Freitag, 24. Oktober 2025

Atemerfahrung und Fremdenangst

Die Angst vor dem Fremden ist tief in den Menschen verwurzelt und stammt aus der tribalen Zeit. Fremde sind potenzielle Feinde. Deshalb ist Vorsicht mit allen geboten, die wir persönlich nicht kennen. So ist eine Prägung beschaffen, die durch das Oxytocin-Hormon* verstärkt wird. Solche tribalen Prägungen spielen eine Rolle in der frühen Kindheit und werden dann im Lauf des Aufwachsens schwächer. Kinder, deren Selbstvertrauen durch eine liebevolle Fürsorge gestärkt wurde, können dieses Misstrauen gegen das Fremde mit Neugier und Interesse am Fremden überschreiben. Sie entwickeln eine Haltung, mit der sie nicht von vornherein misstrauisch sind, wenn sie unbekannten Menschen begegnen. Nur ängstliche Menschen mit geringem Selbstwert bleiben bei dieser Angst und lassen sich dann als Erwachsene von Propaganda anstecken, die die Fremdenangst schürt.

Was sie dabei nicht bedenken, ist die Tatsache, dass wir als Menschen in einem beständigen Austausch mit dem Fremden leben und anders gar nicht überleben könnten. Am einfachsten zu verstehen ist dieser Zusammenhang, wenn wir an die Nahrungsaufnahme denken. Die Stoffe, die wir dabei aufnehmen, sind fremde Objekte, denen wir auf Grund von unseren Erfahrungen trauen. Indem wir sie essen, machen wir sie zu unserem Eigenen, um die Reste dann wieder auszuscheiden und zum Fremden, Ekelhaften machen. Ohne fremde Nahrungsmittel sind wir zum Hungertod verurteilt. 

Der Organismus und das Fremde

Noch elementarer als Stoffwechsel ist die Atmung. Wir nehmen in jeden Tag 10 000 bis 20 000 Liter Luft auf, fremde Luft, der wir den Sauerstoff entnehmen und in unser Inneres überführen. Damit wird die Atemluft zur eigenen Luft. Beim Ausatmen geben wir sie wieder zurück, mit weniger Sauerstoff und mehr Kohlendioxid. In jedem Atemzug wird Fremdes zum Eigenen und Eigenes wieder zum Fremden. All der Sauerstoff, der in unserem Kreislauf unterwegs ist, war in fremder Luft enthalten. Ohne diese fremde Luft würden wir schnell ersticken.

Eine weitere Tatsache, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, besteht in all den fremden Organismen, die in unserem Körper leben. Die Zahl der im Körper lebenden Mikroben ist mindestens so groß wie die der Zellen mit der eigenen DNA. Ohne diese winzigen Lebewesen, die vor allem im Darm das Mikrobiom bilden, könnten wir keine Nahrung verdauen. Auf unserer Haut sorgen Bakterien dafür, Krankheitserreger abzuwehren. Auf der Zunge leben an die 9000 verschiedene Stämme von Bakterien. Unser Organismus ist also ein Kohabitat zwischen eigenen und fremden Zellen, von denen viele wie Parasiten leben. Ohne sie könnten wir nicht lange überleben. Es gibt natürlich auch Fremdzellen, Viren, Bakterien, Pilze, die Schaden anrichten und von unserem Immunsystem eliminiert werden müssen. 

Aus all diesen Überlegungen können wir viel über einen sinnvollen Umgang mit dem Fremden lernen. Das Fremde ist zunächst nur etwas, das wir noch nicht kennen. Selbst wenn unsere erste spontane Reaktion ablehnend ist, können wir auf den zweiten Blick andere Informationen sammeln, die unsere Sichtweise ausweiten und unser Misstrauen beruhigen.

Wenn in der politischen Propaganda der Begriff „Parasit“ verwendet wird, um Angst vor einer Überfremdung zu schüren, können wir an die Mikroorganismen denken, die in uns leben, von uns und für uns. Wenn wir also fremde Menschen in unser Land oder in unsere Umgebung aufnehmen, brauchen wir nur darauf zu achten, dass es ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen gibt, von dem beide Seiten profitieren. 

Das Fremde in uns

Ein weiterer Bereich, in dem wir es mit dem Fremden zu tun haben, ist unser Unterbewusstsein. Dort gibt es verdrängte Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Sie sind unserem Ich-Bewusstsein fremd und gehören doch zu uns, denn sie sind in uns entstanden und gehören zu den Überlebensstrategien, die wir im Lauf unserer Geschichte ausgebildet haben. Sie gehören zum Schattenbereich unserer Seele, solange wir sie nicht in unser Bewusstsein holen. Sie sind uns fremd und sind von Abwehrgefühlen bewacht. Indem wir sie uns bewusst machen, verwandeln wir sie in Persönlichkeitsanteile, die wir nach Belieben nutzen können. In den Begriffen der Psychoanalyse wird aus dem, was zum „Es“ gehört hat, „Ich“. Etwas Fremdes wird zum Eigenen, etwas Bedrohliches zum Vertrauten, und damit wächst der Spielraum für den Ausdruck unserer Freiheit. Jeder integrierte Anteil unserer Persönlichkeit, also jeder Aspekt, der vom Fremden zum Eigenen wurde, führt uns zu unserer Ganzheit.

Die Durchlässigkeit für das Fremde

In all diesen Beispielen sehen wir, dass das Überschreiten der Grenzen zum Fremden ein Grundprinzip des Lebens ist. Im fließenden Austausch von Geben und Nehmen verschwindet die jeweilige Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Diese Form des Austausches findet beständig in unserem Körper statt und hält uns gesund. Eigenes wird zum Fremden, Fremdes wird zum Eigenen. Das Eigene ist Resultat des Fremden, das Fremde kommt aus dem Eigenen. Wir sind auf vielen Ebenen durchlässig für das Fremde, das dadurch zum Eigenen wird. Wir sind also gleichermaßen Fremdes wie Eigenes. Der Unterschied hebt sich auf, in jedem Moment, in dem wir atmen oder in anderer Weise stoffwechseln.

Die Angst vor uns selbst

Hier kommen wir zurück zum Anfang des Artikels. Wir können jetzt vielleicht besser verstehen, dass unsere Angst vor dem Fremden nichts als die Angst vor uns selbst ist. Das Fremde, dem wir im Außen begegnen, spiegelt unsere eigenen ungelebten oder verdrängten Anteile wider. Das, was uns Misstrauen bereitet, ist ein Persönlichkeitsanteil, den wir uns noch nicht bewusst gemacht haben. Was uns bei fremden Menschen Angst macht, ist eigentlich etwas, das uns in uns selbst ängstigt. Sobald wir diese Angst ins Licht geholt und verstanden haben, fällt die Angst im Außen weg und wir gehen leichter und vertrauensvoller durchs Leben.

Vertrauen oder Naivität

Den Menschen, denen wir begegnen, Vertrauen entgegenzubringen, heißt nicht, dass wir naiver Weise meinen, alle Menschen meinten es gut mit uns. Wenn wir angstfrei auf sie zugehen, stehen uns alle unsere Fähigkeiten zur Verfügung, die uns darauf aufmerksam machen, sobald andere versuchen, uns zu manipulieren oder anderswie zu schaden. Je weniger Angst wir haben, desto besser sind wir mit unseren Potenzialen verbunden und können sie nutzen, um uns dort zu schützen, wo es wirklich notwendig ist, damit wir keinen Schaden erleiden.

Das Atmen lehrt uns, dass Leben nur im Austausch gelingt – indem wir atmen, leben wir vom Fremden und lebt das Fremde von uns.

Hier zur Studie über Oxytocin und Fremdenangst

Zum Weiterlesen:
Die Solidaritätsschranke
Die Schwachen und die Nächstenliebe
Pränatale Wurzeln der Fremdenangst

Samstag, 18. Oktober 2025

Reflektierte Radikalität

Junge Menschen haben immer wieder in der neueren Geschichte gesellschaftliche Veränderungen vorangetrieben. Mit einem feineren Sensorium als die „etablierte“ Erwachsenengeneration spüren sie die Ungerechtigkeiten und Verlogenheiten im „System“ viel deutlicher. Sie vertreten einen hohen moralischen Anspruch, und daraus leitet sich bei vielen Jugendlichen das Gefühl ab, etwas tun zu müssen, um die unerträglichen Zustände zu verbessern. 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im deutschsprachigen Gebiet eine Jugendbewegung, die sich als Reaktion auf die Verstädterung und Industrialisierung verstand und unter dem Stichwort „Wandervogel“ das Naturerleben propagierte. Nach dem 1. Weltkrieg politisierten sich diese Bewegungen, teils in die pazifistische, teils in die militaristische Richtung. Die letztere mündete dann in die Hitler-Jugend im Nationalsozialismus. Daneben hatte es Jugendorganisationen der Kirchen und der sozialistischen Parteien gegeben, die dann alle verboten wurden.

Nach dem 2. Weltkrieg entstanden vielfältige Subkulturen, die sich vor allem über Mode- und Musikstile definierten – Rock’n’Roll, Pop, Hippie-Bewegung usw. Die 68er-Bewegung war andererseits eine stark politisch ausgerichtete Bewegung, die sich in den USA gegen den Vietnamkrieg und in Deutschland gegen die Versäumnisse in der Entnazifizierung einsetzte. Diese Strömungen waren durch eine Protesthaltung miteinander verknüpft, die sich gegen die bestehenden Normen und Regeln richtete. Die pubertäre Auflehnung gegen die Eltern wurde auf die Autoritäten in den Institutionen übertragen. Die Wut fand ihre Objekte in der Unglaubwürdigkeit der Mächtigen und in der Ignoranz für das Unrecht und die Benachteiligung der Schwächeren. Während weite Bereiche der Protestbewegungen von den Ideen des gewaltfreien Widerstandes beeinflusst waren, gab es an den Rändern auch gewaltbereite Gruppen. 

Die Radikalität dieser Bewegungen speiste sich aus dem Impuls, in einer „falschen Gesellschaft“ zu leben. Radikal bedeutet, von Grund auf Neues zu erschaffen, sich also nicht mit kosmetischen Veränderungen zufriedengeben. Gemäß dem berühmten Diktum von Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen,“ machte es keinen Sinn, das Wirtschaftssystem zu reformieren, es müsste von der Wurzel aus, also radikal neu gestaltet werden. 

Diese Radikalität, dass alles umgestürzt werden muss, ist Teil des uralten adoleszenten Vorstoßes, das Alte über den Haufen zu werfen und etwas ganz Neues an seine Stelle zu setzen. Es ist der Impuls, der die Gesellschaft immer wieder erneuert hat, der Impuls, der jede Form von Fortschritt auf den Weg gebracht hat. Ohne diesen Impuls wäre die Menschheitsentwicklung nie weitergekommen und an ihren eigenen Widersprüchen kollabiert. Ohne neue Ideen ist kein menschliches System überlebensfähig. Da die Widerstände der alten Ordnungen mächtig sind, müssen die Jungen radikal sein, um notwendige Veränderungen durchsetzen zu können.

Mit dem Fortschreiten des Liberalkapitalismus in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verschwanden die Jugendproteste, offenbar hatten die jungen Leute genug zu tun, ihre berufliche Existenz aufzubauen. Speziell in den 90er Jahren, nach der Auflösung des Sowjetimperiums, schien der Liberalismus auf allen Fronten im Vormarsch und entsprach in seinem Fortschrittsbewusstsein den Idealen der Jugend. Erst die Zunahme des Bewusstseins über die fortschreitende Erderwärmung rief die jugendlichen Protestierer wieder auf den Plan. 

Wieder stießen und stoßen sie auf die Gleichgültigkeit der Bürger, der in ihrer Normalität nicht gestört werden wollen. Die Macht des Faktischen ist so stark auf der Seite der Protestierer wie wohl nie zuvor – es ist allseits bekannt und dokumentiert, dass die Klimasituation jeder Kontrolle entglitten ist und die halbherzigen Maßnahmen die Erwärmung allenfalls ein wenig gebremst haben. Das einzige, was wir nicht wissen, wie schlimm die Auswirkungen sein werden. Die Ohnmacht gegenüber der bequemen oder saturierten Mehrheit, das Gegenüber jeder Protestbewegung, stachelt noch mehr zum Engagement an, hinter dem aber immer auch ein Stück Verzweiflung steckt.

Die Pathologie oder der Wahnsinn der Normalität ist das Schwergewicht, das sich gegen Fortschritt und Verantwortung stellt. Sie ist Teil von jedem Menschen, weil niemand ganzzeitig Revolutionär sein kann und sie bildet ein kollektives Feld, das von politischen Parteien gefördert wird, die sich das Motto überstülpen, für „den kleinen Mann“ oder für die „normalen Bürger“ zu sein. In Wirklichkeit heißt das, dass sie die Menschen darin unterstützen wollen, die Augen vor notwendigen Veränderungen zu verschließen, die ja auch dazu führen müssten, dass die Machtbasis dieser Parteien geschmälert wird.

Der Furor der Revoluzzer hat seine Schattenseite in der Verachtung der „Normalos“, derjenigen, die den notwendigen Wandel durch ihre Gleichgültigkeit und Schwerfälligkeit torpedieren. Die Dynamik zwischen Verachtung und Verweigerung hemmt den Erneuerungsprozess. Zwischen beiden Extremen gibt es die Pragmatiker, die wissen, dass eine totale Umkrempelung des Systems nicht geht, aber Schritte zur Erneuerung unterstützen. Wenn es den radikalen Protestierern gelingt, diese breite Gruppe für sich einzunehmen und zu motivieren, können sinnvolle Reformen stattfinden. Die Radikalität ist dann erfolgreich, wenn sie reflektiert ist, d.h. wenn sie auch die Grenzen ihres Engagements akzeptieren kann und bereit ist, ihre Ziele zu überprüfen, falls sie sich als unrichtig oder unzureichend herausstellen. 

Unreflektiertes Engagement besteht in der blinden Umsetzung von Ideologien. Es dient deshalb nur einseitigen Interessen und behindert damit einen sinnvollen und lösungsorientierten Fortschritt in der Gesellschaft. Die Wut ist nur zerstörerisch, wenn sie sich ihrer Ziele nicht bewusst ist und die Umstände der Verwirklichung der Ziele nicht in Betracht zieht. Kanalisierte und umsichtige Wut hingegen kann als „heiliger Zorn“ ungerechte Strukturen und korrupte Machenschaften umstürzen. Wir brauchen also mehr reflektierte Radikalität und heiligen Zorn, denn Veränderungen vor allem zur Überlebenssicherung der Menschheit sind dringend notwendig.

Zum Weiterlesen:
Die Erweiterung der Grenzen der Normalität
Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung

Donnerstag, 9. Oktober 2025

Parteilichkeit und Allparteilichkeit

Manchmal ist die Aussage zu hören: Man darf nicht Partei ergreifen in einem Konflikt, sonst wird man gleich Teil des Konflikts. Im Grund sind alle Seiten gleichermaßen an einem Konflikt beteiligt. Der einzige sinnvolle Standpunkt ist außerhalb des Konflikts, von dort aus kann dann niemand verurteilt werden. 

So weise diese Sichtweise klingt, so hohl ist sie als Forderung in der Praxis. Denn sie geht von einer wertungsfreien Position aus, die es nicht gibt. Wir können nicht nicht bewerten, wenn es um einen Konflikt geht, der uns emotional bewegt. Die Bewertung wird von unserem Unbewussten vorgenommen, ob wir es wollen oder nicht. Wir können uns die Bewertung bewusst machen, indem wir den Gefühlen nachspüren, die wir den Konfliktparteien gegenüber fühlen. Meistens wird es so sein, dass uns eine Konfliktpartei sympathischer ist und wir sie eher in der Opferrolle sehen. 

Das Bewusstmachen der Wertungen, die unser Unterbewusstsein vornimmt, kann uns in der Folge dazu führen, dass wir zu einer wertungsfreien Position gelangen, ohne dass dadurch die Wertungen in unserer Emotionalwelt verschwinden. Wir nehmen eine übergeordnete Sichtweise ein, durch die wir die Triebkräfte aller Konfliktparteien besser verstehen können und dann vielleicht Empathie mit allen, die im Konflikt involviert sind, empfinden. Allerdings enthebt uns diese Perspektive nicht von der Pflicht, Stellung zu beziehen, wenn im Konflikt Dynamiken im Gang sind, die die Menschlichkeit bedrohen.

Jeder Konflikt betrifft uns

Im Grund geht unser jeder Konflikt, der besteht, etwas an. Wir haben etwas damit zu tun, weil wir eben Teil der Menschheitsfamilie sind, und Spannungen in dieser Familie erzeugen auch bei uns Spannungen. Natürlich haben wir keine direkten Bezüge zu den allermeisten Konflikten in dieser riesigen Familie. Aber vor allem größere Auseinandersetzungen, die viele Opfer fordern, betreffen uns, sobald wir davon erfahren, selbst wenn wir weit vom Geschehen sind und persönlich nicht eingreifen können. Denn es ist menschliches Leid, das verursacht wird und das ein Ärgernis für das Menschheitsgewissen darstellt. Es darf uns nicht gleichgültig lassen, wenn Menschen gefoltert, vergewaltigt und umgebracht werden. Denn die Gleichgültigkeit gegenüber Leid lässt uns zum Teil der Unmenschlichkeit werden. Auch wenn es nicht in unserer Macht steht, das Leid zu lindern oder die Ursachen des Leides zu beseitigen, sind wir betroffen, denn es sind unsere Brüder und Schwestern, die ins Unglück gestoßen oder getötet werden.

Ausreden

Selbst die Rationalisierungen, mit denen wir unser Betroffensein wegwischen wollen, sind unmenschlich. Wir erfinden Gründe, warum wir nichts zu tun haben mit den Bösewichtern dieser Welt und ihren Untaten oder dass die Leidenden an ihrem Unglück schuld sind oder dass wir genug mit unserem eigenen Leben mit seinen kleinen Konflikten beschäftigt sind. Mit solchen Versuchen, uns vom Mitgefühl zu distanzieren, schneiden wir uns von dem Teil in uns ab, der weiß, was menschlich und was unmenschlich ist.

Parteinahme verengt den Blick

Bei jeder unbewusst vorgenommenen Parteinahme für eine Konfliktpartei werden Aspekte unterschlagen, sodass die Konfliktlage verzerrt erscheint. Aber wenn unser immer vorläufiges Urteil darüber klar, wer im Konflikt der Täter und wer das Opfer ist, dann müssen wir Partei ergreifen, um den Tätern eine Grenze zu setzen. Sie dürfen nicht einfach so weitermachen und noch mehr Opfer produzieren. 

Allparteilichkeit ist zwar eine Tugend, die Gruppenleiter, Konfliktmoderatoren oder Friedensstifter brauchen. Aber außerhalb dieser Rollen hat sie keinen Nutzen dort, wo Unrecht geschieht und dadurch Leid verursacht wird. Hier muss Stellung bezogen werden, sodass die Täter zur Verantwortung gezogen werden können. Sich in solchen Situationen das Mäntelchen der Allparteilichkeit überzuhängen, ist billig und feig. Wir müssen und können nicht immer mutig sein, es sollte uns aber bewusst sein, dass wir auch die Überparteilichkeit als Ausrede und Rechtfertigung missbrauchen können. 

Die Parteilichkeit enthält die Chance, Gleichgesinnte um sich zu scharen, trägt aber auch das Risiko, sich Feinde zu schaffen. Das mutige Eintreten für die Gerechtigkeit und Menschlichkeit gefällt nicht allen, vor allem jenen nicht, die von Ungerechtigkeit profitieren. Es ist besser, Feinde zu haben als die Wahrheit und die Ethik zu verraten. 

Die Grenzen der Parteilichkeit

Die Toleranz muss dort ihre Grenze haben, wo sie selbst angegriffen wird, es darf also keine Toleranz für die Feinde der Toleranz geben. Die Allparteilichkeit hat dort ihre Grenze, wo sie auf gewaltbereite und intolerante Parteilichkeit stößt. Sobald an den Fundamenten der Menschlichkeit und an den Grundrechten gesägt wird, muss Widerstand geleistet werden. Die Sichtweise der Allparteilichkeit hilft dabei, das Menschliche in den Gegnern und Feinden zu sehen, aber nicht dabei, ihnen notwendige Grenzen zu setzen.

Zum Weiterlesen:
Toleranz und ihre zweifache Grenze
Toleranz ist ein relativer Wert
Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie
Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme


Dienstag, 7. Oktober 2025

Die rhetorische Ablenkung – der Whataboutismus

Eine beliebte Masche in Debatten besteht darin, auf Kritik und Vorwürfe mit Ablenkungen zu reagieren. Leute, die diese Taktik verwenden, gehen nicht auf die Kritik ein, die ihnen entgegengebracht wird, sondern lenken sofort um auf Gegenkritik, um ihre Position zu schützen. Mit dem Gegenangriff wollen sie den Kritiker bloßstellen und sich selbst in die übergeordnete Position versetzen. Die moralische Schuld für das eigene Tun wird auf die andere Person abgewälzt, die eigene Verantwortung wird beiseitegeschoben und der anderen Person angelastet. Der Kritiker wird herabgesetzt, als jemand, der mit zweierlei Maß misst, und als Heuchler und oft sogar als Lügner verunglimpft. Durch die Abwertung sollte er als jemand dargestellt werden, der kein Recht hat, Kritik zu üben, weil er selbst ein schlechter Mensch ist. 

Der Begriff des „Whataboutismus“ wurde ursprünglich im Nordirlandkrieg geprägt: Republikaner wurden auf ihre Gewalt hingewiesen und reagierten sofort mit dem Gewaltvorwurf an die Loyalisten und an die englischen Truppen und umgekehrt. Niemand kehrte vor der eigenen Tür, sondern wies auf den Dreck vor der Tür des anderen hin. Es wurde dann deutlich, dass die Sowjetpropaganda dieses Argumentationsmuster häufig verwendete. Wenn westliche Politiker oder Journalisten auf die Menschrechtsverletzungen in der Sowjetunion hinwiesen, lautete der Konter: „Und was ist mit der Rassendiskriminierung in den USA? Was ist mit den Kolonialverbrechen der Westmächte?“ Diskussionen zum Gazakrieg verlaufen kaum ohne die Ablenkungsstrategie: 8. Oktober gegen Genozid, mit diesen Begriffen werden die Schuld und die Verantwortung hin- und her geschoben. J.D. Vance hat bei seiner Rede vor der Sicherheitskonferenz in München u.a. behauptet, europäische demokratische Institutionen würden die freie Meinungsäußerung untergraben, während seine Regierung alles tut, um die Meinungsfreiheit in den USA zu beschränken. Er hat auch die hohen Zahlen von im Ausland geborenen Einwanderern in den EU-Ländern kritisiert, während die US-Bevölkerung außer den Ureinwohnern zur Gänze aus Migranten besteht.

Das Du-aber-auch-Argument

In der Rhetorik wird diese Argumentationsfigur auch als „Tu-quoque-Fehlschluss“ bezeichnet, der eine Variante des „Ad-hominem-Arguments“ darstellt, also das Umlenken einer Kritik auf die Person des Kritikers. Die Aufmerksamkeit des Publikums soll vom kritisierten Inhalt auf die Person des Kritikers verschoben werden, die auch Dreck am Stecken habe. Auf diese Weise soll der Kritiker als unglaubwürdig und unmoralisch hingestellt werden.

Innerpsychisch erleichtert der Whataboutismus das Umgehen mit der kognitiven Dissonanz, die durch jede Kritik entsteht. Denn sie weist auf einen Unterschied zwischen dem eigenen Tun und den eigenen ethischen Maßstäben hin. Sie ruft ein Schamgefühl hervor, das durch den Gegenangriff abgeschwächt wird. Der Selbstwert wird stabilisiert, indem eine überlegene Position eingenommen wird: Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist viel schlimmer als ich.

Systematische Kritikabwehr

Autoritäre Regime setzen diese Strategie systematisch ein, um Kritik langfristig zu unterbinden: Es wird nie auf den Kritikpunkt eingegangen, sondern sofort der Kritiker als Person abgewertet und unter Umständen gleich verhaftet. Damit soll zumindest erreicht werden, dass das Publikum zu der Meinung kommt, es haben sowieso alle, die den Mund aufmachen, moralische Mängel, sodass es egal ist, wer an der Spitze ist. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik erzeugt in der Demokratie ein Machtvakuum, das sich die rechten Gruppierungen aneignen und mit ihren Inhalten füllen, die sie gekonnt vor jeder Kritik abschotten. Es finden keine konstruktiven Auseinandersetzungen mehr statt, damit die Leute den Eindruck kriegen: Politiker streiten sowieso nur, sodass sie sich selbst in die Privatheit verkriechen. Die Arena ist frei für gerissene Machtpolitiker, die keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung mehr nehmen müssen, weil es eine solche nicht mehr gibt.

Diskurszerstörung

Die Demokratie ist von Diskursen zur Willensbildung abhängig, die in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt  stattfinden sollen. Spielt eine Seite nicht mehr mit, indem sie sich aus vernunftgeleiteten Diskursen zurückzieht, so wird sie zunächst ausgegrenzt. Damit kriegt sie die Unterstützung von allen anderen, die sich in irgendeiner Weise ausgegrenzt fühlen, und bekommt einen Zulauf, ohne ihre programmatischen Forderungen im kritischen Diskurs bewähren zu müssen.

Die Demokratie wird mit diesen Taktiken systematisch geschwächt und ausgehöhlt, und sobald solche nicht diskursfähigen Parteien an der Macht sind, tun sie alles, was in ihrer Macht steht, um die Diskurse weiter zu unterbinden. Die Medien werden unter staatliche Kontrolle genommen und auf Regierungslinie gebracht, die Gegner werden abgewertet, lächerlich gemacht und schließlich verfolgt, und die eigene Wählerschaft wird mit Zuckerln beschenkt. Die Bevölkerung wird mit Propaganda überschüttet, bis sie in der politischen Gleichgültigkeit und Resignation versinkt. 

Logischerweise gedeiht in Systemen, in denen die kritischen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt werden, die Korruption. Die Machthaber bereichern sich nach Strich und Faden, wie es der gegenwärtige Präsident der USA vormacht und jener von Russland seit 25 Jahren praktiziert. Mit der Verweigerung des kritischen Diskurses durch konsequenten Whataboutismus beginnt die Entwicklung zur Beseitigung der Demokratie, im totalitären autokratischen Staat ohne Menschen- und Bürgerrechte endet sie. 

Zum Weiterlesen:
Die rechte Rhetorik - perfide und zugleich simpel
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung


Mittwoch, 1. Oktober 2025

Fundamentalistische Religion und die Korruption der Moral

Das Christentum und die Erweiterung der Ethik

Im vorigen Blogartikel war die Rede vom wichtigen Schritt von einer emotionsgeleiteten Moral zu einer vernunftbestimmten Ethik. Diese Entwicklung wurde von vielen Philosophen, beginnend schon in der griechischen Antike vorbereitet und erreichte dann im Zug der Aufklärung eine breitere Basis. 

Im westlichen Bereich spielte auch die christliche Religion eine Vorreiterrolle, indem sie die Idee der Nächstenliebe in den Vordergrund rückte und auf die Schwächeren und Benachteiligten in der Gesellschaft ausweitete. Damit forderte sie ein Überschreiten der tribalen, auf Emotionen beruhenden Moral zu einer erweiterten und verallgemeinerten Form der Empathie.

In diesem Zusammenhang stellte das Glauben die Kraft zum moralischen Fortschritt bereit. Die Menschen sollten sich einer höheren Wesenheit anvertrauen, von der die Botschaft kommt, dass allen Menschen gleichermaßen Respekt und Achtung gezollt werden soll. Der Glaube an die Führung durch eine höhere Instanz kann zu Einstellungen motivieren, die durch die ererbten Gefühlsmuster nicht zugänglich sind.

Die Aufklärung und die Vermenschlichung der Ethik

In der Aufklärung hat die Vernunft in vielen Bereichen den religiösen Glauben abgelöst; die Menschheit war zumindest in Teilen bereit, Verantwortung für eine weiter gefasste Form der Ethik zu übernehmen, die kraft ihrer Vernunft nachvollzogen werden konnte. In der Folge gelang es, Forderungen aus dieser Ethik in die Gesetzeswirklichkeit und ins allgemeine Moralbewusstsein zu übertragen. So wurde z.B. das allgemeine Wahlrecht eingeführt, die Sklaverei abgeschafft, Frauen gleichgestellt und Minderheitenrechte für ethnische Gruppen, sexuelle Orientierungen und Asylrechte festgeschrieben. Das waren große Fortschritte in der Ethik, die von vielen Menschen unterstützt wurden und den Betroffenen mehr Sicherheit und Lebenschancen gaben.

Der Anachronismus von fundamentalistischen Glaubensrichtungen

Nach der Aufklärung können nur Formen des Glaubens und der Religion, die sich mit der Aufklärung auseinandergesetzt haben, eine Funktion für den Fortschritt der Gesellschaft übernehmen. Andere Glaubensformen, in denen sich z.B. unbewusste Ängste und Schamgefühle widerspiegeln, geraten in Widerspruch zur Weiterentwicklung und damit zur gesellschaftlichen Realität. Sie bremsen also diese Humanisierung der Weltgesellschaft oder bekämpfen sie sogar, um Privilegien zu verteidigen.

Das Festklammern an den Buchstaben der göttlichen Botschaften, wie es von fundamentalistischen Glaubensrichtungen gepredigt wird (ein Anhänger war auch Charlie Kirk), ist nicht Ausdruck eines Glaubens, sondern eines ängstlichen Misstrauens in eine Welt, die als bedrohlich erlebt wird, aufgeladen von Angst schürender Propaganda. Nur die göttliche Leitung kann aus diesen Ängsten herausführen, und sie ist aus den Texten nur dann ablesbar, wenn sie wortwörtlich genommen werden. Es führt zu viel zu viel Unsicherheit, wenn noch in Betracht gezogen wird, dass die Texte von historischen Personen verfasst wurden, die in den Kategorien ihrer Zeit gedacht und geschrieben haben. Der ängstliche Kleingeist, der in solchen Positionen aufscheint, ist auch ein Kleinglaube, der ohne den Aberglauben nicht auskommen kann.

Der Missbrauch des Göttlichen für ideologische Zwecke

Aberglaube heißt in diesem Zusammenhang, dass das Göttliche, das Absolute für ideologische Zwecke missbraucht wird. Von diesem Missbrauch waren z.B. die Propheten des Alten Testaments auch nicht frei, indem sie Regelungen für das soziale Zusammenleben als göttliche Botschaften ausgaben, obwohl sie höchstens in dieser Zeit sinnvoll waren. Aber damals war das kritische Denken noch viel zu wenig entwickelt, mit dem der Unterschied zwischen relativen und absoluten Wahrheiten überprüft werden kann. Heute wissen wir um diese Form menschlicher Versuchung, subjektive oder gesellschaftlich geprägte Überzeugungen für absolute Wahrheiten zu halten. Deshalb stellt heute die Ignoranz dieser Schwäche einen Mangel an intellektueller Redlichkeit und Verantwortungsübernahme dar. Wer also im 21. Jahrhundert noch aus einer wörtlichen Auslegung von heiligen Schriften Regeln für das Leben in unserer Zeit ableiten will, begeht einen bewussten Missbrauch des Göttlichen, ist also ein Blasphemiker. Allerdings werden solche Leute dank der Aufklärung heutzutage nicht mehr verbrannt.

Die ahistorische Auslegung der heiligen Schriften führt eben zu absurden Schlussfolgerungen, indem Normen aus antiken Kleingesellschaften auf die komplexe Welt des 21. Jahrhunderts übertragen werden. Die Folge sind gesellschaftliche Spannungen und Konflikte: Minderheiten werden ausgegrenzt und beschämt statt geschützt. Die Unsicherheit bei den Betroffenen steigt, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird brüchig.

Die ängstliche Orientierung an längst überholten Normen ist ein Zeichen der unterentwickelten Moral und führt zu einer beschämenden Beschränkung der Empathie. So hat beispielsweise Charlie Kirk die Steinigung von Homosexuellen nach dem Buch Leviticus als „perfektes Gesetz Gottes“ bezeichnet. Diese Einschätzung kann nur jemand vornehmen, der nicht berücksichtigt, dass all diese Texte in historischen Kontexten entstanden sind und dass ihre Bedeutung immer nur relativ zu diesen Zusammenhängen verstanden werden kann. Frühere Zeiten kannten grausame Bestrafungen für Delikte, die heute nur mehr die engstirnigsten Menschen stören, und die Menschheit sollte stolz darauf sein, diese Formen der Brutalität und Menschenfeindlichkeit überwunden zu haben. 

Es gibt Menschen, die einen Gott fantasieren, der sich an der grausamen Bestrafung von Menschen erfreut, wenn sie sich nicht an seine bornierten Regeln halten. Sie haben sich ein Gottesbild voll von Projektionen aus Hass- und Rachegefühlen erschaffen. Die eigenen aggressiven Gefühle werden ungefiltert auf einen Gott übertragen, der dann als jähzornige, im Grund aber als jämmerliche und armselige neurotische Person dasteht, voll von kleinlicher Rachsucht und voll von Hass auf alles, was ihm nicht gefällt. Und was ist dann das für ein Gott, der den Menschen vorschreiben will, ein Kopftuch zu tragen, oder der sich einmischt, mit wem sie ins Bett gehen? Nur eingefleischte Anhänger des Patriarchats, einer Ideologie, die für zahllose Gewaltakte verantwortlich ist, können an einen Gott glauben, der die Überordnung des Mannes über die Frau einfordert.

Die Unfähigkeit zu einer erwachsenen Ethik

Leider bleibt die ernüchternde Einsicht nicht erspart, dass bestimmte Gruppen entweder nicht fähig oder nicht bereit sind, ihr ethisches Bewusstsein auf die Höhe des 21. Jahrhunderts zu heben. Sie sind gefangen in kindlichen Moralvorstellungen, voll von Fantasien und Projektionen. Und es scheint auch so, dass diese Gruppen immer mehr Einfluss in der Öffentlichkeit einnehmen.

Dieser Befund ist aus mehreren Gründen bedauerlich und traurig. Zum einen bleibt keine Energie für die drängenden Probleme unserer Zeit, vor allem die unaufhaltsam weiter schreitende Erderwärmung, wenn moralische Verurteilungen aus vorantiken Quellen die Empörungswellen steuern. Die mediale Aufmerksamkeit und damit die öffentliche Meinung gehen dorthin, wo am meisten Lärm gemacht wird. Zum anderen wird der Fortschritt in der Moral behindert und bekämpft, der nötig wäre, um die weltweiten Probleme mit weltweitem Engagement anzugehen. Statt Hungersnöte, Flüchtlingselend, soziale Benachteiligungen einzudämmen, werden Probleme reproduziert, deren Lösungen schon längst am Tisch liegen und deren Umsetzung nur zugelassen werden müsste. 

Zum Weiterlesen:
Ethik aus der Steinzeit in der Rechtspropaganda
Religion und Vertreibung
Religion - ein Relikt?