Freitag, 24. März 2023

Die Langsamkeit der Natur

Die Natur ist eine Lehrmeisterin der Langsamkeit. Die mentale Schnelligkeit, die die Menschen entwickelt haben, hat zur Erfindung von Maschinen geführt, die Geschwindigkeiten errreichen können, die alles übertreffen, was die Natur hervorbringen kann. Natürlich sind all diese Maschinen aus Naturstoffen zusammengebaut, in Kombinationen, die der menschliche Geist mit akkumuliertem Wissen und vielen Experimenten erschaffen hat. Die Illusion der Naturbeherrschung, also der Machtanspruch der Menschen über die Natur ist die Triebfeder hinter dem Geschwindigkeitsrausch, den der menschliche Erfindergeist entfesseln konnte. Die Naturbeherrschung dient letztlich der Todesbeherrschung, denn der Tod markiert jene Grenze, an der die Natur unerbittlich dem menschlichen Geist ein Ende setzt und den menschlichen Körper für immer zu sich zurückfordert. Eine naturgeschichtlich betrachtet winzige Zeitspanne ist jedem Menschen zugemessen, in der er sich in der Naturbeherrschung austoben kann, bevor diese sich die Macht zurückholt. 

Diese Grenze stellt ein Ärgernis für den menschlichen Geist dar, sie ist eine Kränkung für seinen Narzissmus. Der Tod macht alle gleich, nackt sind wir ins Leben gekommen, nackt verlassen wir es wieder. Als Naturwesen haben wir das Licht der Welt erblickt und zu Naturwesen werden wir, sobald wir unser Leben ausgehaucht haben. In der Zeit dazwischen haben wir uns von der Natur entfernt, indem wir unsere Herkunft verdrängt und vergessen haben. Ein Zeichen dafür ist das Genießen von Geschwindigkeit, das die kurzzeitige Überwindung des Fluches der Endlichkeit verspricht. Das Leiden folgt auf den Fuß, sobald der Geschwindigkeitsrausch zum Stress wird, sich chronifiziert und Folgeerscheinungen erzeugt. Jedes Leid erleben wir als störenden Einfluss der Natur auf unseren Geist, und wenn wir es nicht schaffen, das Leid anzunehmen, vergrößert sich unsere innere Distanz zur Natur und wir neigen noch mehr dazu, Handlungen zu setzen, die der Natur und damit langfristig uns selbst Schaden zufügen. Die Natur verkraftet alle menschlichen Eingriffe, nur die Menschheit schaufelt sich damit über kurz oder lang das eigene Grab. Das ist eine der Paradoxien des Menschseins: Im Entrinnen der Endlichkeit die Endlichkeit der gesamten Menschheit vorzubereiten. Das Unsterblichkeitsprojekt, das aus dem selbstbezogenen und zur Selbstüberschätzung neigenden menschlichen Geist entspringt, ist bestens dazu geneigt, die Selbstausrottung der Menschheit herbeizuführen.

Die Akzeptanz der Endlichkeit

Der Ausweg aus der Sackgasse, in die sich die Menschheit mit jedem Tag, an dem sie sich weiter von der Natur entfernt, noch mehr hineinmanövriert, ist eine radikale Zurückwendung zur Natur – zur eigenen Natürlichkeit und zu dem, was die Umgebung braucht, um heil zu werden. Es geht um die Einstimmung auf die Rhythmik der Natur, mit der wir nicht nur unsere Gesundheit optimal fördern. Japanische Ärzte schicken ihre Patienten in den Wald, damit sie durch die langsamen Schwingungen der Natur wieder zu sich finden. Wir können auf diesem Weg auch die Fehlentwicklung unserer industriellen, von Beschleunigung geprägten Lebensform korrigieren. Wir müssen langsamer werden, in unserem Denken und in unseren Erwartungen, wenn wir das kollektive Ende verhindern wollen. Wir müssen unsere individuelle Endlichkeit voll und ganz akzeptieren, um zur Bescheidenheit zu finden, mit der wir unsere Bestrebungen der Natur unterordnen und sie in das größere Netz des Seins einflechten. Nur in dieser Akzeptanz, in der wir die Illusion der Naturbeherrschung verabschieden, können wir die Position einnehmen, die uns zusteht, sodass wir sorgsam mit dieser Welt und den uns anvertrauten Gütern umgehen, um sie unseren Nachkommen in einem guten Zustand zu hinterlassen. In der Langsamkeit, wie schon mehrfach beschrieben, kommen wir leichter in Kontakt mit unserem tieferen Sein, das uns die Natur geschenkt hat. Dort schlummert all das Wissen, das wir brauchen, um die Wende zurück zur Zeitstruktur der Natur zu schaffen. Jeder Schritt, den wir in diese Richtung tun, kommt uns selber zugute. Denn wir sind ja selber auch Natur, durch und durch. Wir sollten überall, wo es nur geht, das Tempo rausnehmen, aus unserem Denken, Reden, Fortbewegen und Tun. Die Entspannung, die sich dadurch einstellt, kommt nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen und der Natur um uns herum zugute.

Zum Weiterlesen:

Alles zu seiner Zeit: Ungeduld in der Therapie
Geduld ist die Tugend der Glücklichen
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen
Ungeduld beim inneren Wachsen
Die Geschwindigkeitssucht
Langsamer ist schneller


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen