie nutzen die Lüge oder kümmern sich fahrlässig nicht um eine Überprüfung, bevor sie Falschmeldungen verbreiten.

Das Unbewusste und die Wissensproduktion

Die Psychologisierung der Erkenntnistheorie („Die Wirklichkeitskonstruktion ist geleitet von Ängsten und Sorgen“) trifft sicher auf die Fakeisten zu und könnte sie interessant, falls sie ihren Fokus darauf lenken würden, wie sie zu ihrem Wissen kommen und welche Gefühle und Interessen dabei wirksam sind. Diese Reflexion widerspricht aber den eigenen Grundannahmen und Intentionen.

Die Wissenschaften hingegen verfolgen diesen Prozess schon seit ihren Anfängen und sind laufend damit beschäftigt, Wissen von subjektiven Zutaten zu reinigen, also eine Form des Wissens zu gewinnen, das von Subjekten, ihren Interessen und Vorlieben, weitestgehend unabhängig ist. Es geht darum, Forschungsergebnisse zu erreichen, bei denen jedes Subjekt potentiell zu den gleichen (oder im Fall der Geisteswissenschaften – zu vergleichbaren) Erkenntnissen gelangen kann. Insoferne rennt die psychologische Deutung, dass es in den Wissenschaften subjektive Elemente gibt, offene Türen ein.

Die Gleichstellung von Lüge und Wissen

Im Text heißt es: “Beide Seiten erzeugen, beide Seiten glauben, und beide Seiten halten sich ihre geglaubten Konstrukte vor Augen - doch weil die einen sich hinter ihrer historisch gewachsenen wissenschaftlicher Objektivität verstecken und die anderen hinter ihrer blassen Fake-Objektivität, kommen die eigentlichen Akteure nicht zum Vorschein.”

Was der Text verwischt: Die Formen der Wirklichkeitskonstruktion werden individualisiert, so, als wären alle Wissenschaftler von der gleichen Gefühlslage geprägt, wenn sie ihre Forschungen betreiben. Es geht aber nicht um zwei Individuen, die sich gegenüberstehen.  Individuen haben immer einen Schatten und ungeklärte Ecken in der Gefühlslandschaft. Vielmehr geht es um den Gegensatz zwischen der Tradition der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung mit ihrem Streben nach verbindlichem Wissen und dem subjektiven Fürwahrhalten. Die eigentliche Frontlinie verläuft  zwischen Reflexionsfähigkeit und interaktiver Theoriebildung auf der einen Seite und Reflexionsverweigerung auf der anderen Seite.

Der Gleichstellung zwischen Fakeproduzenten und Wissenschaftsproduzenten, wie sie hier vorgenommen wird, fehlt die sachliche Grundlage. Es kommt immer wieder vor, dass manche Vertreter der Wissenschaft, die in der Öffentlichkeit auftreten, dort ihre Meinung zu bestimmten Themen, z.B. aktuell zu Corona-Maßnahmen, kundtun. Das ist ihr Recht als Staatsbürger, wie für alle anderen auch. Die Meinungen, die sie in diesem Rahmen verbreiten, sind subjektiv. Sie können durch wissenschaftlich erzeugte Fakten abgestützt und belegt sein, aber sobald es um Einschätzungen von künftigen Entwicklungen oder zum Abwägen verschiedener Methoden der Krisenbekämpfung geht, wird das Terrain der Faktizität schnell verlassen. Dann handelt es um subjektive Meinungen, die mit der individuellen Gefühlslage zusammenhängen.

Faktisch kommt es immer wieder zu Streitgesprächen, in denen sich Individuen, die auf die Wissenschaft pochen und anderen, die auf esoterische oder andere undefinierte Quellen zurückgreifen, gegenüberstehen. Solche Debatten führen häufig auf keinen grünen Zweig, weil die Diskursformen nicht zusammenpassen. Der Versuch aber, die Hintergründe und Motivationslagen einzuebnen durch die Feststellung, dass die wissenschaftliche Position um nichts besser, wertvoller oder orientierungsgebender als die der Lügenpropaganda wäre, ist insofern gefährlich, weil eben die Lüge als Mittel der Wahrheitsfindung legitimiert wird. Ist es gleich-gültig, ob ein Wissen aus einem wissenschaftlichen Forschungsprozess kommt oder aus absichtlichem Lügen oder naivem Nacherzählen von Lügen, dann gerät die Gesellschaft auf eine unsichere Ebene. 

Die Psychotisierung der Gesellschaft

Psychologisch betrachtet, ist die Ununterscheidbarkeit von Lüge und Wahrheit Ursache für Psychosen, wie schon Pawlow in Tierversuchen nachweisen konnte. Wenn wir nicht mehr wissen, woran wir sind, ob das, was uns an Fakten präsentiert wird, wirklich ist oder eine Erfindung, werden wir orientierungslos und verwirrt und enden schließlich dort zu sagen, dass man doch niemandem vertrauen kann.

Und genau das ist das Ziel der Fake-Produzenten: Menschen, die nicht mehr unterscheiden können, was wirklich und was unwirklich ist, und die dann nur mehr auf Gefühlsebene Entscheidungen treffen können. Gefühle können herrlich von außen beeinflusst werden, der großflächigen Manipulation ist Tür und Tor geöffnet.

Es ist also äußerst gefährlich in Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, von einer Metaposition die Fakisten und die Wissenschaftler psychologisch auf eine gleiche Stufe zu stellen. Fake-Produzenten wollen nichts anderes als die völlige Relativierung der Wahrheitsfindung. Fantasien und Hirngespinste hätten dann den gleichen Wert wie die Relativitätstheorie oder das thermische Grundgesetz. Das geht sich zwar praktisch nicht aus, weil jedes bisschen Technik, das wir nutzen, voll von wissenschaftlicher Forschung ist, die sich als tauglich erwiesen hat, während Fakenews keinen einzigen Fernsehapparat hervorbringen können, sondern höchstens Verwirrung in den Köpfen. Aber verwirrte Menschen können an keinem sinnstiftenden gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir verwirrte Menschen und damit eine verwirrte Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn nicht, gilt es der Psychotisierung der Gesellschaft, die mit dem Produzieren und Verbreiten von Fakenews angebahnt wird, auf allen möglichen Ebenen entgegenzuwirken. 

Zusätzlich sei angemerkt: Wenn die Standards der historischen Forschung durch die Gleichstellung mit Lügenproduktionen weggeworfen werden, dann haben die Holocaustleugner genauso recht wie die Historiker, die die Fakten über die Massenvernichtungen gesammelt haben - es sind ja nur zwei Formen des „Unbewussten“, die da unterschiedlicher Meinung sind.

Demgegenüber ist festzuhalten, dass wissenschaftliches Wissen und falsche Fakten nichts gemeinsam haben und auch auf psychologischer Ebene nicht miteinander verglichen werden können. Außerdem kann es verheerende Folgen haben, wenn dieser Unterschied nicht mit aller Konsequenz aufrechterhalten wird.

Hier zum Text von Carsten Rachow

Zum Weiterlesen:

Absolute Wahrheiten existieren im Moment
Das Absolute im Beschränkten

Die Ko-Produktion der Wirklichkeit und das Absolute
Faktizität und Bullshit


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