Donnerstag, 23. Februar 2023

Rollen von Kindern narzisstischer Eltern

Wenn Kinder narzisstische Eltern oder Eltern mit narzisstischen Anteilen haben, tun sie sich schwer, ein intaktes Selbst aufzubauen. Je nach den Prägungen und Defiziten der Eltern neigen sie dazu, bestimmte Rollen einzunehmen. Solche Rollen dienen dann als unbewusste Leitlinien für das Erwachsenenleben und für die Beziehungsgestaltung. Sie prägen auch das Schamempfinden.  

Diese Rollen sind nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern können auch in Kombination oder in verschiedenen Situationen abwechselnd auftreten. So können goldene Kinder zugleich Helfer sein und einen Anteil an Gehirnwäsche mitnehmen. Schwarze Schafe sind oft auch Sündenböcke. Die Wahrheitsverkünder werden meist zu schwarzen Schafen. Bei Einzelkindern kann es sein, dass sie mehrere Rollen übernehmen müssen. 

Es ist in dem Artikel immer von den narzisstischen Eltern die Rede; oft ist es so, dass nur ein Elternteil starke narzisstische Züge ausgeprägt hat. Aber es wird immer auch einen komplementären narzisstischen Teil bei dem anderen Elternteil geben, sonst würde die Beziehung zwischen den Eltern nicht von Dauer sein. 

Im Folgenden werden einige der Rollen, die Kinder in einer Familie mit narzisstischen Eltern einnehmen, näher erläutert. Die Bezeichnungen habe ich aus dem Buch von Turid Müller übernommen: Verdeckter Narzissmus in Beziehungen. (Kailash-Verlag 2022) 

Das goldene Kind

Es wird von den Eltern idealisiert, die es unbewusst als Erweiterung ihres Selbst ansehen und es dazu nutzen, die inneren Defizite aufzufüllen. Solchen Kindern wird missbräuchlich die Erwartung in die Wiege gelegt, die Träume und Sehnsüchte der Eltern zu verwirklichen. Sie haben dann große Probleme, eigene Wünsche und Ziele zu entwickeln und umzusetzen. Alle Errungenschaften und Erfolge des Kindes vereinnahmen die Eltern für sich und erzählen dann: „Wir haben ein ausgezeichnetes Schulzeugnis bekommen!“ „Wir haben den Schönheitswettbewerb gewonnen.”   

Vergoldete Kinder brauchen andere Personen in ihrer Umgebung, um nicht selber zu Narzissten heranzuwachsen, da sie den Narzissmus ihrer Eltern widerspiegeln. Entweder schaffen sie es mit ihrer hohen Anspruchshaltung, erfolgreich zu werden und sich ein Leben voll von Statussymbolen aufzubauen, um von allen bewundert zu werden. Dabei sind Züge des grandiosen Narzissmus unvermeidlich. Oder sie geraten in die Schiene des Versagens, in die depressiv-narzisstische Variante. Sie erwarten, dass ihnen das Leben alles in den Schoß wirft, was sie sich wünschen, ohne sich anstrengen zu müssen. Geschieht das nicht, sind die äußeren Faktoren dafür verantwortlich. Es kann sein, dass sie oft bis weit ins Erwachsenenleben im Haushalt der Eltern verbleiben und an ihrer Erfolglosigkeit und Unselbständigkeit leiden, für die sie die Schuld bei anderen suchen, ohne die Bereitschaft zu entwickeln, sich mit eigener Verantwortung aus der Misere zu befreien. 

Goldene Kinder wissen nur Gutes über ihre Eltern und ihre Kindheit zu erzählen, die in ein verklärtes Licht getaucht wird. Makellos wie die Kindheit gewesen sein soll, so makellos wollen sie als Erwachsene erscheinen. 

Goldene Kinder entwickeln unbewusste Schuldgefühle gegenüber ihren Geschwistern, die benachteiligt worden sind und deshalb Eifersuchtsgefühle entwickelt haben, oder sie kompensieren das schlechte Gewissen damit, ihre Geschwister abzuwerten und zu missachten. Narzisstische Eltern haben oft die starke Neigung, Keile zwischen die Kinder zu treiben, indem die einen bevorzugt und die anderen benachteiligt werden, die einen zu Verbündeten und die anderen zu Sündenböcken oder Außenseitern erklärt werden.  

Für goldene Kinder ist es wichtig, von früh an zu lernen, die eigenen Schamgefühle zu verdrängen oder zu instrumentalisieren. An deren Stelle entstehen starke Neigungen zur Unverschämtheit und Arroganz (bei der grandiosen Variante) oder die Schamgefühle äußern sich in Anklagen gegen die Ungerechtigkeiten und im Vertiefen der Opferrolle, womit die Neigungen zu Selbstzweifeln und Selbstanklagen kaschiert werden. (bei der verdeckten Variante). 

Das gehirngewaschene Kind  

Auch das Schlimme, was ihnen widerfährt, interpretieren sie als Ausdruck elterlicher Liebe, oft initiiert von Eltern, die dem Kind suggerieren, es geschehe alles zu seinem Besten. Selbst missbrauchende Eltern werden idealisiert, es wird die gute Miene zum bösen Spiel von früh an erlernt. Oft sagen die Erwachsenen dann über ihre Kindheit: „Meine Eltern waren wunderbare Eltern, auch wenn sie nicht immer alles richtig gemacht haben. Aber sie hatten es selbst nicht leicht in ihrer Kindheit.“ 

Verdrängung ist einfacher als das Aufrechterhalten des Schmerzes, der Scham und der Sehnsucht nach der Heilung. Allerdings zehrt sie an der Substanz und verhindert den Aufbau eines stabilen Selbstwertes und einer klaren Ich-Identität. Sie verengt zusätzlich den Blick auf die Realität und führt häufig dazu, dass später Partnerschaften mit narzisstischen Menschen eingegangen werden, die die Eltern widerspiegeln.  

Die moralische Reinwaschung der Eltern dient der Unterdrückung der Schamgefühle in mehrfacher Hinsicht: Verdrängt werden muss die Scham über das eigene Schicksal sowie die Scham über die Eltern und deren Unfähigkeit zu lieben, und dazu noch die Scham, die mit jeder Form der Verletzung und des Missbrauchs verbunden ist. Gehirngewaschene Kinder bleiben oft ihr Leben lang mit der Herkunftsfamilie als Schicksalsgemeinschaft verstrickt, mit der heimlichen Hoffnung, dass sie dort endlich einmal die Harmonie schaffen können, die sie immer schon gebraucht hätten und die sie in ihrer Fantasie und ihren Träumen schon längst vorweggenommen haben. 

Im Erwachsenenleben suchen die von dieser Prägung betroffenen Menschen häufig Berufe, in denen sie wenig Verantwortung tragen müssen. Da sie in ihrer Wirklichkeitswahrnehmung verunsichert sind, ziehen sie es vor, klare Vorgaben zu bekommen, nach denen sie sich orientieren können. 

Der Sündenbock

Diese Kinder sind oft betroffen von einer Urscham. Ungewollt oder ganz früh schon abgelehnt, bleiben sie auch nach der Geburt die Projektionsfläche für alles Negative, das die Eltern belastet, und werden beschuldigt, das Unglück der Erwachsenen verursacht zu haben. Sie werden mit den Sünden der Eltern beladen, wie im alten Israel der Bock, dem die Verfehlungen der Gemeinde auf den Rücken geladen wurden und der dann in die Wüste gejagt wurde. Das Kind wird permanent mit der Scham der Eltern beladen und zieht daraus den Schluss, sich für seine Existenz zu schämen. Wenn es nicht da wäre, wäre alles besser. Diese Prägung kann später zum Suizid führen, zu suizidalen Tendenzen oder zu selbstgefährdendem Verhalten. Oft entsteht auch ein starker Impuls, der dann zum zentralen Lebensthema wird, eine Gegenleistung zu erbringen für das, was die eigene Existenz den verblendeten Eltern an Schaden und Leid verursacht hat und endlich Anerkennung zu bekommen.  

Es kann aber auch sein, dass der Sündenbock das Weite sucht und die Familie verlässt, sobald es ihm möglich ist. Denn in dem System kann er in dieser Rolle kaum überleben. Er geht dann den Weg des Rebellen, der Wege sucht, um sich in den verschiedensten Arenen des Lebens für die erlittenen Ungerechtigkeiten zu rächen. 

Das schwarze Schaf 

Es gibt in Familien immer wieder Kinder, die aus der Reihe fallen. Entweder sind sie durch eine Behinderung mit einem Makel behaftet oder sie erwerben Verhaltensauffälligkeiten oder chronische Krankheiten. Es sind Kinder, die es vermissen, um ihrer selbst geliebt zu werden und entwickeln alle möglichen Symptome, um auf diese Weise mehr Liebe zu bekommen. Zugleich leiden sie, weil alle Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften, die sie zum schwarzen Schaf machen, unweigerlich mit Scham verbunden sind. Es kommt auch vor, dass ein Kind einen Charakterzug seiner Eltern in besonderem Maß auslebt, der von ihnen verdrängt wurde, z.B. die Ängstlichkeit, die Aggressivität oder die Empfindlichkeit. Solche Eltern schämen sich dann für ihre Sprösslinge - sie projizieren also die eigene Scham auf es. Das Kind wiederum schämt sich gerade wegen dieser Eigenschaft, für die es kritisiert oder belächelt wird und die es nicht loswerden kann.  

Auch hier wirkt die Wucht einer Urscham. Außenseiter, Ablehnung, die Finger richten sich abwertend auf das Kind, das zum Sammelbecken von Projektionen wird und darunter leidet. Es entwickelt Neigungen zum Erfüllen der negativen Prophezeiungen, sodass das Unbewusste mitwirkt und Fehlleistungen oder Unfälle hervorruft, für die dann wiederum Schamgefühle entstehen. Kinder wollen auf einer Ebene immer, dass die Eltern Recht haben, auch wenn sie selber die Betroffenen sind. Sie sind von der Ausgeschlossenheitsscham betroffen und haben oft später im Leben Probleme damit, sich in eine Gemeinschaft einzufügen.  

Das Helferlein

Kinder, denen es an Liebe mangelt, die aber immer hören, wie lieb sie gehabt werden, ohne dass sie es spüren können, machen sich selbst für den Liebesmangel verantwortlich. Eine Möglichkeit, mit diesem Mangel zurechtzukommen, liegt darin, von früh an Kompetenzen zu entwickeln, mit denen sie den Eltern helfen können. Sie spüren deren Schwächen und wollen sie durch eigene Taten ausgleichen. Das kann so weit gehen, dass sie die ganze Familie managen, für die kleinen Geschwister sorgen oder die Eltern daran erinnern, wann der Müll ausgeleert oder die Stromrechnung bezahlt werden muss. Sie können aus dieser Rolle heraus in einen grandiosen Narzissmus verfallen, bis hin zur Überzeugung, die ganze Welt retten zu müssen.  

Das Helferlein will seine Daseinsberechtigung dadurch sichern, dass es sich nützlich macht und die Schwächen der Eltern ausgleicht. Da es diese Aufgabe nie zur Gänze erfüllen kann, bleibt die Scham über die eigene Unzulänglichkeit bestehen. Die Abhängigkeit von den Eltern und die Notwendigkeit, ihnen zu helfen, bleiben oft ein Leben lang bestehen. Denn die Scham treibt sie an, endlich den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Die Notlösung der Kindheit wird zur Lebenshaltung: Nur wenn man es schafft, genug für die Eltern zu tun, verdient man es geliebt zu werden.  Oft werden Berufe ergriffen, die mit dem Helfen zu tun haben, weil die Hoffnung besteht, auf diesem Weg endlich Liebe und Anerkennung zu bekommen. 

Die Wahrheitsverkünder

Sie erkennen früh, dass etwas im Familiengefüge nicht stimmt. Sie fallen durch viel Schreien im Babyalter, durch starken Trotz im Kleinkindalter und durch ausgedehnte Rückzüge in die Fantasiewelt in der späteren Kindheit auf. Je größer sie werden, desto deutlicher drücken sie ihr Unbehagen aus, stoßen aber auf die tauben Ohren oder die entrüstete Zurechtweisung der in sich befangenen Eltern. 

Folglich werden sie zu Außenseitern, fühlen sich oft einsam und ausgeschlossen, was wiederum zur Quelle für ihre Scham wird. Da sie sich in irgendeiner Weise anpassen müssen, um im Familiensystem überleben zu können, tun sie das, indem sie irgendeine Form der Verweigerung suchen: Sie reden wenig, werden mürrisch oder aufmüpfig und verhalten sich rebellisch.  

Sie haben eine hohe Sensibilität entwickelt, mit der sie über ein feines Gespür für Gefühle und Stimmungen verfügen. Damit haben sie ein Werkzeug, das ihnen überall dort hilft, wo es um Empathie geht. Es macht es ihnen allerdings auch schwierig macht, tragfähige Beziehungen einzugehen, weil sie jede Unstimmigkeit und jede emotionale Verwerfung sofort spüren und ansprechen müssen. Kleinigkeiten können dann den Anlass für tiefe Zerwürfnisse bilden. Sie haben gelernt, sich auf die eigene Intuition zu verlassen, doch ist diese gewissermaßen auf das eigene Familiensystem geeicht, in dem es zum Überleben gedient hat, und zielt häufig projektiv in die Irre, wenn es auf andere, familienfremde Personen angewendet wird. 

Die Wahrheitsverkünder widmen sich später oft engagiert der Wahrheitssuche und fühlen sich berufen, Therapeuten oder spirituelle Lehrer zu werden. 

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung


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