Sonntag, 23. April 2017

Achtsamer Sex

Der langsame und achtsame Sex ist ein Weg, der bei der intimen Begegnung begangen werden kann. Er geht zurück auf den australischen Lehrer Barry Long und wurde vor allem von Diana Richardson in mehreren Büchern und vielen Seminaren verbreitet.

Es geht dabei um eine meditative Begegnung der Partner, die mit einem verfeinerten Spüren und langsamen Bewegungen verbunden ist. Es soll nicht primär die sexuelle Lust durch Reibung und intensive Bewegungen erzeugt werden, sondern das Aufeinander-Einlassen auf allen Ebenen zugelassen werden: Atemrhythmus, Augenkontakt, Herzverbindung und genitales Spüren. Damit wird die sexuelle Begegnung zu einer geteilten ganzheitlichen Erfahrung. Das Schwergewicht liegt auf der Entspannung und dem achtsamen Zulassen aller Empfindungen und Gefühle.

Das Prinzip, langsam genießen, statt schnell zum Höhepunkt zu kommen, steht im Widerspruch zur Leistungsorientierung, die diese Gesellschaft so stark prägt, dass damit auch der Bereich der intimen Begegnung schon längst durchdrungen wurde. Die Fixierung auf den Orgasmus als Ziel hat sich über die gemeinsame Erfahrung in der Begegnung gestellt, was leicht zum Stress führt: Sex muss gelingen, wenn er nicht gelingt, kommt es zu Vorwürfen und Streitigkeiten. 


Längst haben die allgegenwärtigen Bilder von intensiver Leidenschaft und hemmungsloser Lust unsere Gehirne okkupiert und halten uns in Geiselhaft. Wenn wir es nicht schaffen und bringen wie die Vorbilder auf der Leinwand oder am Computerschirm, sind wir Versager. Wir verfangen uns in Kreisläufen: Je mehr wir versuchen zu erzwingen, was uns als Ideal vorgegeben wurde, desto schwieriger wird es. Denn die sexuelle Lust lässt sich nicht unter Druck erzeugen, sondern entsteht in der gemeinsamen Entspannung. Je größer die Erwartungen, desto größer die Enttäuschungen.

Der langsame Sex nimmt den Erwartungsdruck aus der Begegnung und führt die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zurück. Es geht darum, das, was gerade ist, zu genießen, statt irgendein ein Ziel in der Zukunft anzustreben. Es geht um Erleben und nicht um Leistung. Was geschieht, wird gemeinsam erschaffen, und beide Partner bringen ihre Aktivität und ihre Passivität ein, ihr Tun und ihr Zulassen.

Wenn diese Form der Begegnung gelingt, kann sie sehr heilsam für beide sein, nicht nur darin, dass die Sexualität von den vorgefertigten Prägungen befreit wird, sondern dass auch Verwundungen und Verletzungen, die in diesem empfindlichen Bereich stattgefunden haben, zur Heilung finden.

Die Übung dieser Form der achtsamen sexuellen Erfahrung führt dazu, dass Sexualität und Spannung entkoppelt werden und damit das vorherrschende und medial aufgedrängte Lustmaximierungsdiktat durch eine intensivere Erfahrung im Bereich des verfeinerten Spürens übertroffen und damit außer Kraft gesetzt wird. Statt der aufgeladenen Spannung, die irgendwo und irgendwie eine Entspannung sucht, tritt die Erfahrung des Strömens und Fließens, die keinen Höhepunkt braucht, weil jeder Moment für sich einen Gipfel darstellt.

Damit erleben wir in dieser Erfahrung eine Gegenwelt, die uns zurück zu unserem Wesen führt statt uns in die Richtung abzulenken, in die uns die Konsumwirtschaft drängen will. Diese Welt ist voller Aufladung und Anspannung, die sie selber kreiert, um uns dann weiszumachen, dass wir die Spannung nur über die Angebote, die uns vor die Nase gehängt werden, wieder loswerden können. Wir brauchen kein sexualisiertes Konsumparadies mehr, wenn wir von den einfachen und viel tieferen Genüssen der achtsamen sexuellen Begegnung gekostet haben. Wir können uns auch eine Oase im Geschwindigkeitsrausch unserer Lebenswelt erschaffen, indem wir behutsam und langsam ineinander eintauchen und diese Form der Entschleunigung in unseren Alltag übernehmen.

Die Konditionierungen, die sich durch diese Form der Sexualität auflösen lassen, geben Anlass zur Hoffnung, dass dieser Weg der innerlich befreiten Sexualität eine große Hilfe für das Beenden der Geschlechterkämpfe und der sexualisierten Konsumgesellschaft leisten kann. Wenn die sexuelle Energie keinen inneren Druck mehr verursacht und statt dessen zu einer Form der frei fließenden Lebendigkeit und Kommunikation wird, fällt jede Notwendigkeit, den Druck nach außen zu lenken, weg. Die so gelebte Sexualität reinigt sich von der Verdinglichung durch alle möglichen gesellschaftlichen Themen wie Gewalt, Macht, Ausbeutung, Unterwerfung, Statuserwerb, Leistung usw. Sie macht Sexarbeit ebenso überflüssig wie Pornographie. Subjektiv entkoppelt sie das sexuelle Erleben von Gier, Selbstbestätigung, Selbstausbeutung und Versagensängsten.

Video mit Diana Richardson
Literatur:
Diana Richardson: Slow Sex: The Path to Fulfilling and Sustainable Sexuality. Destiny Books 2011 (deutsch: Slow Sex: Zeit finden für die Liebe. Integral)

Donnerstag, 20. April 2017

Sind Frauen emotional kompetenter als Männer?

Häufig heißt es, dass Frauen über mehr emotionale Intelligenz oder Kompetenz verfügen als die Männer. Es wird z.B. darauf hingewiesen, dass schon als Babys die Mädchen mehr Interesse an Stimmen als an Objekten haben als die Jungen, dass sie früher das Sprechen erlernen usw. Aus der Anthropologie wissen wir, dass in allen frühen Kulturen die Frauen für die Kindererziehung, d.h. auch für deren emotionale Regulation zuständig waren. Insofern ist es verständlich anzunehmen, dass das weibliche Geschlecht für das Erleben, Verstehen und Kommunizieren von Gefühlen besser ausgerüstet ist. Was dazu führt, dass sich Frauen gern über das männliche Geschlecht wegen dessen mangelhafter Fähigkeiten im Gefühlsbereich beklagen.

Emotionen sind ein Grundbestandteil des Menschen, beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht. Beide Geschlechter verfügen über die ganze Bandbreite an Gefühlen, und beide über Formen, mit diesen Gefühlen umzugehen, sodass das Sozialsystem in Stabilität bleiben kann. Alle Gefühle haben eine Funktion für die Regelung des Zusammenlebens, und alle, die dazu beitragen, brauchen ein Verständnis für die eigenen Gefühle und die anderer Mitglieder.

Diese Formen haben sich im Lauf der Geschichte stark verändert. Ein großer Einschnitt ist durch die Zurückdrängung des Patriarchats seit dem 19. Jahrhundert erfolgt. Grob vereinfacht könnte man sagen, dass die Frauen im Bekämpfen des Patriarchats mehr zu ihrer Wut gefunden haben, während die Männer durch den Verlust von Machtpositionen zu lernen hatten, ihren Schmerz und ihre Traurigkeit auszudrücken. Diese Entwicklungen sollten langfristig zu einer Entspannung in den Mann-Frau-Verhältnissen beitragen.

Allerdings tragen beide Geschlechter die Spuren des Patriarchats in sich, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die emotionalen Muster. Es scheint, dass es noch lange brauchen könnte, bis hier ein nachpatriarchalisches Miteinander und Zueinander gefunden werden kann. 


Frauen brauchen Zuwendung, Männer suchen Lösungen


Ein typisches Beispiel, das sich in fast jedem der zahlreichen Beziehungsbücher findet, lautet, dass Frauen, wenn sie Probleme haben, jemanden brauchen, der ihnen zuhört, und Männer jemanden, der ihnen Lösungen aufzeigt. Das spielt sich im Zusammenleben dann häufig so ab, dass Frau ein Problem schildert und Mann darauf einen Lösungsweg vorschlägt. Frau ist verstimmt, weil ihr Bedürfnis nach Zuwendung nicht erfüllt wurde. Mann ist daraufhin verstimmt, weil Frau nicht erkennt, wie sehr er sich bemüht hat, Frau zu helfen und ihn statt dessen kritisiert. Frau nimmt an, dass Mann über keine Gefühlskompetenz verfügt, und Mann nimmt das gleiche an. Tatsächlich sind bei beiden Erwartungen enttäuscht worden, die aus der eigenen Prägungen heraus für selbstverständlich gehalten werden: Frau meint, dass es die natürliche Form von Liebe ist, auf die Schilderung von Problemen Zuwendung und Trost zu bekommen, während Mann annimmt, dass sich Liebe darin ausdrückt, für Probleme eine Lösung vorzuschlagen.

Es ist wohl so, dass beide Geschlechter über emotionale Kompetenz und Intelligenz verfügen, die nur geschlechtstypisch unterschiedlich gewichtet ist. Diese Unterschiede dienen offenbar dazu, eine optimale Ergänzung zu ermöglichen, ähnlich wie jeder Mensch über zwei Gehirnhälften verfügt, die sich die Aufgaben aufteilen und ein gutes Zusammenspiel brauchen. So wie keine der Gehirnhälften besser ist, verhält es sich auch mit der Spezialisierung der Gefühlskompetenz zwischen den Geschlechtern: Männer und Frauen verfügen über gemeinsamen und über unterschiedliche Fähigkeiten im Gefühlsbereich und in der Gefühlsverarbeitung.

Wenn der Begriff der emotionalen Intelligenz, wie er von Daniel Goleman vorgeschlagen wurde, überhaupt einen Sinn macht, dann weniger in Hinblick auf eine Hierarchie zwischen Frauen und Männern, sondern auf die Betrachtung von individuellen Unterschieden. Was den Begriff der emotionalen Intelligenz fragwürdig macht, ist die Annahme, dass diese ähnlich genau gemessen werden kann wie die kognitive Intelligenz, denn die Psychologen stoßen auf erhebliche Probleme, das Erleben und Verarbeiten von Emotionen in messbare Strukturen zu übersetzen. Auch stellt sich die Frage, was überhaupt als optimaler Wert angesehen wird: Ist es emotional kompetent, jedes Gefühl sofort auszudrücken, oder ist das hysterisch? Ist es statt dessen das Optimum emotionaler Intelligenz, immer gelassen zu wirken, oder handelt es sich hier um einen pathologischen Fall von Gefühlsunterdrückung?

Die Fähigkeit, kochen zu können, ist nicht besser oder schlechter als die Fähigkeit, Waschmaschinen reparieren zu können. Wohl kann einer oder eine besser oder schlechter kochen und reparieren als andere, aber das muss nichts zu tun haben mit der Zugehörigkeit zum einen oder anderen Geschlecht.

Wir sind unendlich verschieden, auch in Hinblick auf das Gefühlserleben. Offenbar bringen wir unterschiedliche Gefühlsgeschichten mit, die sich aus genetischen Veranlagungen, ererbten und übertragenen Mustern, Lernprozessen im Umgang mit den Bezugspersonen und Peergroups, Traumatisierungen und Ressourcenerfahrungen usw. zusammensetzen. Unsere Gefühlskompetenz ist offenbar eine äußerst komplexe und sehr individuelle Fähigkeit, die sich im Lauf unseres Lebens entwickelt hat und weiter entwickelt. Sie enthält auf der Grundlage all der prägenden Voraussetzungen immer auch eine Lernrichtung, z.B. zu lernen, aggressive Gefühle zu zügeln oder traurige Gefühle ausdrücken zu können, feinere Gefühlsregungen wahrnehmen zu können oder heftige Gefühle zum Ausdruck bringen zu können.


Animus und Anima im 21. Jahrhundert


All das, was in diesem Artikel formuliert wurde, sollte außerdem noch mit der Brille gelesen werden, die aus der Beobachtung der Veränderung der Animus-Anima-Beziehungen im 21. Jahrhundert stammt. Wir sehen eine Entwicklung, in der die herkömmlichen stereotypen Zuordnungen von Eigenschaften zum einen wie zum anderen Geschlecht immer fraglicher werden und die Grenzen und Abgrenzungen dazwischen insgesamt durchlässiger und unübersichtlicher werden. Es gibt z.B. gefühlsoffene, romantisch eingestellte Männer und sachlich orientierte, gefühlskühle Frauen, und all die anderen Spielarten, in einer unendlichen Variabilität, gegen die das „Typisch-Mann“ und „Typisch-Frau“ blass und oberflächlich klingt.

Deshalb liegt die Aufgabe mehr und mehr darin, die speziellen emotionalen Fähigkeiten bei sich und bei den anderen Menschen wertzuschätzen und zugleich an der Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten zu arbeiten.


Zum Weiterlesen:
Animus und Anima im 21. Jahrhundert

Montag, 10. April 2017

Toleranz ist ein relativer Wert

Die Idee der Toleranz ist eine Errungenschaft der modernen Aufklärung, die im Bildungsbürgertum in Europa begonnen wurde und, verbunden mit den Menschenrechten, mittlerweile weltweit anerkannt ist. Sie besagt, dass unterschiedliche Meinungen, religiöse Bekenntnisse, Lebensweisen, geschlechtliche Orientierungen und Werthaltungen nebeneinander bestehen sollen. Niemand soll verfolgt, mit Gewalt bedroht oder unterdrückt werden, nur weil er oder sie anders ist als andere. Mit diesem Wert gelingt es einer Gesellschaft, mit Diversität zurande zu kommen und den besten Nutzen für alle daraus zu schöpfen.

Für Jahrhunderte waren die Machtstrukturen so beschaffen, dass verschiedene Minderheiten mit Gewalt von der Bevölkerungsmehrheit verfolgt und unterdrückt wurden, z.B. die Juden oder die Angehörigen von christlichen Sekten. Ethnische Minderheiten oder Menschen mit nicht heterosexuellen Orientierungen mussten sich ebenfalls vor Grausamkeiten, die jederzeit ausbrechen konnten, fürchten. Selbst Linkshänder waren lange Zeit diskriminiert. Mit aller Gewalt versuchten diese Gesellschaften, eine normierte Bevölkerung zu erzwingen. In engen Grenzen war vordefiniert, wieweit menschliches Verhalten erlaubt war. Wer diese Grenzen überschritt, wurde bestraft.

Aus verschiedenen Gründen dämmerte langsam die Einsicht, dass der Aufwand, den eine Unterdrückungsmaschinerie erfordert, in keinem Verhältnis zum erzielten Gewinn steht. Es wurde deutlich, dass die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Menschen mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Je mehr Korsette eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, desto größer ist die Angst, die mit den engen Regeln eingeimpft wird. Angst hemmt Kreativität und Motivation. Ohne diese Ressourcen stagniert die Gesellschaft und entwickelt sich nicht weiter. Das ist ja im Interesse der jeweils Mächtigen, denen es um nichts als den Erhalt dieser Macht geht, aber nicht im Interesse der Mitglieder der Gesellschaft, die ihre Situation verbessern wollen.

Aus diesen Spannungen entstanden die Revolutionen und Reformbewegungen, die schließlich in vielen Ländern demokratische Systeme hervorbrachten, mit dem Charakteristikum, dass die Machtträger einer Kontrolle unterzogen und in ihren Machtbefugnissen eingeschränkt wurden. Für einen Politiker in einer Demokratie ist es nunmehr nicht automatisch von Vorteil, die Diversität der Gesellschaft zu unterdrücken, vielmehr kann er besser seine Macht sichern, wenn er für den gesellschaftlichen Fortschritt eintritt.

Dieser Fortschritt erfordert die Öffnung der Grenzen des Regelwerks unter dem liberalen Motto, dass jeder soweit frei ist, als die Freiheit anderer davon nicht betroffen ist. Damit wird die Toleranz zu einem Leitmotiv der modernen Gesellschaft, von der alle ihre Mitglieder profitieren können. Jeder kann nach seinen Vorlieben sein Leben gestalten und nach seiner Façon selig werden. Ob jemand in dieses Gotteshaus oder in jenes oder in gar keines geht, geht niemand anderen etwas an. Damit können sich alle Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben beteiligen und ihren Beitrag leisten, ohne von der Angst vor Strafe oder Verfolgung gedrückt und gehemmt zu sein. Freie Gesellschaften, also solche, die Diversität erlauben und sogar fördern können, sind produktiver, und die in ihr lebenden Menschen zufriedener.

Damit ist die Toleranz ein ganz wichtiges Leitmotiv der Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Willkür. Dem Bildungssystem kommt eine zentrale Rolle zu, um diese Werthaltung zu vermitteln, denn sie erfordert eine kognitive Kompetenz. Emotional neigen wir dazu, Andersartigkeiten schnell abzulehnen. Für jemanden mit weißer Hautfarbe kann jemand mit einer schwarzen Hautfarbe Unbehagen auslösen und umgekehrt. Doch wir können wissen, also kognitiv erkennen, dass Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe als Menschen anerkannt werden können. Das Wissen macht uns klar, dass es nicht von der Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit abhängt, ob wir einem Menschen vertrauen können oder ob wir besser auf der Hut sein sollten.

Relative Toleranz


Obwohl die Werthaltung der Toleranz wichtig und elementar für eine demokratische Gesellschaft ist, stellt sie doch nur einen relativen Wert dar, wenn auch von hoher Priorität. Denn die Toleranz hat ihre Grenzen dort, wo sie dafür ausgenutzt wird, die Toleranz selbst einzuschränken. Redner z.B., die gegen die Toleranz hetzen und intolerante Standpunkte vertreten (Beispiel: der gegenwärtige türkische Präsident), oder Vereinigungen, die das Ziel haben, intolerante Strukturen durchzusetzen (Beispiel: fundamentalistisch orientierte moslemische Vereine), müssen im Sinn der Toleranz mit Intoleranz behandelt werden. Die Toleranz im gesamtgesellschaftlichen Sinn muss jener für Individuen oder Gruppen als Wert übergeordnet sein. Zwar gilt das Recht auf freie Gesinnung und Meinungsäußerung, d.h. jeder kann auch gegen eine tolerante Gesellschaft öffentlich reden, muss aber von anderen Kräften in der Gesellschaft kritisiert werden, damit ein Diskurs entstehen kann, in dem sich im besten Fall die besseren Argumente durchsetzen. Vereine haben ihr Recht, sich zu versammeln und dort was auch immer zu bereden. Doch sollte der gesellschaftliche Diskurs darüber entscheiden, ob Vereine, die sich gegen die Toleranz aussprechen, öffentlich (medial, finanziell etc.) gefördert werden und ob Möglichkeiten geschaffen werden, dass sich jeder darüber informieren kann, welches Programm und welche Intentionen von solchen Organisationen vertreten werden.

Eine tolerante Gesellschaft kann die Gegnerschaft gegen die Toleranz nicht tolerieren. Das kann man ihr zum Vorwurf machen, ändert aber an dieser Logik nichts. Denn die Toleranz taugt nicht zum absoluten Wert, als den ihn die Gegner der Toleranz für ihre eigene Propagandafreiheit einfordern wollen. Sie ist ein relatives Mittel, um einen hohen Grad an Freiheit im Rahmen einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn es nicht ausreicht, müssen andere Mittel eingesetzt werden.

Das historische Beispiel dafür ist die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland 1933, die im Rahmen der toleranten demokratischen Spielregeln die relative Stimmenmehrheit bei Wahlen bekamen und dann skrupellos die Machtpositionen ausnutzten, die ihnen der deutsche Reichspräsident eingeräumt hatte. Mit Schuld an der daraus resultierenden Katastrophe war die Schwäche der Zivilgesellschaft, entschlossen darauf zu reagieren, dass tolerante Strukturen für das Aushebeln ebendieser missbraucht wurden. Dieses drastische Beispiel sollte immer in Erinnerung bleiben, um Wiederholungen zu verhindern. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass es sich gerade jene Ewig-Gestrige in Erinnerung halten, denen es um eine Wiederholung des NS-Wahnsinns geht.

Die Achtung der Menschenwürde als absoluter Wert.


Der absolute Wert, der hinter dem Grundwert der Toleranz steht, ist die Menschenwürde und die Menschenliebe. Jeder Mensch verdient es, als Mensch Anerkennung und Respekt zu bekommen, und jeder Mensch verdient Mitgefühl für seine Leidenszustände. Auch Menschen, die aus welchen Gründen auch immer Probleme mit der Toleranz, wie sie in westlichen Gesellschaften besteht, haben, verdienen diesen Respekt, obwohl ihrer Position widersprochen werden muss. Der absolute Wert der Menschenachtung beruht darauf, dass Meinungen, Einstellungen, Haltungen und Handlungen vom Menschsein als solchem unterschieden werden können und müssen. Die Achtung bezieht sich auf dieses Menschsein, während z.B. Handlungen kritikwürdig sein können, vor allem wenn sie dieser Achtung vor der Menschenwürde zuwider laufen.

Die Toleranz ist ein Wert, der aus diesem absoluten Wert abgeleitet ist und aus ihm seine normative und ethische Kraft sowie seine Attraktivität im Sinn des Fortschritts der Gesellschaften zu mehr Freiheit bezieht. Während ein absoluter Wert für die Änderungen in der Gesellschaft durch die jeweils aktuellen Herausforderungen nicht verfügbar ist, muss der relative Wert der Toleranz an diese Erfordernisse angepasst werden. Nur so kann eine Gesellschaft zugleich flexibel und stabil gegründet auf die Werte der Menschlichkeit sein.


Vgl. Die zweifache Grenze der Toleranz

Donnerstag, 6. April 2017

Die Löschtaste im Gehirn und wie wir sie nutzen können

Bei den Neurowissenschaftlern gibt es den Spruch: „Neuronen, die zusammen feuern, schließen sich auch zusammen“ (“neurons that fire together wire together.”) Der andere Spruch lautet: „Verwende oder verliere es“ („use it or lose it“). Damit ist die leicht verständliche Tatsache gemeint, dass Prozesse, die wir häufig nutzen, gestärkt werden, während solche, die wir selten einsetzen, verloren gehen können. Ähnlich wie der Gewichtheber mehr Muskelmasse in seinen Oberarmen entwickelt, entsteht im Gehirn mehr Neuronenmasse in den Bereichen, die intensiv genutzt werden. Dabei geht es nicht nur um die Anzahl der Nervenzellen, sondern vor allem um den Grad der Verdichtung der synaptischen Verbindungen zwischen diesen Zellen. Je mehr also einer der Schaltkreise im Gehirn genutzt wird, desto stärker wird er und desto häufiger meldet er sich. Deshalb sagt man auch: „Übung macht den Meister“. Je mehr wir Klavier, Sprachenlernen oder Jonglieren üben, desto stärker werden diese Schaltkreise und desto mehr drängen sie sich in den Vordergrund. Wer gut Jonglieren kann, greift gerne zu den Bällen, um zu spielen, und die Lust darauf kann sich auch melden, wenn ein paar Äpfel oder Orangen greifbar sind.

Wissenschaftler wissen das schon seit langem. Jedoch rückt jetzt ein anderer Zusammenhang ins Zentrum des Interesses: Wir müssen nicht nur gute Nervenverbindungen aufbauen, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass alte, nicht mehr genutzte Schaltkreise stillgelegt und entsorgt werden. Um gut lernen zu können, müssen wir gut verlernen können. Diesen Vorgang nennt man „synaptisches Stutzen” (“synaptic pruning”).

Wir können zum Verständnis dessen das Gehirn mit einem Garten vergleichen, in dem jedoch statt Blumen, Obst und Gemüse synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen angepflanzt werden. Neben diesen Neuronen gibt es noch die Gliazellen, die ähnlich wie die Gärtner des Gehirns auftreten: sie sorgen dafür, dass die Signale zwischen bestimmten Neuronen beschleunigt werden. Andere Gliazellen dienen als Müllabfuhr und Reinigungspersonal, sie finden den Abfall im Gehirn und beseitigen ihn. Dann gibt es noch Baumbeschneider im Hirn, die als Mikroglia-Zellen bezeichnet werden. Sie stutzen die synaptischen Verbindungen. Die Frage ist, woran sie erkennen, welche beschnitten gehören?

Die Forscher beginnen gerade, dieses Geheimnis zu lüften, aber bisher ist schon bekannt, dass weniger genutzte Verbindungen durch ein Protein C1q (sowie auch andere) markiert werden. Wenn die Mikroglia-Zellen diese Markierung entdecken, dann hängen sie sich an das Protein an und zerstören – oder stutzen – die Synapse. Auf diese Weise schafft das Gehirn den physischen Platz, in dem neue und stärkere Verbindungen gebaut werden können, damit wir mehr und neue Inhalte lernen können.

Die Bedeutung des Schlafes


Wir kennen das Gefühl, dass sich der Kopf vollgefüllt anfühlt. Das geschieht besonders dann, wenn wir intensiv etwas Neues lernen, z.B. in einem neuen Job oder Hobby. Dabei muss das Gehirn eine Menge neuer Verbindungen aufbauen, aber diese sind zunächst recht ineffiziente, ad hoc-Verbindungen. Das Gehirn muss eine Menge von ihnen beseitigen, um elegantere und effizientere Wege zu bahnen. Diese Umbauaktivitäten finden während des Schlafes statt.

Wenn wir schlafen, schrumpfen die Zellen um bis zu 60 %, um für die Glia-Zellen Platz zu machen, die kommen und den Abfall wegräumen. Währenddessen stutzen sie die Synapsen. Die Erfahrung, dass wir nach einem guten Nachtschlaf besonders klar und schnell denken können, hat darin ihren Grund. Das läuft so ähnlich, wie wenn wir am Computer die Defragmentierung ablaufen lassen.

Deshalb ist auch ein gepflegter Mittagsschlaf besonders förderlich für die kognitive Leistungsfähigkeit. Schon ein 10- oder 20-minütiges Schläfchen gibt den mikroglialen Gärtnern die Chance, hineinzukommen, einige der unnützen Verbindungen zu beseitigen und Platz für das Wachsen von neuen zu schaffen.

Die Löschtaste im Gehirn


Es sind diejenigen synaptischen Verbindungen, die wir nicht oder kaum verwenden, die für die Entsorgung markiert werden; diejenigen hingegen, die wir häufig und gern verwenden, werden gut mit Glukose und Sauerstoff versorgt. Also sollten wir darauf achten, womit wir unser Gehirn beschäftigen.

Wenn wir viel Zeit damit verbringen, uns Sorgen über Dinge zu machen, die wir nicht beeinflussen können, statt uns mit Projekten zu befassen, die wir verwirklichen wollen, ist klar, warum wir dabei schlecht weiterkommen, während wir uns nicht zu wundern brauchen, dass unsere Gedanken dauernd neue Sorgen produzieren.

Bestand hat das, worauf wir uns konzentrieren! Buchstäblich kräftigt sich der Geist durch die Wahl, die wir für unsere gedanklichen Tätigkeiten treffen. Die innere Aufmerksamkeit stärkt genau das, worauf sie sich richtet, und die Entscheidung, dich immer wieder darauf zu konzentrieren und Ablenkungen zu unterbinden, befördert diesen Prozess noch zusätzlich.

Natürlich können wir kaum kontrollieren, was uns von außen widerfährt. Aus irgendeinem Grund fällt der Strom aus, und wir müssen uns darauf konzentrieren, die Störung zu beheben, wenn wir gerade mit etwas anderem beschäftigt sind. Wir hören von einer Katastrophe irgendwo auf der Welt und sind entsetzt, unsere Aufmerksamkeit wird davon in Anspruch genommen. Wir können aber damit mitwirken, wie weit wir uns durch die äußeren Störeinflüsse von unserer Tätigkeit ablenken lassen, wie viel Macht wir der Außenwelt über unsere Innenwelt geben. Wir können zumindest dabei mitentscheiden, was uns betrifft, und auf diese Weise können wir unsere eigenen neuronalen Verbindungen konstruieren und die schon bestehenden stärken. In gewisser Weise und innerhalb bestimmter Grenzen bauen wir uns das Gehirn, das wir für unsere Zwecke brauchen.

Statt dass wir uns auf das fokussieren, was uns blockiert, können wir uns auf das fokussieren, was uns in unserer Weiterentwicklung hilft. Statt uns Szenarien vorzustellen, die höchstwahrscheinlich nie eintreten werden, ist es besser zu meditieren. Machen wir unseren Geist klar. Bringen wir das Denken ins Jetzt und nutzen wir die mentale Energie für Dinge, die uns guttun und fördern.

Wenn wir unseren Verstand intelligent nutzen, werden wir intelligenter. Der Verlockung durch Dinge, die uns nicht guttun, zu widerstehen, macht uns vifer. Wenn wir etwas löschen wollen, was wir nicht mehr brauchen oder was uns lästig ist, müssen wir aufhören, daran zu denken. Auch wenn wir durch etwas daran erinnert werden, können wir den Fokus und die Aufmerksamkeit auf etwas anderes verschieben. Früher oder später werden diese Inhalte zum Entsorgen markiert und machen damit Platz für Neues.

Bewusstes Atmen und Gehirnreinigung


Eine weitere Hilfe zur Gehirnreinigung und zum Entsorgen verbrauchter Gehirnsubstanz bildet das bewusste Atmen. Insbesondere vom kohärenten Atmen wissen wir, dass es die Gehirnflüssigkeit (cerebrospinale Flüssigkeit) in Bewegung hält. Die kohärente Welle, die beim rhythmischen langsamen Atmen zwischen Nervensystem, Herzschlag und Blutkreislauf entsteht, wirkt auch auf die Gehirnflüssigkeit, die ebenfalls in ein rhythmisches Fließen versetzt wird. Über diese Flüssigkeit werden die Abfallstoffe, die von den Gliazellen entsorgt wurden, aus dem Gehirn abtransportiert, und wir können auch annehmen, dass damit altersbedingten Gehirnkrankheiten (Alzheimer, Parkinson) vorgesorgt wird.

Zur Quelle

Vgl. Der Vagus-Nerv

Donnerstag, 30. März 2017

Die Kommunikationsfähigkeiten der Ungeborenen

Sind wir ursprünglich Einzelgänger, auf das eigene Überleben programmiert, und gehen wir Beziehungen nur deshalb ein, weil wir uns Vorteile für dieses Überleben erwarten? Diese Auffassung ist prägend für viele Ansichten in der Philosophie, Anthropologie, in anderen Wissenschaften und Ideologien, bis hinein ins Alltagsbewusstsein. Sie hat aus meiner Ansicht ihre Wurzeln im materialistischen Bewusstsein, das dazu beigetragen hat, dass sich Solidargemeinschaften aufgelöst haben, bzw. dass es immer schwieriger wird, solche zu bilden. Wenn das stimmt, ist das Bild von Robinson Crusoe, der das Überleben auf einer einsamen Insel schafft und damit das Vorbild für die Einzelkämpfer-Existenz abgibt, ein Produkt der Neuzeit und ihrer Überlebensstrategie. 

Die andere Auffassung geht davon aus, dass wir von Anfang an als Individuen in Beziehungsnetzen miteinander verbunden sind. Was uns als Individuen ausmacht, ist u.a. die Art und Weise, wie wir mit Beziehungen umgehen und von ihnen geprägt werden. Nach dieser Auffassung gibt es ein beständiges Interaktionsgeschehen zwischen Individuen, das nicht erst erlernt wird, sondern von Anfang an besteht. Das auf das eigene Überleben programmierte Einzelwesen ist nach dieser Auffassung ein Abstraktum, etwas, das es in der Wirklichkeit nicht gibt. 

Die Wissenschaft hat einen interessanten Beleg für die zweite Auffassung präsentiert. Er ist unter dem Titel „Hallo Nachbar! Ungeborene Zwillinge ertasten einander im Mutterleib“ in der Public Library of Science erschienen. 

Hier der Bericht:
Dass Babys unmittelbar nach der Geburt mit ihren Mitmenschen Kontakt aufnehmen und beispielsweise deren Mimik imitieren, ist bekannt. Wie aber sieht es mit der Zeit davor aus? Wissenschaftler um Umberto Castiello von der Università degli Studi in Padua filmten per Ultraschall die Bewegungen von Zwillingen im Mutterleib und stellten fest: Die Föten beginnen schon ab der Mitte der Schwangerschaft, sich gezielt gegenseitig zu ertasten. Castiello und seine Kollegen hatten mitgezählt, wie oft die Zwillinge sich selbst, die Wand der Gebärmutter und das Geschwister in der Zeit zwischen der 14. und der 18. Schwangerschaftswoche berührten. Das Ergebnis: In diesem Zeitraum fassten die Kinder immer seltener sich selbst an, dafür aber häufiger den Uterusnachbarn. Bei den fünf untersuchten Zwillingspärchen habe sich außerdem gezeigt, dass die Föten die Geschwindigkeit der Bewegung an das jeweilige Ziel anpassten, berichten die Forscher. Nach Bruder oder Schwester holten die Kinder vorsichtiger aus, als wenn sie ihren eigenen Mund oder ihre Augen befühlten.& Für die Wissenschaftler ist damit klar, dass es sich um zielgerichtete Bewegungen handelte und nicht um unkoordinierte Reflexe. Aus den Ergebnissen geht nach Ansicht der Forscher hervor, dass das Miteinander beim Menschen instinktiv angelegt ist. Die nötigen Verschaltungen im Gehirn entstehen offenbar bereits während der Embryonalentwicklung.


Soweit der Bericht, der auf die erstaunlichen kommunikativen Fähigkeiten von ungeborenen Kindern hinweist. Sicher brauchen wir neuronale Schaltkreise im Gehirn, um diese Fähigkeiten steuern zu können. Doch könnte es sein, dass diese Fähigkeiten schon vor der Entstehung der entsprechenden Verschaltungen angelegt sind und über andere Kanäle funktionieren. 

Wenn diese Auffassung stimmt, haben wir es mit einem Universum zu tun, in dem jedes Element mit jedem anderen in irgendeiner Form der Kommunikation verbunden ist. Kommunikation ist nicht etwas, das wir irgendwann erlernen, sondern ist das Medium, in dem wir immer schon sind. Was wir lernen, sind bestimmte Techniken der Kommunikation, wie z.B. das Sprechen oder das Email-Schreiben. In Kommunikation wurden wir empfangen, in Kommunikation sind wir zu dem geworden, was wir sind, und durch Kommunikation entwickeln wir uns weiter und entfalten unsere Möglichkeiten und Potenziale, die wiederum dem großen Netz der Kommunikationen zugutekommen. 

Hier zur Quelle

Dienstag, 28. März 2017

Die Vorstellung von der Unsterblichkeit

Wir wissen nicht, was nach dem Tod ist und können darüber auch nichts wissen. Jeder, der behauptet, ein Wissen darüber zu haben, schwindelt. Denn Wissen erfordert authentische Erfahrung, und definitionsgemäß kann niemand, der tot ist, Erfahrungen machen und davon berichten. Tot zu sein heißt, dass alle Grundlagen für Erfahrungen, z.B. ein Nervensystem, und alle Grundlagen für Kommunikation, z.B. ein Sprachzentrum und Sprechorgane, ihre Funktionen eingestellt haben.

Wohl gibt es Nahtod- oder Fasttod-Erfahrungen, aber das sind andere Themen, weil diese Erfahrungen von Menschen gemacht wurden, die noch so weit am Leben waren, dass sie eben Erfahrungen machen konnten. Es berichtet die Bibel von Personen, die „von den Toten auferstanden“ sind, doch wissen wir nicht, ob es sich in diesen Fällen um Schein- oder Nahtote gehandelt hat, bzw. ob die Erzählung gar nicht die Absicht hatte, außergewöhnliche Fakten wiederzugeben, sondern Heilsbotschaften vermitteln wollte.


Menschen sind Empiristen


Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war (nihil est in intellectu quod non erat in sensu),  so der Grundsatz des Empirismus, der Lehre, die davon ausgeht, dass nur das als Erfahrung gelten kann, was auf Sinneseindrücken beruht. Der empiristische Grundsatz kann nicht einfach dadurch ausgehebelt werden, dass das Gegenteil behauptet wird. Die Beweislage für dieses Gegenteil ist dürftig, und jene für den Empirismus wird mit jeder neuen Entdeckung der Neurowissenschaften erhärtet. Wir verfolgen in diesem Zusammenhang  die erkenntnistheoretische Diskussion, die über den Empirismus hinaus vermutlich zum Konstruktivismus führt, nicht weiter, weil dieser Schritt zur hier diskutierten Thematik nichts Neues beiträgt.

Es gilt also festzuhalten: Wir können uns nicht einmal irgendetwas vorstellen ohne materielle, sinnlich wahrnehmbare Komponenten. Was oder wie wäre eine „rein geistige“ Vorstellung? Was immer uns dazu einfällt, was immer wir dabei imaginieren: Es zitiert immer etwas sinnlich Wahrnehmbares und ist zusammengesetzt aus Dingen, die wir in unserem Leben schon irgendwann gesehen haben. Einfaches Beispiel: Ein Engel ist eine menschliche Gestalt mit Flügeln, wie wir sie von Vögeln kennen.

Gott, soweit wir ihn uns überhaupt vorstellen dürfen – das ist ja in manchen Religionen verboten –, stellen wir uns zumeist als älteren männlichen Menschen mit Bart vor. Wir tun uns schwer, Gott als rasiert vorzustellen, so fest sind diese Stereotypen in uns verankert. Göttinnen-Vorstellungen sind zum verständlichen Ärgernis der Feministinnen und Feministen weitgehend unpopulär, und die Vorstellung von einem jugendlichen, sportlichen, intellektuellen oder, warum auch nicht, kindlichen Gott/Göttin erschiene uns kaum passend. Die Griechen und andere polytheistische Religionen hatten es einfacher, da waren im Pantheon alle möglichen Variationen der Imagination vertreten, aber eben alle mit menschlichen und allzu menschlichen Charaktereigenschaften.  Diese anthropomorphe, menschenähnliche Darstellung der Gottheiten ist eben von den monotheistischen Religionen genau deshalb kritisiert worden, und der eine Gott, der jenseits von solchen Vorstellungen gedacht wird, gilt als Fortschritt gegenüber der antiken Götterwelt.

Doch was bleibt von einem Gott ohne Bild? Die Idee? Auch diese ist nur eine Vorstellung, bedeutet doch das griechische Wort idea „Gestalt“, „Erscheinung“, „Aussehen“ oder „Urbild“, also etwas, das immer auch als gegenständlich aufgefasst wird.


Gibt es die reinen Gedanken?

 

So können wir nur noch zum „bloßen Gedanken“ Zuflucht nehmen. Der reine Begriff wäre  das vom Materiellen am weitesten entfernteste. Begriffe wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ usw. können wir nur denken, weil ihnen kein sinnlich wahrnehmbares Objekt entspricht. Dennoch können wir uns dabei ertappen, dass wir auch solchen Begriffen Bilder verpassen, die aus der Wahrnehmungswelt stammen, wie z.B. wenn wir beim Begriff „Freiheit“ die Freiheitsstatue vor uns sehen. Weit entfernt heißt hier, dass die Sinnesdaten über mehrere Schritte im Denkprozess weiterverarbeitet wurden.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Denken immer abhängig von materiellen Vorgängen ist, also von neuronalen Prozessen, die im Gehirn ablaufen. Wir merken das daran, dass wir im Tiefschlaf, aber auch bei einem Blackout nichts denken können, auch wenn wir wollten, weil unser Organismus es nicht zulässt. Wir haben in solchen Situationen nicht nur keine Gedanken, vielmehr ist das Denkvermögen als solches ausgeschaltet.

Nicht einmal die so „reine“ und prinzipiell gegenstandslose Mathematik schafft es, in uns ohne Vorstellung zu existieren. Selbst wenn wir die völlig abstrakte Operation einer Rechnung durchführen, sehen wir im Inneren die Zahlen vor uns; in der Geometrie gibt es ja das Beispiel der Linie, die als mathematische Linie gar nicht sichtbar sein sollte, weil sie nur eine Dimension hat, und jede gezeichnete Linie streng genommen ein Quader mit ganz minimaler Breite ist. Sobald wir von Linie reden, sehen wir einen derartigen Strich, während wir die abstrakte eindimensionale Linie nur als Denkmöglichkeit verstehen können und bei dieser Vorstellung innerlich immer mit dem Kopf schütteln, weil sie unserem so stark auf die Imagination vertrauenden Verstand absurd vorkommt.


Bilder vom Weiterleben


So sind sie beschaffen, die Vorstellungen von der Unsterblichkeit: Ob Paradies oder Hölle, ob Bardo-„Raum“ oder Reinkarnations-Warteraum, alles beinhaltet Bilder aus unserer jetzigen Erfahrungswelt, und ohne diese gibt es auch keine Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tod. Wir können die Negationsfunktion unserer Sprache nutzen, um eine adäquate Beschreibung dieser Denkmöglichkeit zu liefern, indem wir z.B. sagen: Nicht so wie unsere sinnliche Welt, nicht so wie die Fantasien, die wir in unserem Kopf produzieren etc. Aber diese Denkoperation mittels Negation demonstriert wiederum nur unsere fundamentale Abhängigkeit von der sinnlichen Wahrnehmungswelt und liefert uns keinerlei Informationen im positiven Sinn, also darüber, wie oder was da in dem Sein nach dem Tod geschehen wird. Alles, was uns bleibt, ist das bescheidene Eingeständnis, dass wir darüber nichts wissen und nichts wissen können, und dass jede Vorstellung, die wir davon bilden, auf reiner Fantasie beruht, also Eigenproduktion ohne äußeren Wirklichkeitscharakter ist.


Über den Sinn des Imaginierens


Vorstellen hat auch seinen Sinn, es kann unsere Angst vor dem Sterben und vor dem eben Unvorstellbaren des Nicht-mehr-Existierens lindern. Es ist aber dennoch immer das Verwenden einer Illusion, die wir uns da aufbauen, und wenn wir uns der Angst in uns wirklich stellen, merken wir vielleicht, dass wir die Illusion nicht mehr brauchen und dass wir es doch schaffen, mit einer absoluten Grenze unseres Wissens und unserer Sicherheit leben zu können, die mit dem Tod markiert ist.


Mystik und Unsterblichkeit


Jetzt lebe ich, und wozu sollte ich mich damit beschäftigen, was nach dem Ende dieses Lebens sein wird, noch dazu, wo ich erkannt habe, dass es nur Spekulationen und Fantasien sind, die uns von religiösen und esoterischen Predigern  angeboten werden und  von denen wir uns aussuchen können, was uns gefällt? Begräbnisinstitute haben verschiedene Angebote: Bestattung mit/ohne Messe, mit/ohne Kränze usw. Der Jahrmarkt der Weiterlebenslehren erinnert daran: Wollen Sie nach christlicher, buddhistischer, hinduistischer, synkretistischer oder esoterischer Lehre nach Ihrem Tod weiterleben? Sie werden doch nicht einfach ins Nichts eingehen wollen bei so vielen verlockenden und interessanten Angeboten?

Die verschiedenen Angebote dürften nicht einmal einen Preisunterschied aufweisen, weil sie alle gleich viel wert sind: Gut für einen Trost und für die Verdrängung der Todesangst, auch für den Zeitvertreib und die Unterhaltung, siehe unten. Schlecht sind sie allesamt für die Angstlösung und innere Befreiung. Sie alle bauen, wie gute Marketingstrategien überhaupt, auf Ängsten auf und verstärken diese mit ihrem Produkt. Die Angst vor dem Ungewissen, das am Ende des Lebens lauert, ist nicht einfach zu verdauen. Da ist es bequemer, eine der Lehren, die ewiges Heil in der einen oder anderen Form versprechen, zu adoptieren.

Der Mystiker geht den unbequemeren Weg und konfrontiert sich direkt mit den Ängsten. Was wäre, wenn es nichts, überhaupt nichts mehr gäbe nach dem Tod, wenn alles, was wir jetzt sind, vergehen und verschwinden würde, unser Körper, unsere Seele, unser Geist? Wie würde ich mich jetzt fühlen? Was für einen Unterschied würde es für die Qualität meines Lebens im Jetzt machen?

Ein Zen-Meister wird gefragt: "Meister, sag mir, was nach dem Tod sein wird." Er antwortet: "Was fragst du mich jetzt? Jetzt lebe ich noch."

Zum Abschluss dieses ernsten Themas noch ein Witz, deren es aus verständlichen Gründen gerade in diesem Zusammenhang nicht wenige gibt.

Im Himmel drohte Überfüllung. Deshalb entschied der Heilige Petrus, nur Menschen hineinzulassen, die einen wirklich schlimmen Todestag hatten. Am ersten Morgen dieser neuen Politik sagte Petrus zum ersten Mann in der Schlange: „Erzähl mir über den Tag, an dem du gestorben bist.“
Der Mann sagte: „Ach, das war schrecklich. Ich war mir sicher, dass meine Frau eine Affäre hatte. Deshalb kam ich vorzeitig von der Arbeit nach Hause. Ich suchte überall in der Wohnung, konnte aber den Liebhaber nicht finden. Schließlich ging ich auf den Balkon, wo ich den Mann fand, der sich gerade noch mit den Fingern am Rand des Balkons festhielt. Ich holte einen Hammer und schlug ihm auf die Finger. Er fiel hinunter, aber landete auf einem Busch und kam davon. Also ging ich nochmals hinein, holte den Kühlschrank und hievte ihn über das Balkongitter. Er zermalmte ihn, aber wegen der Anstrengung mit dem Kühlschrank bekam ich einen Herzinfarkt und verstarb.“
Petrus konnte nicht leugnen, dass das ein schrecklicher Tag war und dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelte, so ließ er den Mann in den Himmel. Dann fragte er den nächsten in der Reihe.
„Nun, bei mir war es schrecklich. Ich machte Aerobic auf dem Balkon meiner Wohnung und rutschte dabei über die Balkonkante. Ich konnte mich gerade noch am Rand des Balkons der Wohnung unterhalb anklammern, aber dann kam ein Wahnsinniger heraus und schlug mit einem Hammer auf meine Finger ein! Ich fiel, aber landete im Gebüsch und lebte. Doch dann kam dieser Typ erneut heraus und warf einen Kühlschrank auf mich! Das reichte dann.“
Sankt Peter schluckte ein wenig und ließ ihn in den Himmel. „Erzähl mir von deinem letzten Tag“, sagte er zum dritten Mann in der Schlange.
„Gut, stellen Sie sich das vor: Ich bin nackt, sitze in einem Kühlschrank …“

Und zu ganz guter Letzt noch einer:

André hatte es in den Himmel geschafft. Er fragte, ob er seinen alten Freund Pierre in der Hölle besuchen könnte. Der Wunsch wurde ihm gewährt, und der Teufel höchst persönlich führte ihn zur privaten Suite seines Freundes.
Da saß Pierre in einem Liebesstuhl mit einer tollen nackten Frau am Schoß, einem Tablett mit Vorspeisen auf dem Tischchen neben ihm und einer Champagner-Flöte in der Hand. André konnte seinen Augen nicht trauen. „Das ist die Hölle?“ rief er aus.
„Aber ja“, seufzte Pierre. „Diese Frau, sie ist meine erste Gattin. Der Käse kommt aus Belgien. Und dieser  ‚Champagner‘  – was soll ich sagen? – der ist nicht einmal echt, der kommt aus Kalifornien!“


Vgl. Theologie und Mystik zum Weiterleben 
Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit
Was kommt nach dem Leben? 
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele 

Sonntag, 26. März 2017

Der Terror und die Gewalt in uns allen

Was macht einen Terroranschlag so schrecklich? Jemand bringt wahllos Menschen um, verletzt noch viele andere mehr, Leid wird erzeugt, und die medial angeschlossene Welt erstarrt für einen Moment angesichts des Grauens. Dann wird nach den Schuldigen gefragt und nach Strategien, damit so etwas nie mehr passieren wird. Das ist schrecklich und sollte nicht geschehen. Es ist aber geschehen und Ähnliches wird wieder geschehen, und die Frage bleibt, wie wir auf solche Ereignisse reagieren und warum wir so reagieren, wie wir reagieren.

Die Wahrscheinlichkeit, an einem Unfall im eigenen Haushalt umzukommen, ist wesentlich höher als die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Terroranschlags zu werden, überhaupt in unseren Breiten. Der letzte Terroranschlag in Österreich fand vor fast vierzig Jahren statt. Wir sollten also wesentlich weniger Angst vor Terroranschlägen als vor Autounfällen und Herzanfällen haben.


Allerdings geht es um Gefühlsreaktionen, nicht um logische Risikoberechnungen. Unsere Gefühlszentren funktionieren nicht nach statistischer Rationalität. Sie haben ihre eigene Logik, die definiert, was schrecklich ist.

Was ist das Schreckliche am Schrecklichen?


Wir sind entsetzt darüber, wie unmenschlich Menschen sein können, wie wenig Respekt und Achtung sie für das Leben anderer haben können, wie leichtfertig sie mit dem Leben anderer und dem eigenen umgehen, um irgendwelche ideologischen Ziele zu propagieren. Mit dem Entsetzen setzen wir uns auf die andere Seite: Wir sind die respektvollen, achtungsvollen Menschenfreunde, und die auf der anderen Seite sind die Menschenfeinde, die zu jeder Unmenschlichkeit bereit sind. Wir haben Angst vor den anderen und müssen alles tun, was in unserer Macht liegt, um sie zu bekämpfen und zu beseitigen. Wir müssen uns absichern, wie vor jeder Gefahr, aber besonders vor dieser, weil sie eben von Menschen ausgeht, die eigentlich menschlich sein sollten, aber sich unmenschlich verhalten.

Unmenschlichkeit bedroht unser eigenes Menschsein, nicht nur von außen, sondern auch von innen. Deshalb können wir, wenn wir tiefer blicken, entdecken, dass wir Angst vor dem Unmenschlichen in uns selber haben. Wir sind ja genauso Menschen wie die Terroristen und das heißt, dass wir alle in uns einen potenziellen Terroristen haben. Von unseren Möglichkeiten her sind wir zu den gleichen Gräueltaten fähig wie jeder Jihadist, nur verfügen wir über Kontrollmechanismen, soziale Hemmungen, tragfähige Beziehungen, abgesicherte Lebensverhältnisse usw., die uns daran hindern, solche Impulse auszuleben. Wir haben unsere Projektionen so weit im Griff, dass sie sich nicht in maßlos gewalttätigen Aktionen entladen müssen.

Wir haben sie allerdings so weit nicht im Griff, als wir mit Abspaltung reagieren. Denn wir spalten die Welt in Gut und Böse, damit wir uns mit den Drachen in uns selber nicht auseinandersetzen müssen. Allenfalls lassen wir ein paar Hasspostings los oder werten andere Leute in unserer Umgebung ab, damit beweisen wir uns, wie gezähmt wir doch mit unserer Aggressivität umgehen können.  Die Abspaltung: Innen gut – außen böse wird stabilisiert.

Jede Abspaltung bindet Energien und Ressourcen und schwächt die  Selbstverantwortung. Deshalb entsteht schnell ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber der Terrorbedrohung, und viele wünschen sich aus diesem Grund einen starken Staat, am besten mit einem „starken Mann“ an der Spitze, der mit machtvoller Hand die Bedrohung mit einem Schlag vernichtet.

Diese Hilflosigkeit, die eine weit verbreitete Reaktion auf die Terrorgefahr darstellt, ist wiederum vor allem die Hilflosigkeit gegenüber den eigenen inneren Schattenseiten und spiegelt interessanterweise die Hilflosigkeit wider, die sich in den Taten der Terroristen ausdrückt: Mit einigen Morden die gehasste westliche Gesellschaft und Kultur zerstören oder der eigenen Religion zum Durchbruch verhelfen zu wollen. Hilflosigkeit gibt es nur dort, wo die Verantwortung nicht übernommen wird.

Sicherheit über Information


Warum wollen wir alles wissen, was sich im Zusammenhang mit einem Terroranschlag erfahren lässt? Wir glauben uns dadurch besser schützen zu können, wenn wir die Quelle der Bedrohung identifizieren können und über sie Bescheid wissen. Doch ist diese Schutzmaßnahme immer auch gegen uns selber gerichtet: Wir wollen mit den dunklen Seiten in uns selbst nicht in Kontakt kommen und nutzen dafür die Informationen über ein klares Bild, wer der Täter ist, wie die Tat vorbereitet und begangen wurde und warum sie verübt wurde. Dieses Bild versichert uns, dass wir die Situation zumindest ein wenig unter Kontrolle haben und dass mit diesem Wissen zukünftige Untaten verhindert werden können.

Intern dient das Sammeln und Abspeichern von Informationen dem Schutz vor unseren inneren Dämonen, der Abwehr vor den eigenen Schattenseiten. Je mehr wir über die Bösen wissen, desto besser hält die Teilung der Welt in die Guten und die Bösen. Je eindeutiger die Informationen sind, (z.B. wenn der Täter als Flüchtling ins Land gekommen ist), desto einfacher ist die Einteilung und Einordnung und desto simpler die Lösung (z.B. keine Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen). Der Hass überträgt sich auf alle Politiker, die solche Lösungen nicht mittragen. Sie sorgen nicht effektiv genug dafür, zu verhindern, dass wir selber nach innen schauen müssen, sobald wir Hass spüren.

Wie wir zur Friedfertigkeit kommen


In den inneren Frieden können wir erst kommen, wenn wir den Frieden mit unseren inneren Gewaltanteilen gefunden haben. Dann können wir den Hass, den wir – verständlicherweise, weil wir alle Menschen sind – auf die Täter empfinden, in ein neutrales und schließlich in ein verständnisvolles Gefühl umwandeln. Und das ist auch ein wichtiger, wenn vielleicht auch kleiner Teil für die Befriedung dieser Welt. Hass schürt Hass, Liebe vermehrt Liebe.

Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten, heißt es. Wer die eigene innere Gewaltbereitschaft annehmen kann, wird Friedfertigkeit säen und ernten.


Zum Weiterlesen:Der Terrorismus und unser Kopf
Ist der Terror islamisch?
Islamischer Terror und der Schaden für den Islam
Das Gute und das Böse

Donnerstag, 23. März 2017

Der erste Atemzug aktiviert das Immunsystem

Nach dem ersten Atemzug verändert sich die Lunge so stark wie kein anderes Organ. Vor der Geburt hat die Lunge keine Funktion, das ist bei Menschen und Mäusen ähnlich. Sie wird zwar schon vortrainiert durch verschiedene Muskelbewegungen, die das Ungeborene vollzieht, ist aber noch von einer Flüssigkeit ausgefüllt und wird von der Plazenta direkt durchblutet, während das körpereigene Gefäßsystem das Organ umgeht. Beim ersten Atemzug, der beim Menschen mit einem kräftigen Schrei verbunden ist, wird die Flüssigkeit vom Körper absorbiert. Die Lunge entfaltet sich und wird ab jetzt voll durchblutet. In den nächsten drei Wochen entwickelt sich die Lunge zu dem, was sie den Rest des Lebens sein soll: Das zentrale Atmungsorgan. Durch das plötzliche Aufdehnen der Lunge und durch den ersten Schrei werden bestimmte Mediatoren freigesetzt, darunter ein Zytokin, das Interleukin 33, das dann einen großen Einfluss auf andere Immunzellen hat.

Im Körper der Mutter war die Lunge noch keimfrei. Doch danach braucht die Lunge eine gut funktionierende Immunabwehr, denn mit jedem Atemzug strömen Schadstoffe und Bakterien in die Lunge ein. Dieses Immunsystem wird ebenfalls mit dem ersten Atemzug aktiviert. In einer Kettenreaktion. IL 33 wird ausgeschüttet und aktiviert IL2-Zellen, spezielle weiße Blutkörperchen, die in die Lunge einwandern. Das führt dazu, dass die wichtigsten Immunzellen, die Alveolamakrophagen,  in den Atemwegen ihre Arbeit aufnehmen.

Die IL2-Zellen sind wichtig für das Aufrechterhalten eines Gleichgewichts. Einerseits sollen Schadstoffe abgewehrt werden, andererseits soll nicht überreagiert werden.  Das Immunsystem wird durch die IL2-Zellen gleich wieder heruntergeschraubt. Das hat aber auch einen Nachteil, weil Bakterien eine größere Chance haben, sich im Körper breitzumachen.

Der erste Atemzug kann mehr oder weniger gut funktionieren. Die Wehen spielen eine wichtige Rolle, auch der Temperaturschock kurz nach der Geburt ist ein wichtiger Auslösefaktor.  Für den Lungenstartschuss haben nicht alle Babys die gleichen Voraussetzungen. Kaiserschnittkinder sind im Nachteil.

Dies ist der leicht geglättete Text eines Beitrages auf Ö1 über die Forschungsarbeit von Sylvia  Knapp von der Medizinischen Universität Wien, gesendet am 3. März 2017 unter dem Titel „Der erste Atemzug und das Immunsystem“ (Dimensionen der Wissenschaft um 19:05) – von mir transkribiert.

Kommentar:
Auch in diesem Zusammenhang erscheint der Kaiserschnitt als nachteilig für die Gesundheit der Kinder. Er stellt einen künstlichen Eingriff in einen Vorgang dar, der von Natur aus seine innere Logik hat, hier dargestellt im Zusammenhang mit der Entwicklung des Immunsystems in der Lunge. Wenn dieser Prozess nicht stattfinden kann, fehlen wichtige Komponenten, die das Kind dann auf andere Weise später aufbauen muss.

Der Artikel verleitet in einem Punkt zur Verstärkung eines bekannten Vorurteils: Je stärker der Schrei des Babys nach der Geburt, desto besser für die Gesundheit und Robustheit des Babys. Auf meine Anfrage dazu schreibt die ORF-Redaktion zurück: „Frau Ronzheimer hat in dem Beitrag über deren (Sylvia Knapps) aktuelles Forschungsprojekt berichtet. Ihres Wissens nach ist der erste Atemzug und der damit meist verbundene Schrei ausschlaggebend für die Entwicklung des Immunsystems der Lunge. Das Immunsystem entwickelt sich laut Silvia Knapp auch bei einem Kaiserschnitt, also unter nicht idealen Umständen, normal, aber eben nicht so gut wie bei einer natürlichen Geburt. Ob der Schrei ausschlaggebend ist, kann Frau Ronzheimer nicht sagen, es ging um den ersten Atemzug. Bei einem Schrei ist der natürlich tiefer.“

Natürlich erfordert ein Schrei einen tieferen Atemzug. Doch sind viele Geburtsforscher der Ansicht, dass der Schrei durch die abrupte Durchtrennung der Nabelschnur ausgelöst wird. Babys, denen die Nabelschnur zum Auspulsieren gelassen wird, fangen meistens langsam und behutsam, also ohne Schrei, zu atmen an. Sie leiden also nicht unter dem Plazenta-Trauma, das im anderen Fall vermutlich der emotionale Auslöser des Schreies ist.


Vgl. Kaiserschnitt - Die Geburtsmethode der Zukunft?
Kaiserschnitt - Ein feministisches Thema
Warum die Geburt im Krankenhaus gelandet ist

Montag, 20. März 2017

Die Typenwahl im Enneagramm

Wie wird man zu einem Enneagramm-Typen?

Das Enneagramm geht davon aus, dass jeder Mensch eindeutig einem der neun Typen zugeordnet werden kann, bzw. sich selber zuordnen kann. Das unterscheidet dieses Modell von anderen Persönlichkeitsmodellen, bei denen es auch Misch- oder Zwischentypen gibt. Der Vorteil liegt darin, dass das Festgelegtsein auf einen Typus das Ausweichen vor den eigenen Aufgaben, aber auch Stärken erschwert. Wer den eigenen Enneagrammtypen kennt, weiß ziemlich genau, in welche Richtung die Innenarbeit gehen muss, wo die Schwächen liegen und wie die Schattenbereiche aufgearbeitet werden sollen.

Häufig bedarf es einiger Zeit der Beschäftigung mit dem Modell, bis uns der eigene Typ so klar ist, dass wir keine Zweifel mehr haben. Dann können wir uns immer darauf beziehen, wenn wir im Leben auf problematische Situationen stoßen, in denen uns ein musterhaftes Reaktionsverhalten deutlich wird und wir die Richtung suchen, in der wir es verändern und auflösen können.

Wie aber erwerben wir gerade diesen und nicht einen anderen Typ? Sind es Lebensereignisse, die prägend wirken, sodass wir ab dann für immer auf den Typ festgelegt sind, haben die Eltern etwas damit zu tun oder gibt es irgend eine äußere Instanz, die den Typ zuordnet?

Bei den meisten Autoren wird das Enneagramm so verstanden, dass der Typ von Anfang an festliegt. Wenn wir diese Auffassung des Enneagramms ernstnehmen, kann es nur eine Antwort auf diese Frage geben, nämlich die, dass es keine Antwort gibt. Das Modell findet seine Anwendung auf eine bestimmte Person und trifft auf den gesamten Lauf ihres Lebens, von der Zeugung bis zum Tod zu. Der Enneagramm-Typ bildet ein bestimmtes Schwergewicht im Leben jedes Menschen, das wir für unsere Innen- und Außenorientierung nutzen können. 

Gäbe es bestimmte Bedingungen, die einen Typ festlegen, wie z.B. Konstellationen bei der Empfängnis oder bei anderen frühen Entwicklungsereignissen, dann müsste es neun davon geben, die dann den Typen zugeordnet werden könnten. Und es würde sich die Frage stellen, warum gerade welche dieser Entwicklungsereignisse für eine bestimmte Person prägend und für andere nicht bedeutsam sind.


Das pränatale Enneagramm


Es gibt den interessanten Versuch, die Enneagramm-Typen bestimmten pränatalen Erfahrungssituationen zuzuordnen:
Hier einmal das Modell, das Clarence Dowling und Dirk Leinweber aus der Sicht der Pränatalpsychologie vorlegen. Sie nennen das Modell Primär-Enneagramm und gehen von drei Grunderlebnissen aus:
1. Die Beziehung zur Plazenta als dem ersten Liebesobjekt. „Diese Beziehung wird real erlebt und gesteuert über unser Herz und unseren Blutkreislauf. Dieses vorgeburtliche Beziehungserlebnis prägt all unsere späteren Beziehungen.“ (Leinweber)
2. Der Versuch des Kindes, während  der Geburt den Kopf, insbesondere den Kreislauf zum Gehirn, zu schützen. „Dieses Grunderlebnis prägt unser Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz, Wissen und Orientierung im späteren Leben.“ (Leinweber)
3. Die Austreibungsphase, in der das Kind die Bauch-, Becken- und Beinenergie einsetzen muss. Dort wird das Autonomiegefühl geprägt.

Leinweber meint nun, dass diese drei Grunderlebnisse den Grundenergien der Enneagrammtradition entsprechen: Herz (2, 3, 4), Kopf (5, 6, 7) und Bauch (8, 9, 1), also die Dreier-Matrix, die mit den jeweils drei Typen zur Neuner-Matrix wird. Diese drei Typen wiederum unterscheiden sich durch die Art der Stressverarbeitung: blockiert (3, 6, 9), übertrieben (2, 5, 8) oder implodiert (4, 7, 1). Damit ist das Raster der neun Typen vollständig. Also ist z.B. der Dreier ein Herztyp mit blockierter Stressverarbeitung.

Was die Erklärung so verfänglich macht, ist zugleich ihre Schwäche. Zuerst das Herz, dann der Kopf, dann der Bauch, schön angeordnet wie im Kreis des Enneagramms. Aber man könnte die Prägungsreihe ganz anders auch ansetzen: Zuerst entwickelt der embryonale Organismus Körpergewebe (bei den ersten Zellteilungen), dann das Gehirn (3. Woche), und dann das Herz (6. Woche). So geht die Richtung andersrum im Kreis. Die Erklärung erklärt sich aus dem Erklärten. Es gibt keine zwingende Logik, vielmehr zeigt sich hinter dem Augenschein eine willkürliche Zuordnung, die anders auch Sinn machen würde.

Weiters stellt sich die Frage, warum manche ungeborenen Kinder von Phase 1, andere von Phase 2 und die dritten von Phase 3 traumatisiert werden; da müsste ja schon eine bestimmte innere Disposition vorliegen, die dann gerade diese Situation als extrem belastend und die anderen nicht oder weniger schwierig erlebt. Und dann wollen wir wissen, wann sich diese Disposition bildet und warum gerade zu diesem Zeitpunkt bei den einen und zu einem anderen bei anderen.

Alle Kinder müssen durch alle Erfahrungen in der komplexen Embryonalentwicklung durchgehen, und was sie jeweils an Belastungen mitnehmen, hängt von vielen Faktoren ab, die bis in die komplexen Beziehungsfelder sowie in die Kultur reichen, in denen sich die schwangere Mutter mit ihrem Baby befindet.  Natürlich gibt es Unterschiede in der Entwicklung – die einen haben eine leichtere und die anderen eine schwerere Geburt. Beides wird Auswirkungen auf das weitere Leben haben. Aber diese Unterschiede lassen sich nicht einfach kategorisieren mit dem Ergebnis, dass

Wenn es stimmt, dass die Beziehung zur eigenen Plazenta die Beziehung zu allen späteren Liebespartnern prägt und deshalb auch mit der Herzenergie verbunden ist, dann ist schwer verständlich, warum das gerade bei jeder dritten Person so wichtig ist und bei den anderen nicht. Schließlich gibt es kaum Menschen, für die Beziehungen keinen zentralen Stellenwert im Leben haben, und die Gestaltung dieser Beziehungen wird bei allen von den Plazenta-Erfahrungen mit beeinflusst, wenn nicht sogar maßgeblich geprägt sein.

Warum sollen gerade bei ungefähr einem Drittel der Menschen die Plazentaerfahrungen problematisch bis traumatisierend ablaufen, und bei einem anderen Drittel die Austreibungsphase? Wodurch wird die Stressverarbeitung bei pränatalen Erfahrungen so gelenkt, dass sie bei ungefähr einem Drittel blockiert, beim nächsten übertrieben und beim letzten Drittel implodierend abläuft?


Das Typen-Apriori


Die Festlegung des Enneagrammtyps ist also eine apriorische Voraussetzung des Modells, die ein wichtiges Element seiner Wirkkraft bildet. Apriorisch heißt, dass sie eine Grundlage des Modells darstellt, die im Rahmen des Modells selber nicht erklärt werden kann, einfach gesagt: Willst du mit dem Enneagramm arbeiten, musst du diese Voraussetzung akzeptieren. Sie garantiert den maximalen Erfolg der Arbeit. Wir sollten bei dieser Arbeit nie vergessen, dass wir es mit einem Modell zu tun haben, dessen Existenz durch die praktische Anwendbarkeit gerechtfertigt ist. Es ist also ein Werkzeug, das wir für unsere Innenentwicklung und Befreiung nutzen können. Es hat selber keine Wirklichkeit, sondern es stellt uns einen Filter zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir die Komplexität der Innenwelt vereinfachen können, um sie leichter handhaben zu können.

Das Primär-Enneagramm nach Dowling und Leinweber verhilft uns dabei zu einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn: Wenn wir erkannt haben, welcher Enneagrammtyp wir sind, können wir hier genauer nachschauen, was sich nach diesem Modell in der prä- und perinatalen Zeit abgespielt haben könnte und welche Folgen das hinterlassen hat. Allerdings, wenn wir z.B. ein Kopftyp sind,  enthebt uns das nicht der Nachforschung, welche Erfahrungen wir mit Plazenta und mit der Austreibungsphase gemacht haben, wenn wir unsere Pränatalgeschichte erforschen.

Deshalb sollten wir auch mit Aussagen vorsichtig sein, die dem Enneagrammtyp den Charakter einer Eigenschaft geben, die objektiv und faktisch vorliegt, wie unsere Haarfarbe oder Körpergröße. Wir „sind“ nicht ein Enneagramm-Einser usw. in dem Sinn, wie wir Europäer oder Schulabsolventen sind, d.h. der Enneagrammtyp hat nichts mit unserer Identität zu tun. Unser Typ ist also keine Eigenschaft, die uns anhaftet, sondern eine relative Betrachtensweise, die wir auf uns selber anwenden können, wenn wir sie brauchen.

Wir sind partielle Nutzer des Modells, das wir am besten ausschöpfen, wenn wir so tun, als wäre der Typ der Kern unserer Identität. Sobald wir das Modell nicht nutzen, hat auch der Typ als solcher für uns keine Bedeutung, zum Unterschied von unserer Identität, die unsere Wirklichkeit in jedem Moment ausmacht. Wir können also nicht ohne Identität, sehr wohl aber ohne Enneagrammtyp sein.  Umgekehrt gilt, dass der Enneagrammtyp (im Rahmen des Modells, d.h. nicht in der Wirklichkeit) bestehen bleibt und immer schon fixiert war, während die Identität eine fließende Wirklichkeit darstellt, die sich permanent verändert. Damit diese Veränderungsbewegung mehr und mehr von unserem Bewusstsein durchdrungen wird, dient uns das Enneagramm als nützliches Werkzeug.


Zum Weiterlesen:
Enneagramm und frühe Prägung
Enneagramm und Entstehung des Lebens

Reaktionsweisen auf die Scham nach dem Enneagramm

Samstag, 18. März 2017

Über das Trauern

Wilhelm Lehmbruck: Sitzender Jüngling
Wenn uns ein Mensch verlässt, der uns nahe steht, trauern wir. Der Schmerz, den wir dabei spüren, hat damit zu tun, dass wir uns nicht nur von einem lieben Menschen, sondern auch von einem Teil von uns selbst verabschieden müssen, dem Teil, in dem dieser Mensch in uns „gewohnt“ hat. Diese Wohnung ist jetzt verwaist, und sie muss aufgelassen werden, damit sich unsere Identität neu formieren kann. Wir sind nach einem solchen Verlust nicht mehr dieselben, die wir vorher waren. Das Trauern hilft uns dabei, dass wir uns in der neuen Form wiederfinden können.

Das Weinen als Trauerreaktion ist ein intensives Gefühl und es bewirkt, dass wir uns auf uns selbst zurückziehen. Es verbindet uns stark mit uns selbst, alles andere um uns herum wird plötzlich nebensächlich. Wir gehen ganz nach innen und sind ganz bei uns selbst. Wir stärken dadurch unsere Selbstbeziehung. Denn unsere Selbstbeziehung nährt und wächst durch Beziehungen zu anderen Menschen. Wenn eine dieser Beziehungen im außen nicht mehr möglich ist, müssen wir die Beziehung zu uns selbst neu errichten und in uns festigen. Dabei hilft uns das Trauern. Wir kehren ein bei uns selbst, um uns zu trösten, zu laben und zu kräftigen. Wir reorganisieren unser verletztes Selbst, sodass es wieder ganz werden kann.

Gelingt uns dieses Trauern aus irgendeinem Grund nicht, dann schwächt uns der nicht verarbeitete Verlust langfristig. Unsere Selbstbeziehung hat Schaden erlitten, der nicht gutgemacht ist, und wir verlieren an Kraft und Sicherheit. Wir können die Leere, die der verstorbene Mensch hinterlassen hat, nicht füllen und werden immer wieder von ihr eingeholt. Sie lähmt uns und bindet Lebensenergien. Wir laufen Gefahr, statt zu trauern depressiv zu werden.


Die soziale Funktion der Trauer


Die Trauerreaktion hat noch einen anderen Sinn. Sie sendet ein starkes soziales Signal aus.  Wenn wir weinen, zeigen wir uns verletzlich und schwach. Wir sind für niemanden eine Bedrohung, wir lösen keine Angst aus, im Gegenteil, wir sind hilfsbedürftig und weitgehend handlungsunfähig. Wer uns in dieser Lage mit Empathie begegnet, wird den Impuls spüren, uns zu halten und zu trösten. Wir bekommen sozialen Zuspruch und emotionale Zuwendung von Menschen, die uns wohlgesonnen sind. Das vertieft diese Beziehungen, und wir festigen auf einer tieferen Ebene unsere Überzeugung darüber, dass wir nicht alleine sind und dass das soziale Leben weitergeht, auch wenn es an einer Stelle unterbrochen wurde. 


Das Gedenken und das Vermächtnis


In diesem Sinn gedenken wir auch der Verstorbenen. Wir halten sie in unserer Erinnerung lebendig und geben ihnen einen Anteil an und in unserem Leben. Damit halten wir weniger eine Illusion aufrecht (ein Mensch, der verstorben ist, ist eben nicht mehr lebendig). Vielmehr bleibt die soziale Beziehung zwischen den Lebenden und den Verstorbenen bestehen, allerdings mit geänderten Vorzeichen: Es gibt eben kein lebendiges Gegenüber mehr, das aus sich heraus in der Kommunikation reagiert.  Dennoch wirkt die Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen weiter, in den Lebenden, die auch den Nicht-mehr-Lebenden Lebendigkeit verleihen können.

Wir schätzen Menschen über ihren Tod hinaus. Damit anerkennen wir, dass sie immer mehr sind als ihr Leben zwischen Geburt und Tod und  dass ihre Bedeutung über die Person hinausgeht, die sie waren.

Manchmal sprechen wir von einem Vermächtnis: Menschen hinterlassen etwas, das über ihren Abschied hinaus wirkt. Und das trifft nicht nur auf die berühmten Persönlichkeiten, wie z.B. Seneca oder Goethe, die in ihren Werken und Zitaten weiterwirken und Menschen seit Jahrhunderten immer wieder inspirieren. Das trifft auf alle Menschen zu: Jeder hinterlässt etwas, was nur er/sie hinterlassen kann, und das können hundert Kompositionen sein oder eine Art zu lächeln, ein Lieblingsspruch, ein Händedruck, eine Geste oder eine besondere Art sich umzublicken. All das kann bedeutsam sein und verdient Wertschätzung, und aus einer bestimmten Perspektive sind alle diese unterschiedlichen Vermächtnisse in ihrer Wertigkeit gleich. Letztlich und eigentlich geht es darum, die Person als Person in ihrer Einzigartigkeit und Ganzheit im Gedenken lebendig zu erhalten. Wir erinnern uns an sie, und wir fühlen uns bereichert und inspiriert und können anderen davon ein Stück weitergeben.


Das Ego und der Verlust


Der Verlust menschlicher Beziehungen ist ein Verlust an Möglichkeiten, und das ist der Grund, warum sich manchmal Wut in die Trauer mischen kann. Es wurde uns etwas weggenommen, was uns „gehört“ hat, und wir konnten nichts dagegen machen. Wir haben ein Stück Freiheit verloren, das wir an diesen Menschen geknüpft haben, und das wir in dieser Form nicht mehr leben können. Wir haben auch eine Möglichkeit verloren, unsere Liebe zu leben und auszudrücken. Aus spiritueller Sicht betrachtet, ist es das Ego, das um seine verlorenen Möglichkeiten trauert oder dagegen wütend rebelliert.

„Ich hätte noch so gerne dies oder jenes mit der Person getan oder gesprochen, warum musste sie so früh gehen, dass das nicht mehr möglich ist?“ So fragt das beleidigte Ego und beklagt seine Hilflosigkeit. Doch das trauernde Selbst weiß, dass es nur eine Möglichkeit hat, die neue Situation zu verarbeiten, indem im Zulassen des Schmerzes die Unausweichlichkeit dessen, was passiert ist und wie es passiert ist, akzeptiert wird.

Hier findet sich eine weitere Funktion der Trauer: Sie beruhigt das verletzte Ego und lässt es zurücktreten. Es hilft nicht, aus einer überlegenen Position zu dozieren, dass die ganze Trauergeschichte bloß eine Ego-Veranstaltung sei und wir dabei nur regressiven Gefühlsmustern nachhängen. Mit dieser selbstkritischen Haltung geschieht einzig und allein, dass sich das Ego selbst übertrumpfen will. Es ignoriert die vegetative und die soziale Funktion der Trauer.

Dazu eine Zen-Geschichte:

Ein Meister erhielt die Nachricht, dass sein Bruder verstorben sei. Daraufhin fing er bitterlich zu weinen an. Nach einiger Zeit kamen die Schüler und fragten ihn, warum er denn so weine, obwohl er ja immer gelehrt hatte, dass alle Phänomene nur Illusion seien und dass die Wahrheit nur im Annehmen der Unbeständigkeit alles Seins zu finden wäre. Da sagte der Meister: „Freilich ist es nur eine Illusion, aber es ist eine besonders schmerzliche.“


Wir können der Wirkung der Trauer vertrauen; wir können uns ihr ganz anvertrauen: Sie führt durch den Prozess des Abschiednehmens und der Verarbeitung des Verlustes bis zur Wiedererrichtung und Stärkung des sozialen Netzes. Indem alle Gefühle, die dabei auftauchen, akzeptiert und zugelassen werden, weitet sich das Bewusstsein über den eigenen Schmerz hinaus und etwas Größeres tritt ins Blickfeld, das alles umfasst, das Leben und das Sterben, das Glück und die Trauer.

Dazu noch eine Geschichte:

Ein berühmter Zenmeister pflegte immer wieder 48 Stunden lang zu weinen. Einer seiner Schüler sagte zu ihm: „Sie sind kein richtiger Meister. Sie lassen sich von ihren Emotionen überwältigen und heulen wie ein kleines Kind.“ Der Meister antwortete: „Meine Freiheit besteht darin, zu weinen, wenn ich traurig bin.“ Er war völlig eins mit seiner Trauer, als er traurig war. Und er war wirklich in der Tiefe seiner Traurigkeit. Der Erfolg davon war aber, dass er den größten Teil seiner Traurigkeit in 48 Stunden bewältigt hatte. Dann war’s vorbei.


Vgl. Das Ego und das Weiterleben nach dem Tod
Theologie und Mystik zum Weiterleben nach dem Tod