Dienstag, 21. März 2023

Langsamer ist schneller

Langsamer geht oft schneller.  Das ist ein paradoxer Satz. Und er mutet befremdlich an, weil wir an eine von Schnelligkeit geprägte Zeit gewöhnt sind. Doch sprechen viele Erfahrungen für diesen Satz:

Wenn wir hektisch werden, werden wir fehleranfälliger und brauchen dann mehr Zeit fürs Fehlerkorrigieren. In der Schnelligkeit übersehen wir leicht wichtige Details, unser Blick ist immer schon wo anders als bei dem, was gerade ist. Beim Sprechen verschlucken wir leicht sinngebende Partikel und wundern uns, wenn wir nicht verstanden werden. Beim Zuhören entgehen uns die Nuancen und Zwischentöne, manchmal auch ganze Sätze oder Satzteile, weil unser Kopf sich schon die Antwort nach den ersten gehörten Worten zurechtlegt. Unsere Fähigkeiten sind in der Hektik auf das Nötigste reduziert, weil der Schnelligkeitsmodus mit dem Notfallmodus gekoppelt ist.

Im langsamen Modus haben wir Zeit, uns zu überlegen, was wir wie sagen, statt gleich mit der Tür ins Haus zu fallen oder mit einem Schwall an Worten herauszuplatzen und den Gesprächspartner zu überschwemmen. Wir haben Zeit, uns auf die angesprochene Person einzustimmen und können uns besser in sie hineinversetzen. Wir hören nicht nur das Geredete, sondern auch das Gemeinte. Mit Langsamkeit sind wir bessere Kommunikatoren. Wir ersparen uns Missverständnisse und damit auch viele Konflikte, die aus unvollständigen Gesprächen entstehen. Wir nehmen uns Zeit, Probleme genauer zu betrachten, und entwickeln mit dieser Haltung oft nachhaltigere Lösungen.

Die Qualität der Langsamkeit

Die Langsamkeit verfügt über eine eigene Lebensqualität. Wir sind mehr mit uns selber verbunden und nehmen zugleich mehr im Außen wahr. Wir haben mehr Ideen und sehen mehr Möglichkeiten in der Wirklichkeit. Die Reichtümer und Schätze des Lebens fallen uns auf und erfreuen uns. Wir gehen durch Straßen, durch die wir sonst hasten, und bemerken Schönheiten und Besonderheiten, die uns völlig neu erscheinen. Wir spazieren durch einen Park, und winzige Blüten oder Blätter erquicken unsere Augen. In der Langsamkeit lernen wir den Augenblick und seine Fülle zu genießen. 

Auch die Meditation ist eine Schule der Langsamkeit. Wenn wir uns in uns versenken, verlangsamen die Sinne und die Gedanken. Vielleicht rasen zuerst die Gedanken, sobald wir die Augen schließen, aber bald wird es innerlich ruhiger und der Gedankenstrom bricht ab, alles wird einfacher und leichter. Die Komplexität, die unser Kopf produziert und die uns oft Stress bereitet, wird nebensächlich, die vielfältigen Probleme, die uns plagen, werden unwichtiger, statt dem Tun tritt das Sein in den Vordergrund, statt der Schnelligkeit die Langsamkeit.

Wie wir wissen, fördert das langsame Essen die Verdauung und das Sättigungsgefühl. Ein langer Kauprozess ist nicht nur gut für den Kiefer, sondern führt auch dazu, dass die Nahrung gut eingespeichelt und für den Magen und Darm vorbereitet wird. Wir essen weniger, aber haben mehr an Nährwert und Genuss davon, als wenn wir die Speisen hastig verschlingen. Alle unsere inneren Vorgänge im Bauch folgen im Normalfall einem langsamen Tempo und brauchen Ruhe, um gut abzulaufen.

Der Grundrhythmus der Langsamkeit

Und schließlich: Das langsame Atmen bildet die Grundlage der Langsamkeit überhaupt. Der Atemrhythmus ist der Grundtakt in unserem Inneren, der alle anderen Rhythmen mitbestimmen kann, wenn wir langsam atmen. Stress ist immer mit schnellem Atmen verbunden, und umgekehrt führt schnelles Atmen zum Stress. Mit der Verlangsamung der Atmung kommen wir herunter vom Stress. Langes Ausatmen aktiviert den Parasympathikus und verringert den Herzschlag. Der Puls wird ruhiger und die Herzratenvariabilität steigt.

In einem Experiment wurden Mäuse dazu gebracht, jeden Tag eine halbe Stunde langsam zu atmen. Nach vier Wochen wurde ein Stresstest gemacht, und die Gruppe der Mäuse, die langsam geatmet hatten, schnitten signifikant besser ab als die Vergleichsgruppe: Sie erholten sich wesentlich rascher vom Stress, ihre Stressresilienz war also bedeutend höher. 

Das Leben genießen

Es gibt auch den Genuss von Geschwindigkeit, er kann etwas Spielerisches und Abenteuerliches haben. Beispiele sind der Fahrtwind beim Radfahren oder das Sausen beim Ringelspiel. Der Geschwindigkeitsgenuss lebt davon, dass wir uns auf etwas Aufregendes einlassen, eine spannende Erfahrung machen und dann wieder in die Ruhe zurückfinden. Es ist ein Wechsel in den Rhythmen, der uns erfreut und den wir im Griff haben, indem wir festlegen, wie er abläuft. 

Das ist ein anderes Geschwindigkeitserleben als das des Getriebenseins, mit dem wir im modernen Alltag kämpfen. Da handelt es sich meistens um ein Hetzen und Gehetztsein. Wir stecken in einem Kampf- oder Fluchtmuster, nur gibt es keine äußeren Bedrohungen, vor denen wir uns fürchten müssen, sondern nur innere Fantasien, mit denen wir uns ausmalen, was passieren würde, wenn wir langsamer werden. 

Verfolgungsträume

Im Beschleunigungsmodus wirkt unser Leben wie in einem Alptraum: Eine Gefahr nähert sich in unserem Rücken, wir laufen schneller und schneller, und doch haben wir das Gefühl, dass uns die Bedrohung näher und näher kommt, bis wir schweißgebadet aufwachen. Der Alptraum ist oft nur eine drastischere Erfahrung wie in den Mustern, die schon Teil des Alltags geworden sind, ohne dass es uns noch auffällt.

Verlangsamung durch Krankheit

Manchmal tut unser Körper nicht mehr mit und verweigert seine Kooperation. Er wird krank, und mit einem Schlag wird alles langsamer. Plötzlich verschieben sich alle Werte und Perspektiven. Was uns unaufschiebbar erschienen ist, wird aufgeschoben, was sofort erledigt werden musste, kann nun warten, was unabwendbar für uns zu tun war, macht jetzt jemand anderer. Plötzlich sind die Erwartungen und Anforderungen, die von außen an uns gerichtet werden und denen wir in uns eine äußerste Dringlichkeit eingeräumt haben, nicht mehr die oberste Priorität, sondern wir selber, unser Wohlsein und unsere Bedürfnisse. Auch wenn wir mit unserem Schicksal hadern und die Krankheit schnell wieder loswerden wollen, sind wir gezwungen, uns zu fügen und unserem Organismus und seiner Zeitstruktur den Vortritt zu lassen. 

Die Lektion im Kranksein ist immer und immer wieder, dass wir nur mit einem gesunden Körper Leistung erbringen können und dass deshalb die Fürsorge für die körperlichen Bedürfnisse vor und über jeder Leistungsanforderung steht. Jede Krankheit zeigt uns, dass wir in irgendeiner Hinsicht gegen unseren Körper gelebt haben und dass wir diese Fehlentwicklung korrigieren müssen. 

Manchmal ist es die Seele, die nicht mehr will und den Widerstand gegen die Selbstausbeutung anführt. Wir merken vielleicht an einer Lustlosigkeit, an einer inneren Schwere, an beständiger Unruhe oder an Sinnzweifeln, dass unsere Seele im Ungleichgewicht ist. Oft suchen wir dann Rat bei Ärzten, weil wir meinen, irgendein körperlicher Mangel könnte die Quelle unserer Unlust sein. Erst wenn diese nichts finden können, schauen wir auf die seelische Ebene und beginnen wahrzunehmen, was da fehlt.

Die Lektion in jedem Seelenleiden, das durch die Beschleunigung entsteht, lautet, dass wir nur mit einer gesunden Seele ein gutes Leben führen können. Die Seele gedeiht in Entspanntheit und Muße, nicht unter Bedingungen, die von außen aufgedrängt werden und nicht der eigenen Gestaltungskraft unterliegen. Unter Druck wächst kein Seelenfrieden. Vielmehr hat die Seele ihre Eigenzeit und ihr Eigentempo, die wir in der Natur, aber nicht im Muster des mentalen Getriebenseins finden können. 

Die langsame Seele

Die Seele braucht im Vergleich zum Mentalen immer viel mehr Zeit. Die Beschleunigung ist in unserem Kopf zuhause, unsere Gedanken sind schon irgendwohin in die Zukunft abgedüst oder schweifen assoziativ in der Vergangenheit herum. Indem wir die Abläufe in unserem Körper verlangsamen, kommen wir unserer Seele näher und sie öffnet sich mit ihren Schätzen für uns. 

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