Donnerstag, 14. Juli 2022

Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?

Wir leben in Krisenzeiten, hört man oft. Wann nicht, könnte man fragen, wenn man schon einige Jahrzehnte am Buckel hat. Aber die Pandemiezeit und der Ukrainekrieg haben das Krisenbewusstsein in unseren Breiten enorm verstärkt. Die Wetteranomalitäten konfrontieren hautnahe mit dem Klimawandel, von dem Wissenschaftler und Aktivisten seit Jahrzehnten warnen. Das Gefühl, die Entwicklungen nicht mehr unter Kontrolle zu haben, haben wir viel stärker als je zuvor. Daran zeigt sich auch unsere privilegierte Position, da wir in den reichsten und sichersten Ländern der Welt leben und seit dem 2. Weltkrieg das Krisenbewusstsein weitgehend von unseren Lebensräumen fern halten konnten. Alle, die im ex-jugoslawischen Raum leben oder gelebt haben, sehen das naturgemäß anders, ebenso jene, die aus anderen Kriegsgebieten flüchten mussten oder flüchten müssen. Menschen, die in Dürre- und Hungerzonen leben und ihr Überleben von Tag zu Tag sichern müssen, kennen nicht einmal eine Alternative zur Krise, die ihr Leben ausfüllt.

Das Bewusstsein, in einer Krisenzeit zu leben, verunsichert und bereitet Ängste und Sorgen, erzeugt also Stress. Es fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt nur, wenn aus der Krise eine Katastrophe wird, wenn z.B. ein Krieg ins eigene Land überschwappt oder wenn ein Dorf von Unwettern weggeschwemmt wird. Ängste mobilisieren egoistische Überlebensstrategien, die Bestrebungen, die eigene Haut zu retten. Wohin könnte ich auswandern, um den Klimaveränderungen zu entgehen und vor Kriegen und Seuchen sicher zu sein? Wo kann ich einen sicheren Ort finden, ohne dass die anderen davon wissen? Welchen Urlaub muss ich mir noch gönnen, bevor das Reisen nicht mehr möglich ist? Wie kann ich meine Schäfchen ins Trockene bringen, bevor das Finanzsystem zusammenbricht?

Angst als Veränderungsmotor

Die von Ängsten gesteuerte Reaktion auf Krisen ist die am weitesten verbreitetste. Sie ist aber auch die primitivste. Sie steht im Bann des Wiederholungszwanges von schon früh erlebten Traumatisierungen oder von kollektiven Traumen, die sich in tiefen Schichten der Seele festgesetzt haben. Deshalb ist die verbreitete Reaktion auf Krisen zunächst die Verleugnung („Das hat nichts mit mir zu tun.“ „Das ist alles übertrieben.“ „Da stecken ganz andere Interessen dahinter.“ „Das geht alles wieder vorüber.“ usw.). Mit Beschwichtigungen soll die Angst beruhigt werden, damit das Leben in den gewohnten Bahnen weiter verlaufen kann.

Erst wenn einem die Krise auf den eigenen Pelz rückt, wenn Leute in der Umgebung an einer Seuche versterben, Verwandte zu Kriegsopfern werden oder durch die Hitze getötet werden, wenn das eigene Haus weggeschwemmt wird, entsteht der Impuls zum Handeln und zur Änderung von Gewohnheiten. Es handelt sich dabei um ein reaktives Handlungsmuster: Es wird erst dann etwas getan, wenn das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Krise so augenfällig ist, dass sie unmittelbar das eigene Leben betrifft. Solange sich die Katastrophen irgendwo anders ereignen, kann man ein wenig Mitgefühl aufbringen und ansonsten die Hände in den Schoß legen.

Deshalb entsteht der Eindruck, dass Menschen nur durch Krisen auf dieser Ebene lernfähig sind. Erst wenn man einen Hitzekollaps erlitten hat, überlegt man, was man selber tun könnte, um die Krise zu bekämpfen. Erst wenn der Öl- und Gaspreis rasant nach oben geht, denkt man daran, wie man fossile Brennstoffe einsparen könnte.

Diese reaktive Orientierung hat sich bei vielen Problemlagen bewährt. Sie ist aber für große Krisen viel zu schwach und nicht geeignet, nachhaltige Richtungsänderungen zu bewirken. Denn sie schwenkt sofort in alte Muster zurück, wenn sich die Bedingungen ändern: Gehen die Energiepreise wieder nach unten, wird weiter konsumiert, als wäre nichts gewesen. Wenn die Infektionszahlen runtergehen, werden sofort alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord geworfen. Wenn der Krieg vorbei ist, geht es darum, die Geschäfte mit allen Beteiligten möglichst schnell zu reaktivieren.

Global denken und handeln

Wir brauchen also eine andere Ausrichtung, wenn wir mit den großen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, zurechtkommen wollen – was wir in Wirklichkeit müssen, weil nicht nur die Qualität unseres Weiterlebens, sondern unsere Existenz als Individuen und als Menschengattung auf dem Spiel steht. Wir müssen uns der systemischen Vernunft bedienen, d.h. einen wichtigen Schritt in der Evolution des Bewusstseins vollziehen, vor allem in Hinblick auf die Krisenphänomene. Das systemische Bewusstsein führt uns heraus aus der Selbstbezogenheit, aus den individuellen und kollektiven Egoismen. Es ist getragen von der Einsicht, dass die großen Probleme nur durch globale Zusammenarbeit gelöst werden können, zu der möglichst viele Menschen durch ihr Wollen und ihren Einsatz beitragen. Wir kennen diese Art des Denkens und des aus ihr abgeleiteten Handelns, doch wenden es noch viel zu wenige Menschen an. Es sind wiederum Ängste, die davon abhalten, das, was eigentlich als vernünftig erkannt ist, in das Tun zu übersetzen. Ängste zwingen uns, am Gewohnten festzuhalten und erst zu handeln, wenn die Bedrohung unübersehbar ist. Ängste zwingen uns zu Reaktivität. Alles, was von einer Angst angetrieben ist, hält nur kurzfristig an, denn Ängste konsumieren viel Energie, sodass sehr bald die Erschöpfung auftritt und damit die alten Muster zurückkehren.

Wir müssen also unsere Ängste überwinden, wenn wir unser Handeln proaktiv leiten, indem wir uns nicht von äußerem Druck motivieren lassen, sondern von unserer Einsicht und unserem Wollen. Wir verzichten auf Annehmlichkeiten oder Bequemlichkeiten, auf Konsumgewohnheiten nicht, weil es nicht anders geht, sondern weil uns die Lösung globaler Probleme wichtiger ist als die Befriedigung von Luxusbedürfnissen.

Was wir also aus den gegenwärtigen Krisen lernen können, ist die Wichtigkeit, unsere Motivations- und Handlungsmuster zu verändern. Wir können unseren Blick weiten und ein globales Bewusstsein entwickeln, das unsere Handlungen danach ausrichtet, wie es im Blick auf die gesamte Menschheit und ihre Zukunft am sinnvollsten, nutzbringendsten und hilfreichsten ist, bzw. wie es am wenigsten Schaden anrichtet. Und wir können andere motivieren, ebenso über ihre Eigeninteressen hinaus zu blicken, und laden auf diese Weise mehr und mehr Menschen ins systemische Bewusstsein ein.

Die Grundzüge dieser Bewusstseinsform sind einfach dargestellt. Wir berücksichtigen unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche, nehmen sie aber nicht als oberste Richtschnur für unsere Entscheidungen. Vielmehr achten wir darauf, möglichst viele andere Interessen mitzubedenken, soweit sie global ausgerichtet sind. Wir agieren aus einem Verständnis der geteilten Verantwortung, im Prinzip mit allen Menschen und sogar allen Lebewesen. Wir tragen unseren Teil dieser Verantwortung so gut es uns möglich ist und bemühen uns darum, in dieser Fähigkeit zu wachsen. Wir nutzen Krisen als Chance zur Weiterentwicklung, brauchen aber keine Krisen dafür, sondern sind von der Überzeugung getragen, dass das Leben an sich Weiterentwicklung und permanente Veränderung ist. Wir versuchen, diesen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen eine Richtung zu geben, die dem Überleben der Menschheit in sozial ausgeglichener, gesunder und friedlicher Weise am besten dient.

 

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