Samstag, 9. Juli 2022

Selbstdienliche Verzerrungen

Wir neigen dazu, uns in ein positives Licht zu setzen, vor allem dann, wenn andere Kritik an uns üben oder uns abwerten. Die Soziologie hat diese Neigung genauer untersucht und ist auf das eigenartige Phänomen der „selbstwertdienlichen Verzerrung (self-serving bias)“ gestoßen. Das Phänomen besteht darin, die eigenen Erfolge sich selber und die Misserfolge äußeren Ursachen zuzuschreiben. Für alles, was gut läuft, bin ich selber verantwortlich und kann mich dafür anerkennen. Für alles, was schiefläuft, mache ich die Umstände oder die anderen Menschen verantwortlich und bin damit aus dem Schneider.

Diese zweite Komponente des Verzerrungsmechanismus dient dem Schutz des Selbstwertes und der Vermeidung von Scham. Sie besteht darin, sich selbst von der Verantwortung für Fehler zu entlasten, indem sie anderen Instanzen zugeordnet wird. Damit geraten der Selbstwert und die Selbstachtung nicht in Gefahr. Wenn ich in einen Stau gerate und nicht weiterkomme, schimpfe ich auf den Verkehr und die anderen Autofahrer und komme nicht auf die Idee, mich selber zu fragen, ob ich vielleicht zu spät weggefahren bin und eventuelle Verkehrsbehinderungen nicht einberechnet habe. Wenn der Computer abstürzt, ist auf jeden Fall er schuld und nicht meine Aktionen, die zum Absturz geführt haben. Wenn ich auf einen Termin vergessen habe, ärgere ich mich über die anderen Leute, die dauernd etwas von mir wollten und mich abgelenkt haben.

Scham und Stolz


Die Verantwortung für Fehler zu übernehmen fällt uns schwer, weil das Eingeständnis von eigenen Unzulänglichkeiten mit Scham verbunden ist. Wenn wir äußere Ursachen finden, die unsere Fehlleistungen bewirken, brauchen wir uns selber nicht zu schämen und unser Selbstwertgefühl bleibt intakt. Stattdessen kehren wir die Orientierung um und beschämen andere, denen wir die Schuld geben für das, was schiefläuft.
Die andere Seite dieses psychologischen Phänomens, die selbstwertstärkende Komponente, bei der wir uns als einzige Verursacher unserer Erfolge wahrnehmen, hat mit Stolz zu tun. Der Stolz ist die psychische Kraft, die unseren Selbstwert stärkt, solange er in einem maßvollen Rahmen bleibt, also verschiedene Aspekte der Realität mit einschließt, z.B. all die Beiträge, die von außen zu den eigenen Erfolgen beitragen.
Es ist wiederum die Scham, die den überschießenden Stolz in die Schranken weist und darauf hinweist, dass alles, was wir tun, immer in einem sozialen Feld stattfindet. Es gibt immer andere Akteure, die mitwirken, dass wir erfolgreich sind und ohne die wir nicht zu den Resultaten kommen, die wir erschaffen. Die Scham erinnert uns daran, zum Feiern unserer Erfolge auch die Bescheidenheit und die Dankbarkeit einzuladen.
Auf diese Weise bleibt unser Selbstwert in Balance. Er findet die Mitte zwischen Selbstüberschätzung und Selbstabwertung und ermutigt uns zu einer angemessenen Verantwortungsübernahme und entlastet uns selbst von einer übermäßigen Verantwortung. Wir stellen uns der Realität in einem weiteren Rahmen als der, den uns unsere unbewussten Egomechanismen anbieten und der auf Ausblendungen und Verzerrungen beruht.

Die umgekehrte Dynamik


Es gibt auch Menschen, bei denen diese unbewusst ablaufende Dynamik umgekehrt verläuft. Sie sehen ihre Erfolge als vor allem von außen bewirkt und stellen ihr Licht gerne unter den Scheffel. Andererseits nehmen sie ihre Fehler ganz persönlich, ohne an äußere Verursachungen zu denken. Sie schämen sich dafür, wenn sie in einem Bereich nicht schaffen, was sie schaffen sollten, was auch zu einer depressiven Verstimmung führen kann. Ihre Erfolge nehmen sie weniger wichtig, sondern sind mehr auf Misserfolge fixiert. Damit schädigen sie ihren Selbstwert.
Andere Menschen schwanken situationsbedingt zwischen der selbstwertstärkenden und der selbstwertschwächenden Form der Realitätsverzerrung. In manchen Situationen sind sie stolz auf ihre Erfolge und schieben ihre Verantwortung für die eigenen Fehler auf andere ab. In anderen Situationen beschuldigen sie sich selbst für ihre Fehler, nachdem sie sich über die Verursachung durch andere beschwert haben.
Für diese Unterschiede sind neben Charakter und Temperament auch die Erziehungsstile in der Kindheit und die damit verbundenen Werthaltungen verantwortlich. Eltern leben durch ihre Art des Umgangs mit Erfolg und Misserfolg vor, wie solche Erfahrungen am besten verarbeitet werden. Die Kinder orientieren sich an ihren Vorbildern und übernehmen diese oder wandeln sie in ihr Gegenteil um. Wenn es um Erfolge geht, gibt es eine Bandbreite von Umgangsweisen zwischen scheinbescheidenem Kleinreden und großspuriger Protzerei. 

Ebenso breit ist die Palette bei Misserfolgen. Sie können übergangen und ignoriert, bagatellisiert oder dramatisiert werden. Häufig werden Ausreden mit Scheinursachen genutzt, um die psychischen Folgen eines Misserfolgs vor sich selbst und die sozialen Folgen bei den anderen abzuschwächen. Niemand will schlecht dastehen, weder vor sich selbst noch vor den Mitmenschen. 

Selbst die Variante, die eigenen Erfolge abzuwerten und die Misserfolge aufzubauschen, dient der Aufrechterhaltung der Selbstachtung und der sozialen Wertschätzung. Die Zügelung des Stolzes bei Erfolgen dient einem Selbstbild der Bescheidenheit, und die Selbstbeschuldigungen beim Versagen sollen Mitgefühl und Mitleid mobilisieren. Die Verzerrung der Wirklichkeit zielt also immer auf einen innerpsychischen und einen sozialen Nutzen. Unser Unterbewusstsein glaubt, dass es besser fährt, wenn es Wirklichkeitsfilter anwendet, die in anderen Zusammenhängen, also vor allem in der Kindheit ausgebildet wurden. Bessere hat es nicht zur Verfügung.

Da die Verzerrungen meist auf solchen ungeprüften Annahmen in Bezug auf die Selbstbeziehung und auf das soziale Umfeld gesteuert sind, führen sie zu selbstbestätigenden Zyklen. Die Vorannahmen erweisen sich als gültig, insofern sie sich selbst beweisen: Wenn ich mit meinen Ausreden durchkomme und Beschämungen vermeiden kann, dann ist das die einzig richtige Strategie, um mit Misserfolgen zurechtzukommen. Wenn ich mich selber für Misserfolge geißle, bekomme ich Sympathie und aufmunternde Zuwendung.

 

Wirklichkeitsverzerrung bedeutet Freiheitsverlust


Die gewohnte Strategie erzeugt Sicherheit, engt aber die Freiheit ein. Denn jeder Verlust an Wirklichkeitswahrnehmung reduziert die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Das innere Erleben unterliegt einer Selbstmanipulation und führt damit zur Selbstentfremdung.
Solche Strategien funktionieren nur, wenn sie unbewusst ablaufen und nicht reflektiert werden. Sie sind scheinbar alternativ- und konkurrenzlos in Geltung und haben ihren angestammten Platz im psychischen Notfallkoffer. Wird allerdings verständlich, dass sie eingeübte Formen der Wirklichkeitsverzerrung sind, die nicht automatisch ablaufen müssen, sondern auch geändert werden können, so ergibt sich der erste Schritt zu mehr Autonomie. Hilfreich ist zusätzlich die Erforschung der Hintergründe und Quellen solcher Reaktionsmuster, indem die dahinterstehenden Kindheitserfahrungen und übernommenen Werthaltungen durchleuchtet werden. Je mehr Bewusstheit gewonnen wird, desto mehr Freiheitsräume öffnen sich.

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