Sonntag, 6. Juli 2014

Phasen des inneren Wachsens

Unter innerem Wachstum verstehe ich die Arbeit an der eigenen Bewusstseinsevolution. Sie besteht vor allem darin, die Ängste, die aus der eigenen Geschichte stammen, aufzulösen, sich den Verletzungen und schmerzhaften Erfahrungen zu stellen und mit der Vergangenheit Frieden zu schließen. Diese Innenarbeit erfordert Konsequenz und Mut, und das Vertrauen auf die Gnade. Sie kann auch als die bewusste und aktive Mitwirkung am eigenen Wachstumsprozess verstanden werden.

Das innere Wachstum trägt immer auch zur kollektiven Bewusstseinsevolution bei. Individuelle und kollektive Entwicklung sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn sich ein Mensch innerlich weiterbildet, Ängste und neurotische Verstrickungen löst, kommt das immer auch seiner Umgebung zugute und regt dort im günstigen Fall Wachstumsimpulse aus. 


Wenn eine Person den Raum der inneren Freiheit erweitern kann, trägt sie dazu bei, dass in der Welt ein Stück mehr Freiheit gelebt wird. Umgekehrt müssen die äußeren Umstände so beschaffen sein, dass sie die Gelegenheit für die innere Öffnung bieten.

Menschen beginnen diesen Weg von unterschiedlichen Voraussetzungen aus und gehen ihn auf unterschiedliche Weise. Zu den Voraussetzungen zählt das Ausmaß an Schwierigkeiten und Problematiken, das zwischen den Menschen äußerst verschieden ausgeprägt ist. Doch scheint es so, dass alle Menschen in irgendeiner Weise von Krisenerfahrungen und Traumatisierungen betroffen sind. Selbst wenn ein Leben auf einer vergoldeten Rutschbahn abzulaufen scheint, wenn offenbar alles da ist: Liebevolle Eltern, Wohlstand, Talente und Erfolge, kann etwa die Embryonalentwicklung problematisch und die Geburt schwierig gewesen sein, es können Belastungen aus früheren Generationen übertragen worden sein, es können Krankheiten im eigenen Leben und tragische Schicksale in der Umgebung aus dem Nichts auftauchen. Auch hier und gerade hier besteht die Notwendigkeit, innerlich zu wachsen.

Mit den unterschiedlichen Weisen, in denen Wachstum stattfindet, ist grundsätzlich gemeint: Wachstum, das durch bewusst gesetzte und erlebte Schritte erfolgt, und Wachstum, das durch äußere Einwirkungen bewirkt wird. Ein Beispiel für die erstere Variante ist die Innenarbeit durch Therapie oder Meditation, ein Beispiel für die zweite Möglichkeit ein Reifungssprung, der durch eine schwere Krankheit oder einen Schicksalsschlag erfolgen kann.


Vier Phasen des Wachsens


Ich schlage zum Verständnis dieser Entwicklung ein Phasenmodell der individuellen Bewusstseinsevolution vor. Das Modell bezieht sich auf die mit individueller Bewusstheit verbundene Spielart der Bewusstseinsevolution, also dort, wo Menschen absichtsvoll und mit persönlichem Einsatz an der Behebung von inneren Mängelzuständen arbeiten. Diese Phasen unterscheiden sich im individuellen Erleben, sind jedoch nicht Stufen auf einer Treppe vergleichbar, weil es oft nicht eindeutig bestimmt werden kann, in welcher Phase sich jemand befindet, weil sich das Verhalten situativ ändern kann. In einer Situation kann jemand einer Phase entsprechen, in einer anderen einer anderen. Allerdings wird häufig ein Zunehmen der Inhalte einer neuen Phase und ein Abnehmen der Inhalte einer früheren Phase erlebt.

Zu diesem Modell bemerke ich noch, dass es sich auf nur wenige Aspekte des komplexen Phänomens des inneren Wachsens bezieht. Es dient auch als Raster für das Thema des Umgehens mit Unterschieden im Wachstum, das dann noch in eigenen Beiträgen behandelt wird.


Phase 1: Aufbruch und Widerstand


Zu Beginn dieses Weges zeigt sich meist ein Gefühl des Aufbruchs, freilich gepaart mit viel Unsicherheit und Skepsis, denn es ist nicht klar, wohin die Reise geht und was sie kosten wird. Veränderungen werden bemerkbar, sind aber nicht stabil. Häufig wird ein Auf und Ab erlebt: Hochzustände signalisieren, dass sich etwas geändert hat. Aber dann kommt es wieder zu Zeiten des Misstrauens in die Entwicklung, wenn scheinbar nichts weitergeht oder alte Muster umso stärker wieder zuschlagen.

Die Widerstände gegen die innere Veränderung, gegen das Aufgeben von dysfunktionalen Gewohnheiten, die Ängste, die sich unterhalb der sozial geprägten Oberfläche zeigen, entfalten ihre Wirksamkeit. Sie werden als mühsam erlebt, weil sie drohen, erreichte Fortschritte wieder zunichte zu machen. Sie geben aber zugleich die Richtung an, in die es gehen soll.

Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Weges führen oft dazu, dass begonnene Prozesse, Übungen, Therapien oder Gruppen abgebrochen werden und immer wieder neue Möglichkeiten ausprobiert werden.

Nach dem Modell der Bewusstseinsevolution geschieht in dieser Phase das Heraustreten aus den Prägungen durch die ersten vier Bewusstseinsstufen. Es steht die innere Ablösung aus der Herkunftsfamilie an (tribale Stufe), die Auseinandersetzung mit der eigenen Autonomie (emanzipatorische Stufe), die Überwindung von Unter- und Überordnungen (hierarchische Stufe) und die Distanzierung der giergelenkten Ego-Bedürfnisse (materialistische Stufe) an.


Phase 2: Ich-Autonomie


Der eigene Fortschritt hat sich ein Stück stabilisiert und wird auch an spürbaren Veränderungen im eigenen Leben erkannt. Bestimmte Verhaltensmuster haben sich nachhaltig verändert. Die Richtung, in die es gehen soll, ist deutlich sichtbar.

Es wächst die Sicherheit und das Selbstverständnis. Es entsteht das Gefühl, für die eigenen Probleme selber die Verantwortung übernehmen zu können. Die Einstellung, das Opfer der Bosheit anderer Menschen oder der Umstände zu sein, verliert an Kraft.

In dieser Phase wird das Ego gestärkt. Es hat sich da und dort aus Abhängigkeiten befreit und will sich in seiner neu gewonnenen Autonomie auch in der Welt behaupten.

Die Ich-Autonomie, das Selbstgefühl und die Selbstsicherheit werden gestärkt. Damit nimmt die Person ein neues Verhältnis zur Welt ein. Die Form der Begegnung wandelt sich, indem die Opferposition verlassen wird. Deshalb wird unbewusst häufig statt der Opferposition die Täterposition eingenommen. Statt sich Grenzüberschreitungen durch andere gefallen zu lassen, wird begonnen, selber die Grenzen anderer zu verletzen. Wo bisher Aggressionen geschluckt wurden, werden sie jetzt ausgedrückt.

Wir können diese Phase mit der fünften, personalistischen Stufe der Bewusstseinsevolution vergleichen. Hier geht es um die Erkenntnis und Aneignung der eigenen persönlichen und individuellen Qualitäten, die den Unterschied zu den anderen Menschen und die Absetzung von ihren Erwartungen deutlich werden lassen.


Phase 3: Mehr Perspektiven


In dieser Phase treten die Beziehungen zu anderen Menschen, aber auch zu anderen Sichtweisen und Ideen in den Vordergrund. Das Nicht-Eigene wird nicht mehr nur aus der eigenen Perspektive heraus gesehen und interpretiert. Die Relativität der eigenen Einsichten wird deutlich. Es wird auch erkannt, dass die inneren Erfahrungen nur schwer kommuniziert werden können, und nicht deshalb, weil die anderen so schwer von Begriff sind oder so ignorant, sondern weil Erfahrungen individuell und subjektiv sind. Die Herstellung einer Verständigung ist daher eine beständige neue Aufgabe, und ihr Gelingen hängt nicht nur von der Öffnung des Gegenübers ab, sondern auch von der eigenen Bereitschaft, sich verständlich zu machen.

Wir verstehen uns selber besser, wenn wir das Spiel von unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen näher kennenlernen und reflektieren können. Wir wissen dann, dass wir nicht nur eine Person sind, die immer gleich ist, sondern dass wir einmal so, einmal anders reagieren können. Wir lösen damit schrittweise die Identifikation mit solchen Anteilen in uns und gründen unsere Identität dann nicht mehr auf eine der Teilpersönlichkeiten, sondern auf eine Instanz, die zu all diesen Anteilen als Beobachter und Zeuge in Distanz bleibt.

Mit dem Erkennen der Kontextabhängigkeit unserer Wahrheiten und der Unvorhersehbarkeit der kommunikativen Vermittlung schwindet die Basis für das Abwerten anderer Personen. Das Einlassen auf die Relativität hilft, die eigene Individualität, das eigene So-Sein, in Relation zur Individualität, dem So-Sein anderer Menschen zu sehen. Damit rücken die fundamentale Unterschiedlichkeit der Menschen und ihre ebenso fundamentale Gleichheit auf eine Ebene und brauchen nicht mehr gegeneinander ausgespielt zu werden.

Menschen versuchen häufig, aus dieser Position heraus bei Angelegenheiten anderer Menschen zu vermitteln, zu mediieren. Wer sich einer Therapie unterzogen hat, spürt den Wunsch, selber Therapeut zu werden. Leicht und gern wird die Rolle des Retters eingenommen, des allparteilichen Besserwissers. Diese Rolle kann sehr hilfreich sein, um Missverständnisse zwischen Menschen und daraus erwachsende Streitigkeiten zu schlichten und, statt Zwistigkeit auszuleben, der Verständigung den Weg zu ebnen. Dennoch kann der Konfliktvermittler, der Retter, in eine Position der Überheblichkeit geraten, die ihn dann ein Stück in die 2. Phase des inneren Wachstums zurückholt.

Diese Phase entspricht der Stufe des systemischen Bewusstseins im Modell der Bewusstseinsevolution. Das Einüben in das systemische Denken und Erleben stellt einen wichtigen Schritt in der inneren Entwicklung dar, weil dadurch eine vielgestaltige Sicht auf die Probleme des Lebens möglich wird, und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten erkannt werden.


Phase 4: Der Weg ist das Ziel


Das eigentliche Ziel der Entwicklung ist die Freiheit von Ängsten und Abhängigkeiten und die Öffnung für die Kraft der Liebe. Je näher die erforschende Person diesem Ziel kommt, desto leichter kann sie selber mit den eigenen Problemen und Engstellen umgehen. Sie wird nicht mehr in Versuchung kommen, andere  Menschen für das eigene Leiden verantwortlich zu machen, sondern die Wurzeln des Leidens in sich selber auflösen. Sie praktiziert Methoden dafür oder weiß, wo sie sich kompetente Unterstützung holen kann. Bei Störungen in der Kommunikation mit anderen wird ein Weg der achtungsvollen Wiederherstellung der Verbindung gesucht.

Das Bedürfnis, sich besser als andere fühlen zu müssen, ist verschwunden. Ebenso hat sich das Bedürfnis verabschiedet, anderen helfen zu wollen, damit es einem selber besser geht. Das eigene Wohlgefühl, die Gelassenheit, die aus der Aufarbeitung von Ängsten führt, fließen in Mitgefühl mit anderen ebenso wie in die Entfaltung der Kreativität in unterschiedlichen Lebensbereichen hinein. Aus der Liebe und der schöpferischen Kraft zu leben, ist dann die wichtigste Richtschnur im eigenen Leben, und andere aus diesen Quellen zu unterstützen, zu bereichern und ohne Druck und Manipulation zu inspirieren, wird zur beständigen Aufgabe - eine Aufgabe, die aus der inneren Freiheit kommt statt aus einer auferlegten Anstrengung.

Diese Phase entspricht einer Annäherung an die siebte Stufe der Bewusstseinsentwicklung. Sie stellt das Ziel der inneren Entwicklung dar und wird in ihrer Fülle umso mehr spürbar, je weiter die Reise zum Zentrum des Wissens und der Weisheit führt.

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