Der Neoliberalismus: Ein Ideologiegebäude
Die Ideologie des Neoliberalismus hat die letzten Jahrzehnte dominiert. Der Staat ist zu mächtig, wie ein Moloch beherrscht er alles und verschluckt viel zu viele Ressourcen. Er muss auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Der Einzelne ist dem Staat unterworfen, der seine Freiheiten und sein Gewinnstreben einschränkt und muss seinem Einfluss entzogen werden. Der Markt ist der bessere, objektivere und gerechtere Regler der gesellschaftlichen Abläufe und der Verteilung der Gewinne. Soweit das Credo der Neoliberalisten, die die öffentliche Debatte beherrschten und die Politiker von links bis rechts vor sich hertrieben.
Mit ein paar Rückschlägen hat sich die Wirtschaft der Industriestaaten stetig wachsend prächtig entwickelt und immer mehr Gewinne erwirtschaftet. Der Wohlstand ist auf breiter Basis angestiegen, obwohl sich die Schere zwischen arm und reich noch weiter geöffnet hat. Es haben also die Einzelnen im obersten Segment der Einkommenspyramide am meisten von dem Wachstumsschub profitiert. Aber immerhin: Global konnte die Armut zurückgedrängt werden. Ist also ein Lob des Kapitalismus in seiner neoliberalen Prägung fällig?
Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das auf dem Marktprinzip beruht und seine Dynamik aus der Konkurrenz der Akteure bezieht. Alles, was diese Konkurrenz behindert, soll aus dem Weg geräumt werden. Der Staat soll seine Aktivitäten darauf beschränken, dass die Aktivitäten der Marktteilnehmer reibungslos ablaufen können. Außerdem soll er laufend neue fitte Teilnehmer auf den Markt werfen, die die Konkurrenz mit ihren aktuelleren Kompetenzen und ihrer leistungsfähigeren Vitalität frisch aufmischen sollen. Natürliche Ressourcen werden bedenkenlos ausgebeutet, einschließlich der Ressource der menschlichen Gesundheit.
Im kapitalistischen System liegt also die Macht bei einer abstrakten Instanz, beim Markt. Das hat den Vorteil, dass es keine Zentralperson gibt, einen Weltherrscher, sondern ein ungreifbares Netz von Austauschvorgängen, die kein Einzelner überblicken und beherrschen kann. Der Nachteil liegt darin, dass die Menschen dem System unterworfen sind, das sie in gewisser Weise wie Sklaven behandelt und ausbeutet. Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach unmenschlich.
Deshalb braucht es eine Ideologie, die den Menschen ein unmenschliches System als menschlich verkauft, ähnlich wie ein Kühlschrankhändler den Polarbewohnern einredet, dass sie Elektrogeräte zum Kühlen ihrer Robbenfänge benötigen. Es ist die Ideologie, die häufig mit: „Leisten muss sich lohnen“ daherkommt und unter den Tisch kehrt, dass die Marktmechanismen dazu führen, dass bei gleicher Leistung höchst unterschiedliche Belohnungen rauskommen und sich vor allem jene leichttun, die aufgrund von Erbschaften einen Vermögensstock schon mitbringen, bevor sie mit Leistungen im Sinn des Neoliberalismus erst einmal beginnen.
Solange die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Niveau bleibt und etwas vom erwirtschafteten Gewinn auch breiteren Bevölkerungsschichten zugutekommt, damit genug konsumiert werden kann, freuen sich die meisten über die Segnungen des Kapitalismus. Doch handelt es sich um ein Krisensystem, das nach Phasen des Aufschwungs Abbrüche und Niedergänge produziert, die dann hauptsächlich diejenigen am schwersten betrifft, die am wenigsten von den Höhenflügen der Aktienkurse und Unternehmensgewinne profitieren. Doch scheint es, dass solche Erfahrungen schnell vergessen werden und die neoliberale Ideologie sofort wieder Fuß fasst, kaum ist die Krise überstanden. Die beliebten Politiker, die die neoliberale Ideologie ins Volk bringen, bekommen sofort wieder Zulauf. Die eingesammelten Stimmen dienen dann der Zementierung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, meist verbunden mit einer fremden- und ausländerfeindlichen Ausrichtung, die vielen Leuten Bedrohungsszenarien vermittelt, damit sie weniger Augenmerk darauf richten, wie die Hindernisse für die Reichtumsverschiebung von unten nach oben ausgeräumt werden. In diesen Zeiten wird mit der Devise der Verschlankung des Staates und der Kosteneinsparung im Gesundheitswesen eingespart, und die soziale Absicherung wird entweder reduziert oder zumindest nicht im Ausmaß des gesamten erwirtschafteten Vermögens weiterentwickelt.
Die Tiere und die Menschen
Was hat aber der Neoliberalismus damit zu tun, dass ein aggressiver Virus die Menschen befällt? Tiervirologen haben einen klaren Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsideologie und der Entstehung der bedrohlichen Viren erkannt. Wildtiere laufen mit einer Menge an Viren herum, die für sie harmlos, aber für Menschen gefährlich sein können. Geraten sie in Stress, weil die Menschen ihre Lebensräume beschneiden und ihr Überleben gefährden, so nehmen in ihnen diese Viren überhand und können dann leichter auf die Menschen übertragen werden. Die durch die kapitalistische Wirtschaftsweise immer weiter reduzierte Biodiversität sowie die sukzessive Einschnürung der Lebensräume führen, wie wir alle wissen, zum Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten und zu verstärktem Stress bei denen, die noch am Leben sind.
Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit. Wenn die Stressbelastung in der Natur immer weiter ansteigt, indem die Menschen, angetrieben von der neoliberalen Ideologie, der Natur rauben, was sie nur kriegen können, kippt dort das Gleichgewicht, mit unkontrollierbaren Konsequenzen für die Menschengesellschaft. Diese wichtige Botschaft, die mit den Viren mitkommt, sollten wir äußerst ernst nehmen. Die Aggressivität der Viren spiegelt die Aggressivität, mit der die Natur tagtäglich misshandelt wird.
Und es ist die Aggressivität, mit der wir uns selber behandeln. Denn auch wir sind Natur, und unsere Körper leiden z.B. unter Allergien, die von einer stressbelasteten Umwelt ausgehen: Bäume, die unter dem Klimawandel leiden, erzeugen mehr Pollen. Und wir leiden unter Viren, die von gestressten Tieren übertragen werden. Es ist unsere aggressive Lebensweise, mit der wir uns selber schaden.
Ideologieaustausch
Wir befinden uns wieder in einer Krise, die diesmal nicht unmittelbar durch den Kapitalismus herbeigeführt wurde wie jene von der Immobilienblase von 2008. Vielmehr hat es ein Virus geschafft, das Wirtschaftsleben nahezu stillzulegen. Und nun muss natürlich der Staat wieder einspringen, damit nicht noch größere Schäden für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Menschen entstehen.
Über Nacht wurde, nahezu unbemerkt, die offizielle Ideologie ausgetauscht. Plötzlich geht es nicht mehr um Wirtschaftswachstum und Nulldefizit, sondern um Menschenleben. In der neoliberalen Ideologie sind die Menschen austauschbare Subjekte, deren Wert von ihrer Leistung am Markt abhängt. Natürlich ist ein solches menschenverachtendes Konzept nicht für das Funktionieren einer Gesellschaft tauglich. Deshalb braucht es immer auch soziale Konzepte, die traditioneller Weise von den sozialdemokratischen Parteien und Organisationen vertreten werden und die ganz offensichtlich in den letzten Jahrzehnten massiv an Einfluss verloren haben.
Jetzt werden sie aus dem Hintergrund hervorgeholt und dienen nun als Hauptmaßstab des politischen Handelns. Plötzlich sind wir wieder eine menschliche Gesellschaft, die die Lebensrechte und die Würde jedes Einzelnen wichtig nimmt. Plötzlich kümmert sich der Staat um alle, die keine Arbeit haben, indem er Milliarden locker macht und sie versorgt. Plötzlich werden die Leute wertgeschätzt, die in der Krise die Infrastruktur aufrechterhalten, von der Müllabfuhr bis zum Supermarktpersonal, und es zeigt sich, dass die Wenigverdiener die Hauptleistenden sind – ein Widerspruch wird offensichtlich.
Es zeigt sich auch, dass die Krise dort am stärksten wirkt, wo das neoliberale Programm am radikalsten durchgezogen wurde. Das ist weiter nicht verwunderlich. Der Markt, bzw. das kapitalistische System ist nicht in der Lage, Krisen zu meistern, dazu braucht es das Gemeinwesen, also den Staat. Kaputtgesparten oder privatisierten staatlichen Strukturen in den geschrumpften und gerupften Staaten fehlen die Ressourcen, um der Probleme Herr zu werden.
Noch jedes Mal ist der Kapitalismus aus seinen selbstgemachten Krisen mit neuer Glorie auferstanden. Diesmal hat das Pendel zwischen Wirtschaft und Staat sehr stark auf die Seite des Staates ausgeschlagen, und die Zukunft wird zeigen, ob der Pendelschlag nach dem Ende der Krise umso stärker in die Gegenrichtung gehen wird oder ob sich das Zentrum verschieben wird, von dem das Pendel ausgeht, d.h. ob die Dimension des Menschlichen, und das ist auch die Dimension der Nachhaltigkeit, das Gewicht bekommt, das es braucht, um die viel größeren Herausforderungen, die sich im desolaten Mensch-Natur-Verhältnis ergeben haben, zu bewältigen und künftigen Generationen einen bewohnbaren Planeten zu sichern.
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Lieber Wilfried,
AntwortenLöschenes bleibt abzuwarten wie sehr das "neue soziale Bewusstsein", von dem du sprichst, in der Lage sein wird sich in Form gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen zu etablieren.
Was ich neben diesem positiven Aspekt frustrierend finde ist, dass ein neues Bewusstsein im Bereich der Ökologie viel weniger gegeben ist. Ich teile deine Einschätzung davon, dass die Bedrohung durch Viren vom Menschen stark selbst gemacht ist. Auch, dass der Virus dort zu besonders starken gesundheitlichen Problemen führt, wo die Luftqualität (NOx Belastung) besonders hoch ist, ist in diesem Zusammenhang anzumerken. Der Anthropozentrismus des Neoliberalismus ist eine Sackgasse, deutlicher könnte einem das gar nicht vor Augen geführt werden. Trotzdem gibt es in der öffentlichen Diskussion kaum ein Bewusstsein dafür, dass das zu massiven Verhaltensänderungen und Infrastrukturänderungen führen muss.
Überall auf der Welt werden Fluglinien mit öffentlichen Geldern subventioniert. Die dreiste Automobilindustrie, die noch immer in unzählige Rechtsstreitigkeiten wegen des Dieselskandals verwickelt ist, ruft nach steuerlichen Kaufanreizen für ihre Verbrenner. US Banken bereiten sich darauf vor, die zusammenbrechende Fracking-Industrie zu retten. Der Massentourismus will "so schnell wie möglich" wieder dort anschließen wo er vor der Krise war. Man braucht sich nur anhören was der Wiener Bürgermeister zur Planung des neuen Busterminals zu sagen hat. Hier sehe ich leider keine Änderungen im Bewusstsein.
Ich möchte aber noch einen anderen Aspekt ansprechen, der mir für das Verständnis des Neoliberalismus wichtig erscheint. Ein besonders gefährlicher Aspekt der neoliberalen Ideologie besteht darin, dass sie sich selbst nicht als Ideologie versteht. Die (naturalistische) Behauptung der Neoliberalismus wäre nicht ideologisch verunmöglicht nämlich jede kritische Diskussion über Alternativen. Von der neoliberalen M. Thatcher ist das Zitat legendär „There is no alternative“. Dieses Verständnis führt nämlich dazu, dass das Nachdenken über Alternativen permanent (als utopistische Träumerei) diskreditiert wird. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass in den Bereich von Alternativen kaum Forschungsgelder fließen (das ist vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass ich nicht mehr als Sozialwissenschafter an der Uni arbeite). Dementsprechend dünn sind in Krisenzeiten alternative Konzepte und Ideen. Das macht den Neoliberalismus zu einer extrem starken politischen Waffe im Interesse der Mächtigen. Diese Erkenntnis ist aber nicht neu. 1970 veröffentlichte J. K. Galbraith im American Economic Review unter dem Titel „Volkswirtschaftslehre als Glaubenssystem“ (im Original „Economics as a system of belief“) einen Artikel dazu. J. K. Galbraith wurde bereits in den 1950er Jahren durch sein Buch „Gesellschaft im Überfluss“ (im Original „The affluent society“) bekannt. Dort zeigte er, dass das Problem, für welches die Marktideologie eine Lösung anbot (nämlich die notwendige Ausweitung von Produktion und Konsum) in den industrialisierten Ländern keine zentrale gesellschaftliche Herausforderung mehr ist. Ganz im Gegenteil, die notwendige Schaffung von Nachfrage und Konsum um all den produzierten Krempel verkaufen zu können ist das zentrale ökonomische Problem dieser Gesellschaften. Demzufolge hätte es also schon Ende der 1950er Jahr zu einem intensiveren Nachdenken über Alternativen und entsprechende gesellschaftliche Veränderungen kommen müssen. Galbraith war sehr klar was die negativen Effekte der neoliberalen Produktions- und Konsumgesellschaft auf die Umwelt und soziale Beziehungen anbelangt. Auch meine letzte Publikation im „Cambrdige Journal of Economics“ („Human needs, consumerism, and welfare“) widmet sich den von der Konsumkultur verursachten Problemen. Was soll ich sagen, offensichtlich wurden 70 Jahre einfach verschlafen. Und auch jetzt sieht es für mich nicht nach Veränderung aus. Vermutlich muss sich dieses System noch stärker gegen die Wand fahren, mit all den Kollateralschäden die das mit sich bringen wird. Darüber will ich gar nicht nachdenken.
AntwortenLöschenLieber Wolfgang, danke sehr für die interessante und wichtige Ergänzung. Nachdem die soziologische Perspektive so trist erscheint, bleibt für mich die psychologische, aus der wir verstehen können, dass die Menschen sich so schwer tun, sich aus ihren Ängsten zu befreien und statt dessen fast süchtig nach neuen Angstquellen schauen, siehe die diversen Krisenreaktionen. Der Neoliberalismus versteht es perfekt, diese Angstmechanismen zu bedienen und mit Schammechanismen abzusichern: Wer nicht beim Konsumwahn mittut, ist ein Loser.
LöschenHab gerade einen Artikel zum Thema im Newstatesman gelesen und kann ihn nur sehr empfehlen, weil er sehr konkret auf Wilfrieds allgemeine Überlegungen eingeht. Der Link zum Artikel folgt ganz unten. Hab mir während der Lektüre auch gedacht ich möcht noch einen hoffnungsvollen Dialog über Alternativen erwähnen, nämlich die Degrowth Bewegung. Unter diesem Stichwort findet ein sehr aktiver und interessanter Austausch über Alternativen und Utopien statt, auch wenn diese meist noch wenig ausgereift sind und das Augenmerk auf der Ablehnung der Marktideologie liegt. Von 29. Mai bis 1. Juni gibt es eine von hier ansässigen Personen organisierte Online Konferenz zum Thema Degrwoth (mit den meisten davon hab ich früher zusammengearbeitet). Der Link dazu findet sich auch unten.
AntwortenLöschenhttps://www.newstatesman.com/politics/economy/2020/03/coronavirus-crisis-economic-collapse-capitalism?fbclid=IwAR1ZQSNFLEl2dpzkhH2TzCCDmgHKe9S31XNoH3ZCOVnbKrDUXBYJuXVLcAs
https://www.degrowthvienna2020.org/