Sonntag, 31. August 2014

Warum die Geburt im Krankenhaus gelandet ist

Das Gebären von Kindern ist keine Krankheit. Im Gegenteil, es ist ein Prozess, der das Leben weiterbringt, fördert und vermehrt. Deshalb scheint es seltsam, dass es zu einem Teil des Krankenhauslebens wurde - Hospitäler erfunden zur Heilung von Kranken. Die Hausgeburt ist in den reichen Ländern zu einer seltenen Ausnahme geworden, und in den Entwicklungsländern gehen alle, die es sich leisten können, zur Geburt ins Spital.

Um diese Entwicklung zu verstehen, sollten wir drei Aspekte bedenken, die offensichtlich dabei zusammenarbeiten, dass die Geburt auf der ganzen Welt in den letzten Dekaden in die Krankenhäuser überführt wurde.

Erster Gesichtspunkt: Das medizinische Establishment hat mehr Einfluss in der Gesellschaft gewonnen, seit es begonnen hat, mit der modernen Wissenschaft zusammenzuarbeiten. Die Menschen vor Risiken zu schützen wurde ein wichtiges Ziel von Politik und Gesellschaft, und die auf Wissenschaft beruhende Medizin bot ihre Dienste zu diesem Zweck an. Da sie sich auf großartige Erfolge bei der Bekämpfung und Ausrottung vieler Krankheiten berufen konnte, stellte sie ihre Macht unter Beweis, Menschen bei der Verbesserung ihres Leben zu helfen und Risiken zu minimieren. Schließlich übernahm sie auch die Rolle, bei der Geburt die beste Versorgung für Mutter und Kind bereitzustellen - wo sollte es da noch ein Risiko geben, wenn alle Experten mit ihren Instrumenten und Maschinen da sind, während ein Kind geboren wird?

Zweiter Gesichtspunkt: Das Anwachsen von Stress in der modernen Gesellschaft hat besonders auch die Geburt als sehr sensible Lebensphase betroffen. Dazu hat die Verbreitung von unsicheren Bindungsmustern zwischen Eltern und Kindern eine Atmosphäre von Unsicherheit rund um das Gebären bewirkt, sodass schwangere Frauen immer mehr ihren Instinkten misstrauen und statt dessen den Ärzten das Vertrauen entgegen bringen, besser zu wissen, was es bei der Geburt eines Kindes braucht.

Dritter Gesichtspunkt: Das ökonomische System des Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der menschlichen (und natürlichen) Ressourcen. Es benötigt Menschen, die an Stress gewohnt sind. Deshalb ist es im Interesse dieses Systems, dass die Menschen ihr Leben unter gestressten Bedingungen beginnen.


Der Patriarchalismus und die Entfremdung der Geburt


Hebammen haben im Lauf der Geschichte zunehmend ihre unabhängige Rolle als Expertinnen der Geburt verloren. Sie wurden zwar in den medizinischen Apparat aufgenommen, zwischen den Ärzten und den Müttern, aber den universitär ausgebildeten Medizinern untergeordnet.

Es ist eine eigenartige Entwicklung, dass die in der Mehrzahl männlichen Ärzte zu den Experten der Geburt gemacht wurden, während die weibliche emotionale und intuitive Weisheit von Müttern und Hebammen abgewertet wurde, die immerhin während Millionen von Jahren gut genug war, um die Weitergabe des menschlichen Lebens zu gewährleisten. Dabei handelt es sich wohl um einen späten Sieg des Patriarchalismus, nicht nur über das traditionelle weibliche Wissen von der Geburt, sondern auch über die Natur als Ganzer. Die Geburt wurde aus ihrer natürlichen Umgebung herausgelöst und in die künstliche Atmosphäre der Spitäler überführt. So entsteht das neue Leben bereits in maximaler Distanz zur Natur. (Man braucht nur ein modernes Spital zu besuchen, um diese Distanz zu erleben, z.B. gibt es im Wiener Allgemeinen Krankheit kaum Räume, die Zugang zum natürlichen Licht haben.

Diese Ärzte haben keine Ausbildung in emotionalem und intuitivem Wissen, sondern nur darin, wie wissenschaftliche Daten überwacht und "bewiesene" Methoden angewandt werden, die gefährliche Situationen verhindern oder bewältigen sollen. Obwohl bei weitem die meisten Verfahren, die in Spitälern angewendet werden, niemals wissenschaftlich geprüft wurden, wirkt die magische Kraft des weißen Mantels, um den Ärzten die führende Rolle bei der Geburt anzuvertrauen, die ihnen von den Müttern und von der Gesellschaft als ganzer zugeschrieben wird. Werdende Mütter vernachlässigen ihre Intuition und ihre Erfahrungen aus neun Monaten Schwangerschaft zugunsten des überlegenen Wissens von studierten Doktoren. Deshalb wird die Geburt von Menschenwesen immer weniger emotional, empathisch und intuitiv und statt dessen standardisiert und mechanisiert, ähnlich eher einer Geburtsfabrik oder einer hochriskanten Operation als einem mystischen Prozess als Wunder der Natur.

Folglich darf es nicht verwundern, dass sich die Kaiserschnittgeburten in den vergangenen Jahrzehnten sprunghaft vermehrt haben, weit über das medizinisch notwendige Maß hinaus. Medikation und chirurgische Eingriffe wurden zu routinemäßigen Prozessen bei der Geburt. Neue Risiken entstehen wegen der mechanisierten und sterilisierten Umgebung der Spitäler. Kinder werden in eine Welt von Maschinen, künstlichem Licht und gestressten Menschen hineingeboren. Angst ist die einzige Emotion, die im sterilen Kreißsaal zugelassen ist. Jede Spur von Natur wird sorgfältig entfernt und draußen gelassen, sodass das Baby in dieser keimfreien Atmosphäre keine Chance hat, mit der Natur in Kontakt zu treten.


Stress und unsichere Bindung


Unter diesen Umständen ist es extrem schwierig, dass Mutter und Vater eine liebevolle Bindung zum Kind aufbauen. Denn Gefühle werden, so gut es nur geht, ausgeschlossen. Der ganze Apparat ist nicht daran interessiert, emotionale Bedürfnisse zu erfüllen, sondern nur darin, sich um mögliche Risiken zu kümmern, die von außen beobachtet und gemessen werden können.

Der hinter dieser Entwicklung stehende Trend hat mit der Emanzipation der Frauen aus ihrer traditionellen Rolle als Hausfrauen und Kindererzieherinnen zu tun. Indem sie die Welt der Lohnarbeit betreten haben, übernahmen die Frauen auch den externen Stress, der den Kapitalismus regiert. Sie mussten diesen Schritt aus dem grundlegenden Bedürfnis heraus machen, die schicksalhaften Entbehrungen einer hoffungslos verarmten Schicht, durch die Geburt zugeschrieben, hinter sich zu lassen. Wollte eine Familie diesem Los entrinnen, bot die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts (in Europa und Nordamerika) und später in anderen Teilen der Welt die Möglichkeit der bezahlten Fabriksarbeit. Das Einkommen des Familienvaters alleine war nicht ausreichend, um die Mittel für Überleben und Unterhalt zu erarbeiten. Deshalb haben die Mütter begonnen, ins Arbeitsleben einzusteigen, um ein besseres Leben zu erreichen und der Armut zu entrinnen. Der Preis lag darin, dass die Frauen den Stress der modernen Arbeitswelt übernommen haben, der zu den Belastungen durch das Kindererziehen und der Haushaltsführung dazu kam. Dieser Stress ist anderes als der Stress, der die älteren landwirtschaftlichen Gesellschaften prägte.

So werden also die Kinder in eine Umwelt voll von industrialisiertem Stress hineingeboren. Von früh an sind sie dem Stress ausgesetzt und chronifizieren ihn unbewusst, bis sie ihn an die nächste Generation weitergeben. Babys, die sich schon in ihrer pränatalen Zeit an Stress gewöhnen mussten, werden dann unter Stress geboren. Mütter, deren eigene Pränatalzeit und Geburt von Stress geprägt war, werden dann wieder mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Kinder mit Stress gebären.

Gestresste Geburten führen zu belasteten Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Medikation, Operationen und Kaiserschnitte haben massive Einflüsse auf Mutter und Kind. Die emotionale Energie, die notwendig ist, um mit diesen Belastungen zurecht zu kommen, reduziert die Möglichkeiten, eine sichere Bindung von beiden Seiten aufzubauen. Deshalb kann die Hospitalisierung der Geburt zur Entwicklung von unsicheren Bindungsmustern führen, die sich in Gewohnheitsmustern von vermeidenden oder ambivalenten Beziehungen im späteren Leben ausprägen, bis sie dann der nächsten Generation weitergegeben werden.

Solche Muster verringern die Fähigkeit des empathischen Beziehens. Es fällt schwer, die Bedürfnisse von anderen sowie von sich selbst zu spüren. Der Fokus ist nach außen gerichtet, sodass Hilfe vor allem von dort erwartet wird. Mütter, die während ihres Lebens und besonders auch während ihrer eigenen Geburt durchlebt haben, fühlen sich in Bezug auf das Gebären inkompetent. Deshalb suchen sie Unterstützung bei externen professionellen Helfern, bei Experten, insbesondere bei Ärzte in ihrem weißen Kittel.


Von Anfang an Stress verinnerlichen


Von der anderen Seite betrachtet, benötigt eine Gesellschaft, die von den ökonomischen Werten des Kapitalismus beherrscht wird, arbeitende Menschen, die ein Maximum an Stress aushalten und bereit sind, ihre Lebenssubstanz bis zum Punkt der Erschöpfung herzugeben. Der Kapitalismus, der vom Drang nach Profitmaximierung angetrieben wird, hat die unvermeidliche Tendenz, alle Ressourcen auszubeuten, die menschliche Lebensenergie eingeschlossen. Ausbeutung erzeugt Stress, und die Welt des Kapitalismus toleriert nur Menschen, die bereit sind, alles zu geben, und die abgehärtet genug sind, um mit ausufernden Forderungen zurecht zu kommen und die mit den Kompensationen, die das System anbietet, leben können.

Also braucht der Kapitalismus Menschen, die an Stress gewöhnt sind, sodass sie nicht bemerken, wann sie die Grenzen ihrer Gesundheit überschreiten. Solche Menschen werden geschaffen, wenn ihr Leben unter Stress und Belastung beginnt. Auf diese Weise wird der Stress internalisiert und damit chronifiziert. Das sind die optimalen Startbedingungen für eine Welt der Ausbeutung und der exzessiven Anforderungen.

Mit der Internalisierung von Stress ist folgendes gemeint: Wenn die äußerliche Quelle für Stress nicht mehr existiert, wie die Peitsche in der Sklavenhaltung, wird der Stress im Inneren aufgebaut. Die innere Peitsche entsteht: Du bist nicht gut genug, du musst mehr arbeiten, du musst bessere Leistungen erbringen. Ein Kind, das in der sterilen Umgebung eines Spitals geboren wurde, muss schnell alle Erwartungen aufgeben über das, was es als wesentlich und als normal ansieht: Eine Mutter, voll des Staunens und der Freude über ihr Kind, Menschen um sie herum, die ihre Bedürfnisse sowie die des Babys unterstützen, in einer liebevollen und fürsorglichen Atmosphäre. Statt dessen regiert der Stress, und das Baby muss mit diesem Stress umgehen, indem es selbstabwertende Annahmen über sich selbst trifft: Ich bin nicht gut genug für diese Welt, um zu empfangen, was ich brauche und verdiene. Ich muss mich verbessern, ich muss mich ändern. Wenn der Kapitalismus eine Person wäre, würde er ausrufen: "Ja, genau so will ich dich, du bist willkommen in der Welt der Ausbeutung!"


Zurück zur Natur in der Geburt


Es gibt also zwei Seiten, die bei der Hospitalisierung der Geburt zusammenarbeiten: die soziale Dynamik des Zeitalters der modernen Industrialisierung als einer objektiven Macht, und der Drang von Menschen, sich ein besseres und sichereres Leben im Rahmen dieses ökonomischen Systems zu schaffen, was die subjektive Seite für diesen Prozess darstellt. Die Wissenschaft spielt dabei eine scheinbar unschuldige Rolle, indem sie diese Entwicklung mit Fakten unterstützt, die die Notwendigkeit der Spitalsgeburt unterstreichen sollen. Aber indem die emotionalen und relationalen Folgen dieser Entwicklung ignoriert werden, dient sie bloß den Interessen der kapitalistischen Gesellschaft.  Die Wissenschaft wird zur kognitiven Absicherung und Affirmation der Instrumentalisierung der Geburt und hat deshalb den Charakter einer Ideologie mit pseudo-religiösem Einfluss angenommen.

Es muss natürlich erwähnt werden, dass die wissenschaftliche Medizin mitgeholfen hat, die Säuglingssterblichkeit sowie die der Gebärenden sowie andere Gefahren bei der Geburt zurückzudrängen. Aber sie hat auch zu einer Steigerung des emotionalen Stresses beigetragen, mit anderen negativen Auswirkungen auf die körperliche und emotionale Gesundheit mit Langzeitfolgen.

Um den Teufelskreisen zu entkommen, die durch die Institutionalisierung der Geburt entstehen, muss "die Natur" so viel wie möglich in den Geburtsvorgang zurückgebracht werden: Natur in Form von emotionaler Intelligenz und uraltem weiblichem Wissen und Können, sowie in der Form einer freundlichen und entspannten Umgebung. Dann kann die normale Geburt wieder zur Norm werden, nämlich eine Geburt ohne Bedarf an institutionaliserter Hilfe, sondern einfach ein Wunder der Natur, die ein wunderschönes neues Lebewesen erschaffen hat, gefeiert von offenherzigen Menschen.



Vgl. Kaiserschnitt als Geburtsmethode

Gleichheit und soziale Sicherheit

Soziale Gleichheit hat unterschiedliche Bedeutungen, die aus verschiedenen Bewusstseinsstufen stammen. Wenn wir uns die entsprechenden Zuordnungen klarer machen, können wir uns besser mit dem Gleichheitsbegriff in der Gesellschaft bewegen und uns innerhalb unserer sozialen Beziehungen orientieren. Außerdem können wir uns darüber klarer werden, welche Form von Gleichheit wir wollen und für welche wir in der gesellschaftspolitischen Diskussion eintreten. Hier wird der Gleichheitsbegriff besonders in Verbindung mit der sozialen Sicherheit betrachtet. Denn ursprünglich liegt die Begründung für die Sicherheit jedes Mitglieds der Gesellschaft in der Gleichheit der Zugehörigkeit, wie im Folgenden erläutert wird.

Die Grundlage unseres Gleichheitsempfindens wurde in den frühesten Formen der Sozialerfahrung in Stammesgesellschaften gebildet. Die tribale Gleichheit besteht darin, dass jedes Mitglied des Stammes seinen Platz hat und selbstverständlich dazugehört. Es gibt keine Unterschiede in der Zugehörigkeit, auch wenn in anderen Hinsichten unterschieden wird - zwischen Männern und Frauen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen usw. Jedes Stammesmitglied bringt seine Kräfte und Fähigkeiten zum Wohle aller mit ein und bekommt seinen gerechten Anteil an den Ressourcen. Im Stamm wird auch auf die Schwächen jedes Einzelnen geschaut, sodass, wenn notwendig, die Stärkeren die Schwächeren unterstützen. Jedes Stammesmitglied weiß, dass das Ganze und somit jeder Einzelne nur durch Zusammenhalt Bestand haben kann.

Gleichheit und Bindungssicherheit


Wir tragen dieses Empfinden des Zusammenhalts und der selbstverständlichen Zugehörigkeit und Gleichheit in uns, und es wird in jeder Familie wieder neu begründet. Dort hat sich das Sozialgefühl der Stammesgesellschaften noch erhalten. Jedes Baby, das in eine Familie hinein geboren wird, trägt dieses Gefühl als Erwartung an sichere und verlässliche Bindungen und an einen selbstverständlichen Platz in sich und bringt es seinen Bezugspersonen entgegen, sobald es das Licht der Welt erblickt.

Es trifft auf Menschen, die gelernt haben, sich in der komplexen Sozialwelt der Moderne zu bewegen, und deren ursprünglicher Gleichheits- und Gerechtigkeitsbegriff viele gewollte und ungewollte Modifikationen erfahren hat. Sie haben im Lauf ihrer Lebensgeschichte ihre emanzipativen Kräfte (zweite Bewusstseinsstufe) nutzbar gemacht und zugleich gemäß den Bedürfnissen von hierarchischen Organisationen (dritte Bewusstseinsstufe) eingedämmt. Sie haben erfahren, wie soziale Sicherheit an verschiedene Bedingungen geknüpft ist und immer wieder erworben werden muss.

Die Folge ist, dass es in unserer Gesellschaft keine selbstverständliche Bindungssicherheit mehr gibt. Was die tribale Ebene anbetrifft: Es gibt nur mehr statistisch schwächer werdende Wahrscheinlichkeiten, dass die Eltern als Paar zusammenbleiben, und schwindende Glücksfälle, in denen die Eltern genügend qualitative Zuwendung und Zeit für ihre Kinder zur Verfügung haben. Im Familiengefüge der (post)industriellen Welt sind die sozialen Sicherheiten, die Kinder brauchen, durch eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Stressfaktoren zunehmend geschwächt. Beziehungen zwischen Familienvätern und -müttern sowie zwischen Eltern und Kindern sind nicht mehr von einer selbstverständlichen Sicherheit geprägt, sondern vielfachen Belastungen und Bedrohungen ausgesetzt.

Gleichheit in unterschiedlichen Gesellschaftsformen


Auf der makrogesellschaftlichen Ebene bildet sich diese Bindungsunsicherheit in unterschiedlichen politischen Ordnungsvorstellungen ab. Zugehörigkeit als Voraussetzung von Gleichheit wird je nach den zentralen Ideen der einzelnen Bewusstseinsstufen definiert. In der hierarchischen Ordnung z.B. ist die Zugehörigkeit durch die Geburt festgelegt und bleibt einem Individuum relativ starr zugeordnet. Die soziale Sicherheit wird in dem Rahmen des Standes gewährleistet. Gleichheit gibt es bestenfalls innerhalb eines Geburtsstandes, sowie auf einer abstrakteren Ebene durch den Einfluss von Hochreligionen auf das Menschsein allgemein ausgedehnt, z.B. durch die Festlegung des Christentums, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Allerdings fällt der Widerspruch zwischen dieser Idee und der extremen Ungleichheit in einer hierarchischen Gesellschaft meist nur dem nachträglichen Beobachter.

Deshalb hat der Begriff der Gleichheit schon lange seine Einfachheit und Eindeutigkeit verloren und ist in vielen vormodernen Gesellschaften gar nicht mehr wahrnehmbar. Es wird deutlich, dass ihn jede Bewusstseinsstufe hat für ihre Zwecke genutzt, um auf jeweils komplexerer Organisationsstufe brüchige Sicherheiten herzustellen.

Wir werden uns jetzt näher mit dem Spannungsverhältnis beschäftigen, das diesen Begriff am Übergang zwischen der materialistischen (vierten) und der personalistischen (fünften) Stufe prägt, da sich hier viele Elemente der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion zuordnen lassen.

Das Gleichheitsprinzip im Kapitalismus


Der Kapitalismus (= das Wirtschaftssystem, das der vierten Bewusstseinssufe entspricht) verwendet das Prinzip der Gleichheit, das von einem archaischen Grundgefühl der Menschen getragen wird, zur Durchsetzung seiner Ziele. Alle Mitglieder der Gesellschaft werden in ihrer Leistungsfähigkeit gleichgesetzt - und gleichermaßen ausgebeutet. Wer schneller schlapp macht, hat eben draufgezahlt, wer länger durchhält, wird mehr belohnt. Dieses Prinzip wird verinnerlicht, und wer nicht mitkann, wird mit einem sozialen schlechten Gewissen behaftet. Solche Personen sollten sich tunlichst schämen und vor der Öffentlichkeit verstecken. Sie gehören nicht mehr zu einer Gesellschaft von Leistungsträgern, in der das Ausmaß an Zugehörigkeit vom Ausmaß an Leistung abhängt, das jemand beisteuert. Das kann dann schnell bewirken, dass die stigmatisierten Leistungsversager an Depressionen oder anderen psychosomatischen Leiden erkranken, was dann ihre Leistungsfähigkeit und -motivation weiter schwächt.

Der Sozialstaat wurde eingeführt, um die zerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus nicht nur auf einzelne, sondern auch auf den Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer abzumildern. Deshalb wurden Elemente der personalistischen Bewusstseinsstufe in die politische Willensbildung inkludiert. Es wurden Regeln eingeführt, die jedem Mitglied der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben garantieren sollten (z.B. durch Krankengelder, Mindestsicherung, Altersvorsorge usw.). Finanziert wird dieses System durch die Umverteilung von Einkommen mittels Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.

Die staatliche Sozialpolitik geht dabei von einem differenzierten Menschenbild aus, das jedem Menschen ein Leistungsmotiv zuschreibt, aber Unterschiede in der Leistungsfähigkeit anerkennt, seien diese durch unterschiedliche Konstitution, Schicksalsschläge oder ungünstige Lebensbedingungen bedingt. Es greift insoferne tribale Inhalte auf, sodass es nicht akzeptiert werden kann, dass einzelne Menschen oder Gruppen unter die Räder kommen und vor die Hunde gehen. Ist z.B. eine bestimmte Region massiv von Unwettern betroffen, werden die Menschen nicht einfach sich selbst überlassen, sondern die Gemeinschaft greift helfend ein. Wenn jemand aufgrund einer schweren Erkrankung aus dem Arbeitsprozess ausscheiden muss, erhält er entsprechende Unterstützungen.

Die Faulheit und die Neidgesellschaft


"Trittbrettfahrer" oder "Schmarotzer" des Sozialsystems werden in Kauf genommen, also Menschen, die ihre Leistungsfähigkeit dafür einsetzen, Lücken im Kontrollsystem zu finden, das ihnen ein angenehmes Leben möglich macht, ohne dass sie sich dafür anstrengen müssen. Das System muss beständig danach trachten, einerseits das Netz möglichst dicht zu halten, dass also keine benachteiligte Gruppe durchfällt und dass andererseits die Kontrolle gegen Missbrauch und Betrug effektiv unterbunden werden kann.

Diese sogenannten Leistungsverweigerer sind allerdings keine geborene Faulpelze, sondern wurden durch die Sozialisation dazu "gemacht". Fehlende Anerkennung von früh an, fehlende Förderung weiterhin, fehlende Erfolgserlebnisse und Bestätigungen - mit einer solchen Geschichte ist es schwer, mit Engagement eine eigene Karriere aufzubauen. Misserfolge und Missgeschick können dann dazu führen, dass das geregelte Mittun in der Leistungsgesellschaft nicht mehr klappt.

Die Oszillation zwischen dem Ausbau des Sozialstaates und dem Ausbau der Kontrolle ist auch deshalb wichtig, weil unsere Gesellschaft auch eine Neidgesellschaft ist. Der soziale Neid ist einerseits ein Korrekturmechanismus des fortwährend angestrebten Ausgleichs zwischen dem basalen Gleichheitsanspruch und dessen Individualisierung. Andererseits ist er getragen von den Ängsten der emanzipatorischen Stufe der Bewusstseinsevolution, insbesondere dem Konkurrenzgedanken, der besagt, dass jeder im Prinzip allein für sein Überleben zuständig ist und dafür sorgen muss, und dass folglich der Vorteil des anderen den eigenen Nachteil bewirken kann.

Diese Wildwest-Einstellung, die wir ebenfalls in tieferen Schichten unserer Persönlichkeit in uns tragen, tut sich schwer mit den Komplexitäten des Sozialsystems. Wer sich selber zu den Leistungsträgern, zu den „Anständigen“ und „Fließigen“ zählt, hat sich Argusaugen angewohnt, mit denen die anderen überwacht werden. Gibt es welche, die weniger tun und mehr kriegen? Solche Fälle müssen aufgedeckt und ausgeschaltet werden. Das tribal geprägte Gleichheitsmotiv ist unüberhörbar, es wird allerdings nur selektiv, also wenn es einem selber nutzen könnte, angewendet. Es wirkt nur im Blick nach oben und verhält sich in der anderen Richtung blind: Diejenigen, die selber mehr tun als man selber, aber weniger kriegen, werden ignoriert oder abgewertet ("Wenn jemand so blöd ist", "Jeder kriegt, was er verdient" usw.).

So wirkt also das emanzipative Erbe im Kapitalismus in die Richtung einer selektiven Entsolidarisierung: ausgegrenzt werden sollen jene, die die eigene Stellung in der Gesellschaft bedrohen könnten. Das Neidmotiv hilft bei der Steuerung.

Einerseits hilft diese Einstellung bei der permanenten Verbesserung des sozialen Ausgleichs, weil sie auf mögliches Ungleichgewicht hinweist, andererseits nagt sie am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn wenn die Unterschiede zu groß und zu offensichtlich werden, entsteht sowohl oben wie unten die Tendenz, sich der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Statt dessen entstehen die Netze der Korruption und die Gewohnheiten der Steuerhinterziehung und -verweigerung.

Gleichheit in systemischer Sicht


Um den Gleichheitsbegriff sozial abzufedern und die damit verbundenen Spannungen und Ängste abzubauen, bedarf es systemischer Elemente und Denkweisen. Zum Beispiel tritt auf dieser Ebene die Idee auf, dass es zum Nutzen aller sein kann, wenn die individuelle Schwäche gestützt und ausgeglichen wird. Die Begründung dafür findet sich nicht nur auf der ökonomischen Schiene (auch Arme sollen Mitglieder in der Konsumgesellschaft bleiben), nicht nur im emotionellen Bereich (mehr soziale Absicherung bewirkt mehr soziale Zufriedenheit), sondern auch im Sinn einer Diversität, die jedem Mitglied der Gesellschaft einen Wert zubilligt, gleich in welcher Form der Beitrag zum Ganzen besteht. Für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft sollte es keine prinzipielle Rolle spielen, ob dieser Beitrag durch Leistungen erbracht wird, die einen Mehrwert erwirtschaften (bezahlte Arbeit) oder durch Tätigkeiten, die keinen sichtbaren Beitrag zur Steigerung des Sozialprodukts bringen, aber in anderer Weise Wirkung entfalten: Wenn z.B. jemand, der aus irgendwelchen Gründen aus dem Bereich der Arbeitsfähigkeit herausgefallen ist, ein hilfsbereiter und angenehmer Nachbar ist.

Je mehr die Grundtoleranz in der ganzen Gesellschaft wächst, desto mehr sollte die Bereitschaft bei jedem einzelnen Mitglied steigen, einen eigenen Beitrag zum Ganzen beizusteuern. Ein hohes Maß an dieser Toleranz verringert den Druck auf die Menschen, arbeiten und leisten zu müssen, um dazuzugehören. Ohne Druck geht es und fällt es prinzipiell leichter: Ohne Müssen arbeiten und leisten wir mehr und Besseres.

Auf diesem Weg könnte eine systemisch geprägte Gesellschaft die Motive des tribalen Gleichheitsbegriffes auf einem hohen Organisationsniveau verwirklichen und damit ein hohes Maß an sozialer Sicherheit sowohl mit einer Entlastung von Stress für alle und einer Stärkung der Leistungsmotivation verbinden.

Dienstag, 5. August 2014

Alkoholmissbrauch und die Folgen

Die Studie, die die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch in Familien auf die Kinder nachgewiesen hat, wurde in einem früheren Blog vorgestellt. 

Kinder aus Familien, bei denen der Alkoholkonsum eine große Rolle spielt, erleben von früh an, wie das Trinken von den Erwachsenen zur Stressentlastung eingesetzt wird. Selber haben sie keine Chance, den Stressoren in ihrer Umgebung zu entkommen, die durch den Alkoholmissbrauch der Eltern ihr Leben von Anfang an belasten. So müssen sie von früh an Stress bewältigen, und übernehmen dann, sobald es geht, den Akohol als Mittel dafür, so wie es ihnen in der Kindheit vorgelebt wurde. 

Der Teufelskreis ist hiemit in Gang gesetzt, in dem die Menschen vom Alkohol sukzessive in Besitz genommen werden und ihre Freiheit und schließlich ihre Würde verlieren. Die innere Anspannung braucht die Droge zur Entlastung, das Trinken produziert über kurz oder lang Probleme, die neue Belastungen nach sich ziehen, woraus wieder der Drang zum Alkoholkonsum entsteht.
 

Die fortschreitende Selbstzerstörung, zu der diese Prozesse führen, werden indirekt von einem Klima der gesellschaftlichen Duldung des Alkoholkonsums unterstützt. Die schrankenlose Zugänglichkeit der Droge, ihre Einbindung in viele Rituale, also die Alkoholkultur, die in unseren Ländern tief im Brauchtum verwurzelt ist, bieten die Rahmenbedingungen für diese dysfunktionale Form der Stressbewältigung und Kompensation von Traumatisierungen und emotionalen Vernachlässigungen.
 

Die Botschaft lautet einerseits: Alkohol ist harmlos, wir alle trinken ihn, und sobald du zu den Großen gehörst, darfst du auch davon trinken. Du darfst auch mal "über die Stränge schlagen" und dich betrinken. Das Alkoholtrinken bestätigt deine Zugehörigkeit, und auch mit dem Vollrausch kannst du beweisen, dass du einer von uns bist. Andererseits: Sobald du eine Grenze überschritten hast, wirst du ausgegrenzt, verachtet und pathologisiert.

Diese Doppelgesichtigkeit der Alkoholkultur bildet den gesellschaftlichen Konflikt ab, der sich darin zeigt, dass die Stressbewältigung gesellschaftlich normiert wird mit Mitteln, die zusätzliche Probleme erzeugen, für die wieder die gesundheitssschädigende Substanz als Bewältigungsstrategie angeboten wird. Wenn jedoch das System zusammenbricht, wenn also die individuelle Bewältigungsstrategie scheitert, lässt zugleich das soziale Netz das Individuum fallen. Damit kann die Alkoholkultur unbeschadet bestehen bleiben, denn es hat ja nur ein Individuum versagt. Der Alkoholiker wird nun Institutionen am Rand der Gesellschaft übergeben, die ihm im besten Fall helfen, die Traumatisierungen der eigenen Lebensgeschichte aufzuarbeiten, während das Trinken im Zentrum fröhlich weitergeht - fröhlich auch deshalb, weil es jemand anderen erwischt hat.
 

In der Ablehnung der Gesellschaft, Verantwortung für das Los derer zu übernehmen, die an den angebotenen Bewältigungsstrategien scheitern, spiegelt sich die Verantwortungsabgabe, die Kinder erleben, wenn die Eltern nicht wahrnehmen können, was sie ihnen antun bzw. schuldig bleiben. Die Sinnes- und Bewusstseinstrübungen, die für Alkoholiker und andere Drogenabhängige symptomatisch sind, bewirken das Ausblenden des Leides, das anderen zugefügt wird, weil das eigene Leid so dominant erlebt wird.
 

Diese typische Verantwortungsverschiebung der Eltern auf die Kinder, wie sie in Alkoholikerfamilien auftritt, ist als Beispiel ein Ausschnitt aus den verschiedenen Formen von Blindheit, die für die meisten Eltern kennzeichnend ist. Blind sind sie dort, wo ihre eigenen Eltern blind waren, das ist das Netz der unbewussten Weitergabe von Verletzungen und Traumatisierungen. Dieses Netz speist sich in die Gesellschaft und ihre Normen und Rituale ein, und von dort wird wieder die Weitergabe der schädigenden Muster über die Generationen in Gang gehalten.
 

Deshalb können Eltern das nicht, was die Gesellschaft nicht kann. Auch aus diesem Grund hat die Zuteilung von Schuld an einzelne Individuen oder an "die Eltern" als Gesamtheit in solchen Fragen wenig Sinn.
 

Das heißt aber nicht, dass man dann sowieso nichts machen kann. Im Gegenteil: Ändern wird sich dort etwas, wo die Zusammenhänge im Ganzen ins Bewusstsein gerückt und schonungslos zur Kenntnis genommen werden. Jeder Mensch kann an dieser Einsicht ermessen, worin seine eigene Verantwortung besteht. Im nächsten Schritt geht es darum, diese Verantwortung zu übernehmen, so gut es geht. Diese Verantwortung beginnt bei jeder Person selbst, hört aber dort nicht auf. Sie erstreckt sich auch darauf, andere an ihre Verantwortung zu erinnern und zu ermutigen. So kann auch dieser Teufelskreis durchbrochen werden.
 

Verantwortung ist ein Schlüssel, den jeder nur selbst nutzen kann, den wir aber leicht vergessen, sodass wir andere brauchen, die uns aufmerksam machen (was nur funktioniert, wenn sie das liebevoll machen!).

Montag, 4. August 2014

Inneres Wachsen und Beziehungen

Inneres Wachsen erleichtert das Leben, indem sich der Problemdruck und die Stressempfindlichkeit verringert. Unterwegs auf diesem Pfad zu sein, bedeutet natürlich, noch nicht am Ziel zu sein. Stolpersteine können sich in den Weg legen, neue innere Fragen auftun und Verunsicherungen bewirken. Das Aufarbeiten der inneren Themen führt insbesondere im Beziehungsbereich zu interessanten Einsichten. 

Jede Beziehung beruht auf "Abmachungen", auf unbewusst getroffenen Vereinbarungen, die das Beziehungsleben regulieren. Wenn sich eine der Beteiligten an diesen Übereinkommen in ihren Einstellungen verändert, verändert sich das Grundgefüge der Beziehung. Es muss neu geregelt werden, was deshalb komplex ist, weil es um die unbewussten Dynamiken geht. Hier kommen ebenso unbewusste Kräfte ins Spiel, die neue Vereinbarungen erzeugen wollen. Sie bedienen sich u.a. der Methode des Vergleichens, die geeignet erscheint, unter Berücksichtigung der neuen Kräfteverhältnisse ein Gleichgewicht herzustellen. 

Allerdings kann die Einstellung entstehen: "Ich bin besser (bewusster, empfindsamer, menschlicher, ...) als du." Diese Einstellung erzeugt ein Gefälle in der Beziehung, die Spannungen und Streit hervorrufen kann. Inneres Wachstum ist sowohl vom Tempo als auch von der Entwicklungsrichtung eine sehr individuelle Angelegenheit. Wie schon festgestellt, gibt es keine vergleichbaren inneren Entwicklungsprozesse, sondern äußerst individuelle Abläufe. Dennoch wirken bei den meisten, die auf dieser Heerstraße unterwegs sind, die unbewussten Mechanismen des Vergleichens weiter, und oft werden sie sogar noch zusätzlich angeheizt. 

Ein Beispiel, wie das Vergleichen Schwierigkeiten in den aktuellen Beziehungen bewirken kann: Das neu erlernte Vokabular der Selbsterforschung wird als Waffe im Beziehungskampf eingesetzt. Die Einsicht in das Gestrüpp von Dysfunktionalitäten und Neurosen, das der Blick ins eigene Innere offenbarte, offenbart nun auch die "Gestörtheit" des Beziehungspartners. Daraus erklärt sich dessen Unfähigkeit im Verstehen und Harmonieren. "Schon wieder projizierst du deine Mutter auf mich", "das machst du nur, weil du die Verstrickung mit deinem Vater noch immer nicht gelöst hast", in dieser Art wird das partnerschaftliche Streitgespräch psychologisch aufgeladen. Die "Muster" der anderen Person werden bloßgestellt, und es ist diese, die sich in ihrer Eingeschränktheit dringend und schleunigst verändern muss. Denn sie hat ja wohl das eigene Unglück verschuldet und durch ihre Unbewusstheiten die eigenen Leidenszustände verursacht. 

Der Beziehungspartner wird im Extremfall dämonisiert und pathologisiert, um sich selber als "heiler", als "normaler" und als weniger gestört darzustellen. Damit will man sich selber sicherer fühlen. Wiederum ist diese Sicherheit trügerisch, weil sie am Fundament der Beziehung rüttelt. Nicht selten kommt es gerade in der zweiten Phase des inneren Wachsens zu Beziehungstrennungen, häufig aus dem Eindruck heraus, dass sich die andere Person nicht oder nur zu wenig, bzw. in die falsche Richtung bewegt, sodass kein Zusammenklang mehr möglich erscheint. Die Schere klafft immer weiter auseinander: Auf der einen Seite ein wachstumsorientiertes Ich, auf der anderen das beharrende Du. 

 Je mehr und öfter man sich "besser" fühlt im Vergleich zum Partner, desto wahrscheinlicher wendet sich der Blick auf Ausweichmöglichkeiten. Die Qualitäten, die am Partner vermisst werden, sind ja keine utopischen Wunschträume, vielmehr gibt es Menschen, die gerade über diese Qualitäten verfügen und denen zuzutrauen ist, dass sie sie auch in eine Beziehung einbringen können. Man trifft solche Menschen in Selbsterfahrungsgruppen und anderen Veranstaltungen der Szene. Warum also in der angestammten Beziehung bleiben, wo andere mehr und Besseres versprechen? 

Erfahrene Therapeuten und Lehrer legen nahe, gerade in den turbulenten Phasen des inneren Wachsens keine weitreichenden äußeren Entscheidungen zu treffen, also keine neuen (oder zusätzlichen) Beziehungen einzugehen, keine lange bestehenden Bindungen zu beenden usw. Sie wissen, dass die im Inneren aufbrechenden Konflikte gerne nach außen verlagert werden, um hier eine scheinbare Entlastung vom Problemdruck zu erreichen. Werden solche gravierenden Lebensveränderungen vorgenommen, verschärfen sie nur die innere Belastung und verkomplizieren den inneren Weg. Manchmal kann die Empfehlung hilfreich sein, eine "Beziehungspause" einzuführen, wenn die Beziehungssituation aktuell auswegslos erscheint. Denn in der Distanz kann sich leichter aussortieren, was in die Beziehung und was zur eigenen inneren Entwicklungsarbeit gehört.

Unterschiede im Wachsen 


Tatsächlich ist es schwer, das Ungleichgewicht auszuhalten, das entsteht, wenn nur ein Partner am inneren Wachstum interessiert ist. Die Sichtweisen auf das Leben differenzieren und verfeinern sich, und stoßen auf Unverständnis, wenn sie vom Beziehungspartner nicht geteilt werden. Ebenso kommen im Zug der Innenerforschung Wünsche und Bedürfnisse an die Oberfläche, die lange Zeit zurückgedrängt oder vergessen waren, und die der Beziehungspartner, der auf das bisherige Niveau des Austausches eingestellt war, nicht gleich automatisch verstehen und erfüllen kann. 

Durch das Entdecken der eigenen Individualität werden die eigenen Konturen schärfer und prägnanter wahrgenommen und akzentuiert. Die Unterschiede zeichnen sich deutlicher ab, während häufig die Gemeinsamkeiten verblassen. Manchmal fragen dann Menschen, ob sie in einer Beziehung bleiben sollen, die immer mehr auseinander zu driften erscheint. Sie fühlen sich ausgebeutet und missverstanden, emotional unterernährt oder fortwährend abgewertet. 

Die Liebe im Relativen ist immer störanfällig, weil sie an Bedingungen hängt. Die Suche nach mehr Sichterheit in einer Beziehung ist eigentlich eine Suche nach der Liebe, die aber nur in der Bedingungslosigkeit besteht und wirkt. In den ersten Phasen des inneren Wachsens werden nur die Bedingungen verfeinert und differenziert, und es bedarf weiterer innerer Klärung, bis die Seele so weit ist, Bedingung nach Bedingung fallen zu lassen. Dann breitet sich die bedingungslose Liebe von selber aus.

Meins ist besser als deins 


Doch auch dann, wenn beide Partner an der Innenentwicklung interessiert sind, kann es zu Spannungen kommen. Besuchen die beiden die gleiche Schule oder arbeiten sie mit der gleichen Methode, kann es offen oder insgeheim zur Konkurrenz kommen, wer sich schneller und intensiver weiterbewegt. Sind die Methoden und Zugänge unterschiedlich, wird leicht ein Streit darüber ausbrechen, welche Richtung die bessere und effektivere ist. Schwachstellen der anderen Person, wie sie im Alltag auftreten, können dann als Mängel in der entsprechenden Wachstumsdisziplin dargestellt werden, um die eigene Methode und damit sich selber als besser herauszustellen.

Über das Vergleichen hinauswachsen 


Jeder tiefgehende und weitreichende innere Weg führt irgendwann zur Erkenntnis, dass Vergleiche zwischen Menschen nicht weiterhelfen. Denn sie beinhalten Bewertungen und konstruieren Konzepte, die bei der Einordnung von Menschen helfen sollen, aber gleichzeitig Gräben zwischen ihnen ausheben. Irgendwann leuchtet ein, dass solche Kategorisierungen Unrecht und Unfug sind. Sie werden der Individualität und Besonderheit jedes Menschen nicht gerecht, und sie beschränken die eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und damit die innere Freiheit des Wachsens. 

Irgendwann kommt die Erfahrung dazu, dass je mehr Druck auf den Partner ausgeübt wird, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen, umso mehr Gegendruck erzeugt wird, gerade das nicht zu tun. Die Einsicht, durch die eigenen Bemühungen das zu erschweren, was sie bewirken sollen, ist ernüchternd. Dann kann die Hilflosigkeit, die angesichts der erfolglosen Bestrebungen entstanden ist, dem Verständnis weichen, dass der Impuls zur Veränderung nur dann wirksam werden kann, wenn er von innen kommt. So fällt es leichter, zu akzeptieren statt zu agieren. Die Erleichterung kann sich dann entspannend auf die Beziehungsgestaltung auswirken - und, wunderbarerweise, nicht so selten dazu führen, dass sich der Partner doch zu bewegen anfängt. 

Solche Erkenntnisse sind ein klares Zeichen für das Eintreten in die dritte, systemische Phase der inneren Entwicklung. Die systemische Denkweise belehrt darüber, dass sich die eigenen Beziehungsthemen nicht durch einen Partnerwechsel verändern. Sie sind das Gepäck, das wir aus den frühen Erlebnissen mit Bezugspersonen aufgeladen haben. Darin findet sich das Grundrepertoire dessen, was wir in Beziehungen einbringen können, und darauf greifen wir immer wieder zurück, vor allem, wenn wir in Stress und Anspannung geraten. 

Also steht neben der Option, den Partner zu wechseln, "weil es nicht mehr passt", auch die Option, die Verantwortung für die eigenen Anteile an den Themen zu übernehmen und für sich selbst und auch mit dem Partner zusammen Licht auf diese Themen zu werfen. In der Paartherapie, in Beziehungsgruppen oder anderen paarorientierten Veranstaltungen und Kursen treffen sich dann die wachstumsorientierten Beziehungspartner, um die Themen, die sich zwischen ihnen immer wieder auftun, zu bearbeiten. 

Das funktioniert nur dann, wenn es ihnen gelingt, die systemische Sichtweise einzunehmen. Sie führt aus den Verirrungen des Vergleichens heraus, indem sie hilft, "in die Mokkasins des Feindes" zu schlüpfen. Die Perspektive des anderen einzunehmen öffnet die Augen für die eigenen Schwächen, die sich hinter dem Sich-Besser-als-der-andere-Fühlen-Müssen verbergen. Es wird deutlich, dass in den Themen, die am Beziehungspartner stören, eigene vergessene Verletzungen festgemacht sind, die der Partner ohne Absicht aktiviert. Hier kann gelernt werden, dem Partner für das Bewusstmachen eigener Themen zu danken, statt ihn dafür zu bekämpfen oder ihn zur eigenen Sichtweise zu erziehen. 

Doch erst in der vierten Phase des inneren Wachstums wird die Kraft nutzbar, die darin besteht, die Partner in den Beziehungen in ihrer Werthaftigkeit zu schätzen, gleich ob sie sich einem Weg des inneren Wachsens verschrieben haben oder nicht. Für die bedingungslose Liebe gibt es keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr, und jedes Bedürfnis, besser oder weiter zu sein als jemand anderer, ist verschwunden.

Mittwoch, 23. Juli 2014

Wachstum und Lernbeziehung



In der Entfaltung des inneren Wachsens verändert sich unsere Beziehungskultur - in uns und mit unseren Mitmenschen. Im gleichen Maß, wie wir lernen mit uns selber besser umzugehen, lernen wir, mit anderen Menschen besser umzugehen. Der Weg zu einer hohen Qualität mitmenschlicher Beziehungen, wie wir sie uns alle wünschen, ist allerdings lang, mit vielen Stolpersteinen gepflastert. Er hat damit zu tun, wie wir unsere Fähigkeit, die Toleranzspannung zwischen Gleichheit und Individualität auszuhalten und auszuweiten. Dieser Prozess der Weitung unserer Liebesfähigkeit führt uns "notwendigerweise" an Engpässe und zu Problemzonen, in denen wir unbewusst die Kraft der wertenden Unterscheidung mobilisieren, um uns vor den Risken der Veränderungen zu schützen. Das wertende Unterscheiden soll also eine innere Not wenden.

Eine der Quellen von solchen Themen liegt in der neuen Erfahrung einer Lernbeziehung, in die wir mit einem Therapeuten oder eine Lehrerin/Meisterin eintreten. Diese Personen bieten eine Qualität des Verstehens, der Präsenz, des Ernstnehmens und der liebevollen Zuwendung, die anfangs als etwas ganz außerordentlich Besonderes und Wertvolles begegnet. Denn es gibt in dieser Ausschließlichkeit dazu kein Vorbild, weder im Erwachsenenleben noch in der eigenen Kindheit. Da begegnet man nun auf einmal der idealen Mutter und dem idealen Vater, vereinigt in einer Person, und im Kontrast dazu verblassen alle anderen realen Beziehungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit. 

Alle Mängel der aktuellen Kommunikationspartner werden vor dieser Folie überdeutlich negativ karikiert. Das führt zu unvermeidbaren Konflikten, weil bewusst oder unbewusst auch von den ungeübten und weniger bewussten Mitmenschen eine Güte an Klarheit und Herzenswärme eingefordert wird, zu der diese aufgrund ihrer eigenen frühen Beziehungsgeschichten nicht in der Lage sein können. Schließlich haben ja auch die vorbildhaften Meister der Kommunikation jahrelang an sich gearbeitet, um diese Qualitäten zu erwerben und zu entwickeln. Doch einmal in ihrer Wohltat erfahren, möchte man sie immer haben und versteht nicht, wenn sie einem von den Menschen, von denen man annimmt, dass sie einen liebhaben, "vorenthalten" wird. Diese Frustration schlägt schnell in Aggression um, die sich klarerweise aus den Wurzeln ähnlicher Erfahrungen aus den primären Beziehungen speist - kein gedeihlicher Boden für eine gelingende Kommunikation. 

In der Not geht die Fantasie zur Meisterin, die ganz anders und viel besser mit solchen Situationen umgehen würde. Wie liebevoll würde sie reagieren, wie offen und verständnisvoll. Die Fantasien verdoppeln die Frustration, weil die Meisterin, so wertvoll ihre Präsenz erfahren wird, nicht die ganze Zeit da ist und ihre außergewöhnliche Zuwendung nur in einer zeitlich begrenzten Form geben kann, während die Person, die die ganze Zeit da ist, ihr nicht nur nicht das Wasser reichen kann, sondern vielmehr noch ein negatives Abbild dazustellen scheint.

Vor allem in den Anfangszeiten einer therapeutischen und spirituellen Lernbeziehung entwickelt sich folglich eine imaginäre Dreiecksbeziehung. Der Therapeut oder die Meisterin ist fortwährend vorhanden, und die alltäglichen Beziehungserfahrungen werden andauernd bewusst und noch mehr unbewusst mit den Beziehungsqualitäten, die die bewunderte und verehrte Person aufweist, verglichen. Aufgrund der Herausgehobenheit der therapeutischen Kommunikation aus dem Alltag ist der Vergleich natürlich unfair. Mit einem spirituellen Lehrer muss keine Einigung über die Haushaltsverantwortlichkeiten oder andere Notwendigkeiten des Alltags getroffen werden. Er kann leicht der ideale Beziehungspartner für ein paar Minuten oder Stunden sein, wenn es um nichts anderes geht als darum, mit den eigenen Problemen und Schwierigkeiten verstanden zu werden.

Dennoch übertragen wir die Erfahrung, so besonders gut oder tief verstanden worden zu sein, auf die Menschen um uns herum. Der Wunsch nach Begegnung in einer solchen Atmosphäre ist ein stark in uns verwurzeltes Bedürfnis, das uns vom Anfang unseres Lebens an begleitet, dass klar ist, dass wir uns das wünschen müssen. Wir haben im Lauf unseres Aufwachsens gelernt, darauf zu verzichten, weil sie so spärlich vorhanden war. Irgendwann haben wir vergessen, wie bitter wir sie  notwendig haben, um uns geliebt zu fühlen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns dieses Gesehenwerden wieder zuteil wurde, haben wir angenommen, dass es eine derartige Qualität der Begegnung für uns ohnehin nie geben wird.

Nun, da sich gezeigt hat, dass sie uns doch geschenkt wird, erwachen unsere Wünsche und Sehnsüchte wieder, und wir erkennen, dass es zu unserem Geburtsrecht gehört, in unserem Sein und Wesen vorbehaltlos und bedingungslos angenommen und wertgeschätzt zu sein. Dieses Recht fordern wir damit logischerweise von unseren Mitmenschen ein. Sonst ist ja niemand da, der diesen Rechtsanspruch einlösen könnte. Je näher uns jemand steht, desto mehr sollte er zur Stillung dieses Bedürfnisses beitragen und desto mehr verletzt der Mangel daran. So wird die Erfahrung des Mangels proportional mit dem Grad an Vertrautheit aktiviert, was häufig dazu führt, dass die Konfliktintensität ebenso mit dem Grad an Nähe ansteigt. 

Der Ausweg aus Idealisierung und Abwertung


Es braucht weitere Schritte in der inneren Entwicklung, um sowohl die Idealisierung, die der Lehrperson gegenüber aufgebaut wird, wie auch die Irrealität der Forderungen an unsere Mitmenschen, insbesondere der uns Nahestehenden, zu durchschauen und loszulassen. Nach dem Modell der Phasen des inneren Wachsens geschieht es bei der Einübung in die dritte, die systemische Phase, dass wir die Relativität unserer Erfahrungen annehmen lernen. Wir erkennen die Beschränktheit der therapeutischen Kommunikation und ihre Nichtvergleichbarkeit mit anderen Situationen des sozialen Austausches. Wir erkennen, dass die Menschen um uns herum die gleichen oder ähnliche Mangelerfahrungen und Sehnsüchte haben wie wir selber. So nehmen wir die Ansprüche zurück, die wir an sie richten und tun uns damit leichter, die Kirchen im Dorf zu lassen: Wir können aus der therapeutischen oder spirituellen Kommunikation lernen und aufnehmen, was sie uns bieten kann, und zugleich wertschätzen, was uns die anderen Kommunikations- und Begegnungserfahrungen unseres Lebens tagtäglich schenken oder auch zu lösen aufgeben. Wir müssen nicht mehr das eine mit dem anderen vergleichen, sondern lernen, mit den unterschiedlichen Herausforderungen unterschiedlich umzugehen. 

So können wir unsere Lebenspartner von den Forderungen entlasten, die eigentlich unseren Eltern und frühen Erziehungspersonen gelten. Wir richten den Blick darauf, was sie uns geben können und wie sie für uns dasein können, um dafür die gebührende Dankbarkeit zu entwickeln, statt die Beschränktheit und Bedingtheit dieses Gebens zu bemängeln. Wir erwarten nicht mehr von den Partnern unseres Alltagslebens, dass sie unsere frühkindlichen Defizite ausgleichen, noch dass sie zu Kopien von Meistern, Lehrern oder Therapeuten werden, die wir kennenlernen konnten. Vielmehr erkennen wir, dass wir ihnen für das, was sie sind und wie sie sind, - wie sie für sich sind, und auch, wie sie für uns sind -, Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen können.

Und so können wir anfangen, die Orientierung umzudrehen: Statt auf die Füllung unserer eigenen Mangelerfahrungen zu dringen, die emotionale und kommunikative Unterernährung unserer Mitlebenden als Aufgabe für unsere eigene Liebesfähigkeit zu sehen. Wir schauen mehr darauf, was wir geben können, auch aus dem heraus, was wir im Lauf unseres bewussten inneren Wachsens gelernt und entwickelt haben, und weniger darauf, wo wir am meisten für uns selber profitieren könnten. Schließlich erfahren wir, wie viel Erfüllung darin liegen kann, die Qualität des Ernstnehmens und Akzeptierens, die wir in speziellen Kommunikationssituationen erleben durften, anderen weiterzugeben. Auf diesem Weg wird diese Qualität mehr und mehr zum Standardrepertoire unseres Beziehungslebens.

Damit nähern wir uns der vierten Stufe der inneren Entwicklung an, die im Teilen der bedingungslosen Form der Liebe besteht. Wir sind dann nicht mehr von unserer Bedürftigkeit gelenkt, sondern fühlen uns mit der Fülle des Seins verbunden, das uns immer genau das gibt, was für uns gut ist und uns immer einen Weg zeigt, wie wir besser für die Menschen um uns herum dasein können.

Beziehungsfallen für die Lehrperson


Aus der Not von Missverständnissen und Konfliktsituationen in den Beziehungen des täglichen Lebens wird der idealisierten Lehrperson ein besonderes Beziehungsangebot unterbreitet. Wiederum ist es vermutlich zum größten Teil unbewusst. Es besteht darin, dieser Beziehung eine herausragende Wichtigkeit und Bedeutsamkeit vor allen anderen Beziehungen einzuräumen. 

Je nachdem, wie gründlich sich ein Therapeut oder eine spirituelle Lehrerin mit den entsprechenden Ego-Anteilen auseinandergesetzt hat, die auf solche Beziehungsangebote reagieren, bemisst sich der Grad an Verantwortung, wie damit umgegangen werden kann. Im Fall einer unbewussten Schwäche im Bereich des eigenen Narzissmus wird das Angebot missbräuchlich aufgenommen: Der Lehrer nutzt die Bewunderung, die ihm entgegengebracht wird, zur Füllung des eigenen Bedürfnisses nach Anerkennung aus. Entsprechend wird er die Beziehung zur Schülerin gestalten, sodass in ihr das Gefühl verstärkt wird, nur in dieser Beziehung ihr Heil finden zu können, statt ihre Fähigkeit zu stärken, alle ihre Beziehungen im Leben besser gestalten zu können und sich damit gut aus der Idealisierungsbeziehung zur Lehrperson lösen zu können.

Die Reife der Persönlichkeit zeigt sich daran, dass die Rahmenbedingungen der Lehrbeziehung klar unterschieden werden können von den Rahmenbedingungen der anderen Beziehungen, in denen sich die hilfe- und ratsuchende Person in ihrem Leben befindet. Ein weiterer Gradmesser dieser Reife liegt darin, die Stärkung der Autonomie und universellen Liebesfähigkeit in der Schülerin als oberste Richtschnur ihrer Förderung und Unterstützung zu nehmen. Es liegt an der Lehrperson, sich selber in dieser Rolle strittweise zurückzunehmen und überflüssig zu machen. Nur wenn sie die dafür notwendige Kraft und Bewusstheit hat, ist sie wirklich geeignet, das innere Wachstum von anderen Menschen zu begleiten und zur Entfaltung zu bringen. Wenn sie über diese Qualitäten verfügt, sorgt sie auch dafür, dass sich die zu Beginn des Beitrags geschilderten Projektionsphänomene nur im möglichst geringen Grad ausbilden. Je klarer also ein Therapeut oder spiritueller Lehrer die Besonderheit des individuellen Weges einer Schülerin erkennt auf und alles in seinen Kräften Stehende dafür einsetzt, damit dieser Weg zur Auflösung aller Abhängigkeiten von ihm selbst und damit zur Auflösung der Lehrbeziehung als solcher führt, desto leichter wird es der Schülerin fallen, sich in ihrem eigenen Beziehungsnetz harmonisch entwickeln zu können. 

Donnerstag, 17. Juli 2014

Die Liebe und ihre Bedingungen - Vier Phasen

Liebe ist möglicherweise der komplexeste Begriff, über den wir verfügen, und der einfachste. Deshalb ist es schwierig, darüber zu schreiben, und sollte zugleich einfach sein. Unsere Fragen nach dem, was Liebe ist, beginnen immer in der Ära des Relativen, im Bereich der Gefühle, Konzepte und Ideen, die die Menschen in Bezug auf ihre Erfahrungen entwickeln.

Im Relativen ist die Liebe immer an Bedingungen geknüpft: Ich liebe dich, wenn du so oder so bist; ich liebe dich, wenn ich so oder so bin. Also: Wenn du mir Rosen schenkst, liebe ich dich. Wenn ich mich geliebt fühle, liebe ich dich auch, usw. Äußere oder innere Umstände bestimmen die Fähigkeit zu lieben. Liebe ist das, was im Rahmen der eigenen Konditionierungen möglich ist. Sie bricht ab, wenn die Bedingungen zu schwach werden und die Angst überhand nimmt.

Liebe ist lernfähig. Oder: Unser Umgang mit dieser Kraft hat ein Wachstums- und Entwicklungspotenzial. Wenn wir sagen, wir möchten lernen zu lieben, dann heißt das, dass wir mehr von diesem Potenzial entdecken und freilegen wollen. Es hat vor allem damit zu tun, unsere Ängste vor der Liebe Schritt für Schritt abzulegen. Schritt für Schritt lösen wir uns dabei von den Bedingungen, die sich im Lauf unseres Lebens an das, was wir als Liebe erfahren haben, angeheftet haben. Schritt für Schritt kommen wir uns selbst näher, und damit unserer Liebesfähigkeit.

Liebe will immer aus den Engen des Relativen herausführen. Sie sucht immer den Weg zur absoluten Wahrheit. Aber sie braucht andere Hilfen, um dorthin zu finden. Eine der Hilfen liegt in Wanderkarten, die die Stationen des Weges hervorstreichen. Hier können wir das Modell der Entwicklungsphasen im inneren Wachstum nutzen, um den Konditionen und Konditionierungen unserer Liebe besser auf die Spur zu kommen.

1. Phase:


Herkömmliche Konzepte der Liebe werden in Frage gestellt. Es gilt z.B. nicht mehr fraglos,  die eigenen Eltern zu lieben. Bei all den Verletzungen, die sie zugefügt haben - verdienen sie da überhaupt noch geliebt zu werden? Was war das für eine Liebe, die wir als Kinder den Eltern entgegengebracht haben? War das Naivität, gegründet auf Abhängigkeit, ein Gegengeschäft dafür, dass wir nicht alleine gelassen und dass wir grundversorgt werden? Götzenbilder und Illusionen werden vom Sockel gestürzt.

Dadurch wird bewusst, wie stark die eigene Liebesfähigkeit bisher von den Pfaden der Konditionierung geprägt und durchwirkt war. Die Enttäuschung darüber kann in den Zweifel münden, ob es überhaupt so etwas wie „echte" Liebe geben kann. Zum Beispiel kann jemand erkennen, dass die Liebe zu einem Beziehungspartner von der Sehnsucht geprägt war, endlich vom eigenen Vater geliebt zu werden. Oder dass die Anhänglichkeit an einen Partner nur von der Angst gesteuert wird, an den Verlust eines Zwillings erinnert zu werden, der in frühen Zeiten im Mutterleib abgegangen war. Liebe wurde offenbar mit Tauschgeschäften verwechselt.

Was bisher als Liebe verstanden worden war, wirkt jetzt schal und flach, weil es auf Illusionen und zurechtgebogenen Erfahrungen beruht. Deshalb werden die bestehenden Beziehungen in Frage gestellt und einer kritischen Überprüfung unterzogen, einschließlich der Beziehung zu sich selbst.

Häufig stellt uns diese Phase vor absurde Überlegungen wie eine Liebes-Bilanz. Wir stellen anhand einer Liebesbeziehung die Einnahmen den Ausgaben gegenüber, die Aktiva den Passiva. Wieviel habe ich getan und wieviel habe ich erlitten? Wieviel habe ich gegeben, wieviel dafür bekommen? Wir erstellen Berechnungspläne, wenn wir uns klar werden wollen, ob wir weiter in einer Beziehung bleiben wollen oder etwas Neues anfangen sollten. Wir wollen mit rationalen Überlegungen dem Phänomen der Liebe näherkommen, eine Verzweiflungstat. Denn die Liebe hat keine Affinität zu Verstandeskalkülen.

2. Phase:


Viele der Bedingungen, an die Liebe im bisherigen Leben geknüpft war, werden bewusst. Dazu müssen die eigenen Elternbeziehungen durchackert werden, denn sie enthalten die zahlreichen eingeprägten Bedingungen der Liebe. Schließlich waren unsere Eltern keine Heilige, sondern einfache Menschen mit den "normalen" Behinderungen der Liebesfähigkeit. Im Zug der Innenarbeit werden diese Programmierungen schrittweise aufgelöst. Zugleich werden subtilere Formen von Bedürfnissen aktiviert, die sich nach liebevoller Zuwendung sehnen, und deren Fehlen in den aktuellen Beziehungen umso schmerzhafter erlebt wird. So kann es gerade in dieser Phase zu vehementen Forderungen kommen: Endlich wollen wir das kriegen, was uns ein Leben lang vorenthalten wurde. Wir erkennen, was uns eigentlich zusteht, was unser Geburtsrecht ist, nämlich nicht mehr und nicht weniger als bedingungslos geliebt zu werden. Denn so sind wir selber in die Welt getreten: Mit dieser Offenheit, alles, was wir sind und haben, zu geben.

Doch nicht nur der Mangel und die Sehnsucht nach dem so lange Entbehrten plagt uns in dieser Phase. Momentweise wird die bedingungslose Liebe spürbar, als Idee und als Spüren im Erleben. Allerdings fehlt es noch an der Geschicklichkeit und dem Vertrauen, solche Erfahrungen in die festgefügten Kontexte der aktuellen Beziehungen zu übersetzen. Manchmal wird z.B. in Selbsterfahrungsgruppen eine Tiefe in der Begegnung mit fremden Menschen erlebt, die dann nur unbeholfen und unsicher in die mit Projektionen befrachteten Beziehungen zu den nahen und verwandten Menschen übertragen werden kann.

3. Phase:


Projektionen und Liebesbedingungen werden besser verstanden, und es wird leichter, ihre Wirkung auf einen selbst zu spüren. Wir erkennen, dass wir uns von uns selber abschneiden, wenn wir uns vor unseren Beziehungs- und Liebespartnern verschließen. Wir erkennen den Zusammenhang zwischen Selbstliebe und Liebe zzu anderen Menschen. Wir lernen, uns selber mehr und mehr anzunehmen und merken dabei, dass es uns leichter fällt, auch die anderen Menschen in ihren Schwächen und Gestörtheiten anzunehmen.

Der Unterschied zwischen bedingten Liebesformen und der unbedingten Liebe wird immer detaillierter erforscht. Verstanden wird auch der Unterschied zwischen dem, was in Bezug auf die Öffnung zur unbedingten Liebe gemacht werden kann, also der eigenen Anstrengung bedarf, und dem, was im Geschehen zugelassen werden kann.

Wechselseitige Abhängigkeiten werden bewusst. Das Eingeständnis, am Verlauf jedes kommunikativen Prozesses, an jedem bewussten und unbewussten Austausch mitzuwirken, .

Alle Konzepte von Liebe, die wir im Lauf unseres Lebens entwickelt haben, kommen auf den Prüfstein: "Liebe als immer eins sein", "Liebe als einander nähren", "Liebe als einander gehören", "Liebe als sexuelle Bestätigung", wie im Kollusionsmodell nach Jürg Willi. Die unbewusste Dynamik, die sich in jedem Konzept, in das die Liebe gepresst wird, verbirgt, wird freigelegt und, wenn es gelingt, aus zwanghaften Reaktionen in Spiele umgewandelt.

4. Phase:


Die unbedingte Liebe wird zum Normalfall. Störungen werden schnell wahrgenommen und können dann leicht behoben werden. Wir erleben es als Leiden an sich selbst, als selbstzugefügter Mangel, wenn wir erkennen, dass wir die Liebe in den Käfig von Bedingungen eingesperrt haben. Deshalb ist der Wunsch, wieder in den Zustand der Liebe zurückzukommen, so stark, dass wir alles unternehmen, um mit unseren Mitmenschen und mit uns selber wieder ins Reine zu kommen.

Die Liebe zeigt sich in ihrer Einfachheit: Wo die Angst Platz macht, ist Liebe, sie wartet nur darauf, dass sie wirken kann. Die Gewebe der romantischen Liebe mit ihren Verwirrungen und Verirrungen machen einer zauberhaften, in jedem Moment neu gewobenen Klarheit Platz, die Wirbel an Gefühlen ebben ab, weil deutlich wird, dass Liebe ein Seinszustand und kein bestimmtes Gefühlserleben ist. Dieser Seinszustand hat mit der Auflösung von inneren Grenzen zu tun, mit einer Öffnung für die Verbindung mit dem Ganzen und beruht auf dieser überindividuellen spirituellen Ebene, die nicht von Stimmungen und Gefühlslagen abhängig ist, sondern einfach da ist oder nicht.

Es braucht Zeit, sich an diese Einfachheit zu gewöhnen. Denn unsere Kultur ist voll von Verzerrungen des Liebesbegriffes, die uns fortwährend den Blick verstellen. Eine neue Kultur der einfachen Liebe hat wenig Publizität, aber umso mehr innere Resonanz und subversive Wirkung.

Donnerstag, 10. Juli 2014

Aus Unterschieden lernen

Das Wahrnehmen von Unterschieden zwischen den Menschen, das mit einer Wertung verbunden ist, führt zu inneren Problemen. Denn Menschen haben ein tiefsitzendes Bedürfnis, mit Ihresgleichen auf der Basis von Gleichheit verbunden zu sein. Jeder Unterschied, der mit einer Bewertung einhergeht, stellt eine Bedrohung dar und löst Ängste aus. Wenn einige in der Gemeinschaft anders sind und dieses Anderssein als schlechter gewertet wird, wird eine Grenze gezogen: Die einen bleiben innen, die anderen kommen an den Rand. Wer am Rand ist, läuft Gefahr, irgendwann überhaupt nicht mehr dazu zu gehören, also ausgestoßen zu werden.

Wenn wir das Leiden an den Unterschieden auflösen wollen, müssen wir zuerst verstehen, wie es zu bewerteten Unterschieden kommt. Dazu diente das Modell des inneren Wachstums. Es zeigt uns, dass der innere Impuls zum Wachsen zur Veränderung des Gefüges mit unseren Mitmenschen führt, der zunächst fast notwendigermaßen mit Bewertungen einhergeht.

Erst wenn es gelingt, diese Bewertungen zu beenden, hört auch das Leiden an den Unterschieden auf. Deshalb stellt sich hier die Frage, wie es möglich ist, aus der Falle des Bewertens auszusteigen, ohne die entsprechenden Impulse einfach zu unterdrücken oder sich das Bewerten einfach zu verbieten. Es muss ein Weg sein, auf dem sich zeigt, dass es angenehmer und lohnender ist, auf Bewertungen zu verzichten, sodass diese mit der Zeit von selber aufhören, im eigenen Innenleben eine Rolle zu spielen.

Zunächst: Es macht keinen Sinn, wenn wir uns selber dafür bewerten, dass wir Unterschiede bewerten. Besser ist es, uns bewusst zu machen, was dabei abläuft und wie wir dabei mit uns selber umgehen. Wir können aus allem, was wir tun oder unterlassen, lernen.


Lernen aus Vergleichen


Für das Vergleichen ist ein Bewertungsvorgang notwendig. Jeder Vergleich braucht einen Maßstab, an dem der Unterschied abgelesen werden kann. Ein Maßstab ist eine Bewertungsskala, auf der es Abstufungen gibt zwischen Mehr/Weniger, Besser/Schlechter, Heller/Dunkler, Schneller/Langsamer, Sympathischer/ Unsympathischer usw.

Wenn wir uns auf den Weg der Bewusstheit begeben, erkennen wir erst, wie viele Vergleichsmaßstäbe wir in uns tragen. Solche Einstufungsprogramme arbeiten die ganze Zeit, von früh bis spät. Jedes Mal, wenn wir einem Menschen begegnen, werden sie aktiv, es genügt aber auch nur, dass wir an andere Menschen denken, oder an uns selbst, schon legen wir einen Maßstab der Bewertung an.

Wir wollen ja wissen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und dazu brauchen wir einen Vergleich mit anderen Wegen oder mit anderen Menschen, die andere Wege gehen. So machen wir uns eine Skala zwischen effektiven und uneffektiven Wegen, zwischen schnellen und langsamen, gründlichen und oberflächlichen usw. Die nächste Skala entsteht zwischen den Anfängern und Fortgeschrittenen auf einem bestimmten Weg oder auf dem allgemeinen Weg der Bewusstwerdung überhaupt. Manche Schulen erleichtern diese Aufgabe, indem sie verschiedene Grade der Einweihung oder der Meisterschaft vergeben, wie die Gürtel bei ostasiatischen Kampfkünsten.

Je tiefer wir in einen bestimmten Bereich der Innenerfahrung eindringen, desto deutlicher werden die Unterschiede zu den "Laien", den Menschen, die ihren Alltag scheinbar oder anscheinend ohne jeden Anspruch auf Selbsterforschung bewältigen. Wir, die wir uns auf dem inneren Weg abmühen, Zeit, Geld und Herzblut investieren, brauchen auch eine Bestätigung für die Sinnhaftigkeit unserer Anstrengungen. Wir holen sie uns, indem wir bestimmte Vorzüge an uns selber im Vergleich zu den Alltagsmenschen herausstreichen oder indem wir uns von solchen Leuten abgrenzen, weil wir unter ihrer "Grobstofflichkeit", "Unbewusstheit", "dunklen Energie" usw. leiden.


Übungen


Die einfachste Übung, die uns hilft, aus dem Vergleichen zu lernen, besteht darin, in jedem Menschen, der uns über den Weg läuft, sei es im Außen oder im Innen, einen inneren Kern zu sehen, der heil und unversehrt ist, hinter den Masken und Verhärtungen, die die Oberfläche bilden. Dann merken wir, dass die Unterschiede unwesentlich sind und das Gemeinsame wichtiger. Diese Übung ist zwar einfach, aber nicht immer fällt sie uns leicht. Wir hängen oft stark in unseren Gewohnheiten, Menschen nach Äußerlichkeiten einzuordnen.

Wenn wir bei jemandem "nicht weiter kommen", d.h. wenn wir an der Oberfläche kleben bleiben und kein Inneres wahrnehmen können, dann gilt es, die Erforschung dessen, was uns an der Person irritiert und abstößt, bei uns selbst zu vertiefen. Dabei kann die Übung helfen, Ähnlichkeiten zu mir selbst zu entdecken. Wenn jemand z.B. uns durch sein ungepflegtes Äußeres anwidert, dann können wir darüber kontemplieren, in welchen Bereichen wir uns selber zu wenig pflegen, oder ob es Bestrebungen und Wünsche in uns gibt, unsere möglicherweise übertriebenen Reinlichkeitsansprüche einmal nicht so ernst zu nehmen. Vielleicht entdecken wir an allem, was uns auf die Nerven geht, etwas Ähnliches, das in uns selber steckt, sei es auch nur dessen radikales Gegenteil.

Jeder Unterschied ist ein Beitrag zur Vielfalt des Lebens. Wenn wir die Bewertung weglassen, können wir die Schönheit an der Vielfalt erkennen. Wollen wir wirklich, dass jeder andere so denkt, ausschaut, empfindet wie wir selber? Das wäre ja äußerst monoton und langweilig. Unterschiede beleben und erzeugen Neues. Uniformität lähmt die Kreativität.

Wenn ich also einem Unterschied begegne, der mir auffällt, zum Denken gibt und negative Gefühle aufsteigen lässt, kann ich mich, statt gleich ein bewertendes Etikett darauf zu kleben, darauf konzentrieren, was ich an diesem Mitmenschen oder seinen Eigenschaften wertschätzen und bewundern könnte. Dann fällt es mir leichter, mit dem Phänomen Frieden zu schließen, ja, ich kann sogar noch an dem, was mir vorher ein Problem war, einen Gewinn an Lebensqualität erfahren. Zudem bin ich ein Stück weiser und menschenfreundlicher geworden.


Im Zusammenleben


Ein Problem kann sich ergeben, wenn eine Person systemisch denkt, und die andere personalistisch. Dann kommen die beiden nicht weiter. Das personalistische Denken bleibt auf sich bezogen und gibt dem anderen die Schuld am Zerwürfnis, systemisch gedacht liegt es an einem Missverständnis, an dem beide Personen einen Anteil haben.

A (personalistisch): Du musst dich ändern, damit es mir besser geht.
B (systemisch): Wie können wir unsere Interaktion besser verstehen und ändern, so, dass jeder etwas davon hat?

Die Kraft des Systemischen wirkt allerdings unterschwellig. Sie braucht Zeit, führt aber dann zu einer Entspannung, die bei der "personalistischen" Person ein implizites Wissen über das Systemische hervorruft.

Systemisch betrachtet, kann eine Person, die sich nicht verändern will, nicht verändert werden. Sie kann so akzeptiert werden, wie sie ist, inklusive ihrem Wunsch, sich nicht zu verändern und bei Gewohnheiten zu bleiben, die vom anderen als störend erfahren werden. Wenn jedoch die Erfahrung kommt, dass die andere Person auf die problematisierte Handlungsgewohnheit nicht mehr ablehnend, sondern neutral reagiert, kann sich „wie von selber“ eine Änderung einstellen. Das Unbewusste hat keinen Nutzen mehr daran, dem anderen eines auszuwischen, weil es merkt, dass die Provokation nicht mehr ankommt – wie schon Shakespeare erkannt hat: „Zum Raube lächeln, heißt den Dieb bestehlen“.

So kann durch Nachsicht und Einsicht ein Stück Frieden durch systemische Weisheit entstehen.


Die elementare Toleranzspannung


Im Grund geht es darum, eine elementare Spannung auszuhalten: Das radikale Anderssein, das aus der Einzigartigkeit jedes Menschen stammt, mit der radikalen Gleichheit, die aus dem Menschsein kommt, zusammenzuhalten. Beides müsste in jeder Begegnung, ja schon in jedem Gedanken an andere Menschen als Grundgefühl vorhanden sein. Mussten wir in tribalen Gesellschaften mit dieser Spannung für eine überschaubare Anzahl von bekannten Stammesmitgliedern zurechtkommen, sind wir heute, in der globalisierten Welt, gefordert, sie mit jedem Mitglied der Menschheit zu verbinden. Jeder Mensch darf genau so sein, wie er/sie ist, und ist gerade deshalb wesensgleich mit uns selber.

Und das ist erst der Anfang der Toleranzspannung. Da wir selber gewissermaßen unterhalb unseres Menschseins auch Naturwesen sind, braucht es diese Spannung auch im Verhältnis zu allen anderen Naturwesen. Dafür ist es erst ein kleiner Beginn, wenn wir damit aufhören, unsere nächsten Naturgenossen, die Tiere, zu verzehren.

Dienstag, 8. Juli 2014

Unterschiede im inneren Wachstum

Wenn Menschen den Weg der inneren Heilung verfolgen, gehen sie durch bestimmte Phasen durch, die sich in sehr unterschiedlichen und individuellen Formen ausbilden. Wann immer sich in unserem Inneren etwas gelöst und befreit hat, begegnen wir der Welt und den anderen Menschen auf neue Weise. Vieles davon erleben wir als Verbesserungen, als Errungenschaften, nach denen wir schon lange gesucht haben. Andere Aspekte daran stellen uns vor neue Herausforderungen. 

Dazu zählt die Frage des Umgehens mit den Unterschieden im Wachstum. Wenn wir schon die Analogie des Wachsens verwenden, heißt das, dass wir mit jedem Schritt der inneren Entwicklung ein wenig größer werden als andere, die sich nicht entwickeln. Und wenn wir größer werden, schauen wir auf sie hinunter. Damit sind wir schon in der Metapher für Überheblichkeit. Wir fühlen uns "besser" (im Sinn von überlegen) als unsere Mitmenschen die gar nicht oder weniger an sich gearbeitet haben, die einen anderen Weg verfolgen oder nicht weiterkommen. Vielleicht verstehen wir nur ihre Art des Weiterkommens nicht, aber das bekümmert uns nicht, wenn wir in dieser Einstellung befangen sind. 

Jedenfalls entsteht eine Kluft, die uns von Menschen, die uns bisher vertraut waren, unterscheidet. Selbstverständlichkeiten, die vorher gegolten haben, funktionieren nicht mehr. Wir sehen uns selbst und die anderen in einem neuen Licht, und dieses Licht erzeugt neue Schatten, so, als würden die Fehler und Schwächen der anderen Personen überdeutlich werden im Vergleich zu ihren Stärken und Schönheiten.


Weshalb wollen wir uns unterscheiden?


Wir brauchen Unterschiede, weil sie uns motivieren, Anstrengungen für das Wachstum zu unternehmen. In der relativen Welt braucht es Motivatoren, die das Ausbrechen aus Mustern schmackhaft machen. Schließlich haben wir uns gut in unseren Gewohnheiten eingelebt, und sie geben uns eine gewisse Bequemlichkeit und Sicherheit. Wollen wir der Enge, die sie uns gleichwohl bereiten, entkommen, brauchen wir eine Idee von Fortschritt, von Verbesserung, von einem Zustand, zu dem hin wir uns entwickeln wollen. Sonst wären die Kräfte der Beharrlichkeit übermächtig. 

(Es mag wohl irgendwann auf der Reise den Punkt gehen, an dem wir verstehen, dass es keinen wirklichen Fortschritt gibt, sondern nur Bewegung. Aber solange wir diese Sichtweise nicht voll inkorporiert haben, brauchen wir dieses wertende Unterscheiden, das hinter dem Fortschrittsbegriff steckt.)


Wachstum und Vergleichen


Wie schon im Beitrag über die Phasen der Entwicklung beschrieben, beginnen Menschen ihren Erforschungsweg mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen. Sie wählen auch unterschiedliche Herangehensweisen, Methoden und Techniken. Damit ist klar, dass prinzipiell jeder Weg individuell und einzigartig ist.

Dennoch neigen wir dazu, uns zu vergleichen, weil wir immer eine Abstimmung unserer inneren Erkenntnisse mit den anderen Menschen suchen. Wir wollen ja nicht aus der Gemeinschaft der Menschen herausfallen, wenn wir uns in neue Richtungen bewegen. Über lange Perioden unseres Lebens galt eine Hauptbestrebung der Anpassung an die Umstände, denen wir ausgesetzt waren, und an die Erwartungen, die auf uns gesetzt wurden. 

Doch so können wir uns irgendwann nicht mehr verhalten, weil es uns wie ein Verrat uns selbst gegenüber erscheinen würde. Wir sind anders geworden und müssen deshalb auch das Verhältnis zu den anderen neu bestimmen. Das geht meist nicht ohne Schwierigkeiten, für uns und für sie. Wir suchen Gleich-Gesinnte, die uns bestätigen, dass wir am richtigen Weg sind - und dass die anderen es nicht sind.

Zum Verständnis des unterschiedlichen Erlebens von Unterschieden in der Entwicklung greife ich auf das Phasenmodell des individuellen Wachstums zurück.


Phase 1: Selbstabwertung und Selbstannahme


Wer auf den inneren Weg geht, hat bemerkt, dass er nicht mehr so funktionieren kann, wie es ihm bisher gelungen ist. Eine innere Unruhe, eine Unzufriedenheit mit dem Leben, Schwierigkeiten in Beziehungen, seltsame körperliche Beschwerden; irgendwo hat sich etwas im eigenen Leben quergelegt, was nicht mit den herkömmlichen Strategien auf gleich gebracht werden kann. Es wird deutlich, dass etwas an einem selber unrund oder mangelhaft ist. 

Also muss Hilfe gesucht werden, und das ist mit dem Eingeständnis verbunden, es alleine nicht zu schaffen, was für viele einer Peinlichkeit und Demütigung gleichkommt. Bisher haben sie so bravourös ihr Leben gemeistert, so viel geschafft, und nun stehen sie an und wissen nicht weiter.

Andere, die sich leichter tun, Hilfe zu suchen, weil sie das gewohnt sind, bestätigen sich zwar weiter in ihrer Hilflosigkeit, wenn sie an eine Engstelle kommen. Für sie zeigt sich der Punkt der Scham dort, wo sie erkennen, wie sie andere Menschen ausgenutzt und manipuliert haben, damit sie die eigenen Schwächen ausbügeln.

Neidvoll geht der Blick auf die vielen Menschen, die so selbstverständlich und erfolgreich den Geschäften ihres Lebens nachgehen, scheinbar ohne innere Probleme, Skrupel und Ängste. Aalglatt und stromlinienförmig gleiten sie durch die Fährnisse des Alltags. Zum Unterschied von einem selber sind sie nicht auf Hilfe angewiesen, um mit dem eigenen Leben klarzukommen. 

Die bittere Klage über das eigene Schicksal führt bald auf die Suche nach den Verantwortlichkeiten, nach den Tätern, die einen in diese hilfsbedürftige und abhängige Position gebracht haben. Wer hat mir die Schäden zugefügt, an denen ich jetzt leide?

Die Klage wird zur Anklage, auch deshalb, weil das Ausmaß der eigenen Misere im Vergleich zu den so tüchtigen Anderen spürbar wird. Denn der innere Erforschungsprozess führt zu den dunklen Flecken der eigenen Biographie, auf die zugefügten Schmerzen und Einschränkungen in den frühen Phasen des Lebens. Er führt zur Erkenntnis, dass zu wenig Liebe und zu viel Druck da war, als dass eine gedeihliche Entwicklung der eigenen Persönlichkeit möglich gewesen wäre. 

Andere haben da offenbar besser abgeschnitten vom Kuchen der Vorzüge des Lebens. Ihnen gilt der Neid und eine gebrochene Bewunderung. Denn der Verdacht wächst, dass hinter den Fassaden der Glücklichen und Erfolgreichen unerkannte und unbewusste seelische Gebrechen schlummern können - wie der Konsument der Regenbogenpresse beiderlei braucht: Die Traumhochzeiten, Reichtümer und Glücksanhäufungen der Berühmtheiten, die neidvoll bewundert werden, und die Skandale, Zusammenbrüche, Albtraum-Scheidungen, die mittels klammheimlicher Schadenfreude die Selbstwertbalance wieder herstellen.


Phase 2: Stärkung der Selbstperspektive


Die Erfolge in der Selbsterforschung und -erkenntnis werden spürbar. Vielleicht sind die Probleme noch die gleichen, aber die Einstellung dazu hat sich verändert. Vor allem die Haltung zu sich selbst gestaltet sich um: Statt die Abwertungen, die im Lauf der frühen Lebensgeschichte in die eigene Seele übernommen wurden, destruktiv auf sich selbst anzuwenden, wird die Selbstachtung Schritt für Schritt aufgebaut. Es fällt zunehmend leichter, sich selbst so anzunehmen, wie man/frau ist. 

Doch ruht die Selbstakzeptanz noch auf wackeligen Beinen, deshalb bewirkt sie noch nicht automatisch, auch die anderen so anzunehmen, wie sie sind. Vielmehr entsteht häufig zunächst eine Reaktionsbildung derart, dass die Abwertung, die man selbst erlitten hat, unbewusst gegen andere gerichtet wird. Ihre Fehler werden umso deutlicher erkannt, je mehr einem die eigenen Schwächen bewusst wurden. Als Ausgleich für den lange ertragenen Mangel an Wert werden die Schwachstellen der Mitmenschen unerbittlich aufgedeckt und bloßgestellt. Die neu gewonnene Selbsteinsicht, verbunden mit einer neuen Selbstsicherheit, wird abwertend gegen die anderen gerichtet, die noch nicht so weit sind. Der Lohn für die eigene Arbeit an der Überwindung der Ängste besteht darin, die Überlegenheit über andere zu kultivieren und sich damit eine vorläufige Form der sozialen Sicherheit aufzubauen. Vor jemandem, der selber Schwächen hat und sie vielleicht gar nicht kennt, braucht man keine Angst – und auch keinen Respekt zu haben.

Es wird dann gerne verglichen - wie viel weiter sind andere, vor allem Identifikationsfiguren für das eigene Wachstum wie Lehrer oder Therapeuten? Gerne werden aber auch andere gesucht, bei denen man sich beruhigt vergewissern kann, um wie viel weiter man selbst fortgeschritten ist als sie. Das Vergleichen führt also entweder in die Position der Überheblichkeit oder der Minderwertigkeit, je nach der Richtung, in der der Vergleich angelegt wird. Es spiegelt die Unsicherheit in der Selbstannahme wider und soll das Ich stärken und stabilisieren. 

Der Mechanismus dieser Phase kann auch als eine Umkehrung ins Gegenteil verstanden werden. Aus dem abgewerteten Opfer entsteht der abwertende Täter. Stolz und Verachtung bekommen eine neue Verwendung. Sie richten sich gegen diejenigen, die "noch nicht so weit sind", "so unbewusst und unreflektiert" durchs Leben laufen, "so wenig begriffen haben, worum es eigentlich geht". Eigene Erfahrungen werden in Belehrungen umgemünzt. Die eigene Methode muss die beste sein, die eigene Lehrerin die vollkommenste. Es wird ein missionarischer Predigerton angeschlagen, und es gibt dann nur mehr diejenigen, die die Wahrheit teilen, und die anderen, die an ihrer Unwahrheit verderben.

Unterschiede im Wachstum werden zum eigenen Vorteil ausgeschlachtet, was, vom "Täter" meist unbemerkt, das eigene Ego stärkt und damit dem nächsten Wachstumsschritt im Weg steht. Denn dieses Ego hat sich gerade in seiner Stärke und Selbstbewusstheit gefunden und will sich nie mehr unterkriegen lassen.


Phase 3: Zurücknahme des wertenden Unterscheidens 


In dieser Phase werden die Beziehungen in ihrer überindividuellen Dynamik erkennbar: Es gibt Kräfte, die sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen, und die nicht einer einzelnen individuellen Macht unterworfen werden können, sondern von mehreren Seiten her verstanden werden wollen. Dann erst können sie gemeinsam verändert und gestaltet werden.

Es wird erkannt, wie das Vergleichen die eigene Entwicklung torpediert, statt sie weiterzubringen. Die neue Einstellung kann die Unterschiede unter den Menschen zulassen und wertschätzen. Wie können die Unterschiede zum gegenseitigen Bereichern beitragen? 

Kommt es zu "Fehlern", so beginnt jetzt die Suche bei sich selbst, statt sie den anderen anzulasten. Was kann ich an mir ändern, damit es mir besser geht? Wie kann ich anders auf die Mitmenschen zugehen, damit sie mir freundlicher begegnen?

Je eingehender das systemische Denken verstanden und angewendet wird, desto fragwürdiger wird der Begriff des "Fehlers" überhaupt. Denn zu jedem Zeitpunkt geschieht das Optimale, zu dem wir jeweils in der Lage sind. Nachträglich erkennen wir zwar häufig, dass wir etwas anders hätten machen können, was für uns vorteilhafter gewesen wäre. Aber statt den vergangenen übersehenen Chancen nachzuträumen, geht der Blick auf das, was für die Zukunft besser und anders gemacht werden kann. 

Zusätzlich geht, wenn ein emotionales Problem auftaucht, der Blick dorthin, wo die Wurzel in einem selber liegen könnte, die bewirkt, dass eine bestimmte Situation als belastend oder störend erlebt wird. 

Sobald sich jemand als erstes auf sich selbst ausrichtet, wenn es darum geht, die inneren Umstände des eigenen Lebens zu verändern, wird das Vergleichen mit anderen weniger interessant. Niemand ist in der gleichen Lage, in der wir uns selber befinden. Zwar gibt es Ähnlichkeiten, von denen wir uns Anregungen nehmen können, aber wichtiger sind jetzt die Unterschiede, die die eigene Situation einzigartig machen. Nur so können wir herausfinden, was für uns am förderlichsten ist und wie wir uns dorthin verändern können.


Phase 4: Verbindung im Fließen


Das eigentliche Ziel der Entwicklung ist die Freiheit von Ängsten und Abhängigkeiten und die Öffnung für die Kraft der Liebe. Je näher die erforschende Person diesem Ziel kommt, desto leichter kann sie selber mit den eigenen Problemen und Engstellen umgehen. Sie wird nicht mehr in Versuchung kommen, andere Menschen für das eigene Leiden verantwortlich zu machen, sondern die Wurzeln des Leidens in sich selber suchen und dort aufzulösen trachten. Sie praktiziert Methoden dafür oder weiß, wo sie sich kompetente Unterstützung holen kann. Bei Störungen in der Kommunikation mit anderen wird ein Weg der achtungsvollen Wiederherstellung der Verbindung gesucht.

An die Stelle des Vergleichens tritt ein Mitgefühl ohne Unterschied und Ansehen der Person. Statt andere Menschen ändern zu wollen, wirkt das Prinzip des Nicht-Wollens. Es braucht keine Absicht mehr, es genügt das liebevolle Dasein für das, was gerade ist, und die freundliche Zuwendung für die Person, mit der wir gerade zu tun haben.

In dem Maß, in dem die Erfahrung des Fließens in der einen oder anderen Form auftritt, wird die Verbundenheit mit dem Erleben im Moment so stark, dass Konzepte, die Unterschiede zu anderen Menschen und deren Erfahrungen aufbauen, nicht mehr gebraucht werden. Alles gilt gleichermaßen, was Menschen erleben und wie sie ihr Leben führen. Alles davon ist verwandt mit eigenen Erfahrungen, nichts ist wirklich fremd. In diesem Bewusstseinszustand zählen keine Wertungen mehr, jedes Wesen darf so sein, wie es ist und kann so wertgeschätzt werden. Die Liebe, die sich darin zeigt, ist nicht mehr an Bedingungen gebunden, sondern fließt frei.