Freitag, 3. März 2023

Ungeduld beim inneren Wachsen

Für immer mehr Menschen wird das innere Wachsen ein wichtiges Thema. Sie merken, dass sie ihre Potenziale nur mangelhaft ausnutzen können, sich innerlich leer fühlen oder eine Sehnsucht verspüren, über die bisherige Erfahrungsform hinauszustreben. Es geht nicht nur darum, im Äußeren erfolgreich zu sein und dort Abenteuer zu erleben, materiellen Wohlstand anzuhäufen und Unterhaltung zu genießen; es gibt auch die innere Dimension, in der vieles gefunden werden kann, was die Außenwelt nie bieten kann. Und es zeigt sich dann immer mehr, dass die Freilegung der Potenziale des Inneren den Umgang mit den Herausforderungen des Äußeren erleichtert. 

Wenn wir an unserem inneren Wachsen arbeiten, durch Therapie oder Meditation, durch Selbstreflexion und achtsame Bewusstheit, erleben wir oft unerwartete und überraschende Verbesserungen und Fortschritte. Manchmal erscheinen sie wie richtige Durchbrüche auf eine neue Ebene des Bewusstseins. Wir sehen die Welt mit neuen Augen, erfreuen uns an der Schönheit der Natur und erkennen das Strahlen in jedem Menschen. Wir fühlen uns am Gipfel angekommen. 

Rückfälle oder Umwege 

Dann passiert es aber immer wieder auch, dass wir auf alte, schon längst überwundene Muster zurückfallen. Wir versinken in Filmserien, die uns nicht wirklich interessieren, spielen Computerspiele, die uns abstumpfen, finden alle möglichen Ausflüchte, wenn wir etwas für unsere Fitness machen sollten, rasten wegen Kleinigkeiten aus und fühlen uns andauernd angespannt oder verstimmt. Wir sind wieder im alten Fahrwasser, als hätte sich nie etwas geändert. Schon sind die Selbstvorwürfe aktiv, mit denen wir unsere Stimmung noch mehr vermiesen. Wir denken uns, die ganzen Bemühungen haben alle nichts gebracht, all das Geld, das wir für Sitzungen und Selbsterfahrungsgruppen, für Meditationsretreats und Indienreisen ausgegeben haben, war für die Katz‘. All die Zeit, die wir für tägliches Meditieren, Yogamachen, Achtsamkeitsgehen und QiGong-Übungen aufgewendet haben, war vergeudete Liebesmüh‘. Es kommt uns vor, als ob wir im gleichen bekannten Sumpf stecken, in dem wir uns schon vor Jahren missmutig gesuhlt haben.  

In solchen Situationen haben wir vergessen, dass das innere Wachsen kein linearer Prozess ist. Wir haben vergessen, wie trickreich unser Ego ist, weil wir dachten, wir hätten es schon längst durchschaut und überwunden. Aber es wartet immer wieder hinter einer Ecke und ist dann plötzlich wie selbstverständlich wieder da, meistens gerade dann, wenn uns das Leben neue Herausforderungen präsentiert. Dadurch geraten wir in Stress und fallen aus der inneren Balance. Und schon ist das Ego zur Stelle und macht sich wichtig. Schließlich war es jahrzehntelang der Krisenmanager. Es reproduziert alten Stress und verbindet ihn mit der neuen Situation, es mobilisiert alte Bewältigungsmechanismus, die aus unserem Überlebensmodus stammen.  Schnell kommt es wieder in seine ursprüngliche Macht. Es lässt uns ungeduldig werden und aktiviert unsere Selbstzweifel: Was hat das alles gebracht, was wir zu unserer Selbstverbesserung und zur spirituellen Öffnung unternommen haben, wo wir doch schon wieder in einem alten Loch stecken? 

Das Ego weiß um seinen natürlichen Feind, das innere Wachsen. Deshalb macht es alles schlecht, was ihm gefährlich werden könnte.  Es versetzt uns in Unruhe und Unzufriedenheit und will uns weismachen, dass wir, wenn unsere Bemühungen sinnvoll gewesen wären, wir schon längst dauerhaft in Shangri-La wohnhaft sein müssten. Da das noch immer nicht der Fall ist, kann es sich stolz als Retter in der Not auf die Brust klopfen und den weiteren Fortschritt auf zweierlei Weise behindern: Entweder indem es den Narzissmus der spirituellen Sucherin nährt und suggeriert, welch außergewöhnliche und ausgewählte Person sie ist oder indem es der Ungeduld Raum gibt, die immer nachfragt, wie lange es noch dauert, bis endlich das Ziel erreicht ist. 

Immer also, wenn sich die Ungeduld in unsere Innenarbeit einmischt, sollten wir wissen, dass es das Ego ist, das uns den Genuss der Früchte unseres spirituellen Strebens verderben möchte. Die Ungeduld führt uns weg aus dem gegenwärtigen Moment und verbindet uns mit einer illusionären und fantasierten Zukunft. Sie macht uns schmerzlich bewusst, dass wir noch immer nicht dort sind, wo wir meinen, dass wir eigentlich schon längst sein sollten.  

Das Handtuch werfen 

Manche geben die Reise nach innen auf, wenn sie merken, dass sie schon wieder einem Rückfall im Wachstumsprozess unterlegen sind. Sie kehren zum „normalen“ Leben zurück, tauchen in die „sublime Mittelmäßigkeit“ frei nach Hanzi Freinacht ein und genießen die kleinen oder größeren Vorzüge des Alltags. Sie gewöhnen sich an das Auf und Ab der Stimmungen und richten es sich in den altbekannten Gewohnheiten wohnlich ein. Mit ein wenig Wehmut und viel Sarkasmus blicken sie vielleicht zurück auf die Zeiten der “Nabelbeschau” zurück und pflegen ein Stück heimliche Bewunderung und Verachtung für jene, die sich weiter auf diesem Weg abmühen. 

Widerstände werden zu Ressourcen 

Andere nehmen den verlorengegangenen Faden wieder auf und wandern ihm entlang weiter. Sie erkennen, dass Rückschritte zum Weg gehören, weil sie auf tiefere Widerstände aufmerksam machen. Sie erfahren, dass die Hemmungen beim Weitergehen ganz wichtige Lernerfahrungen beinhalten, wenn sie bewusst erforscht werden. Sie nehmen sich dieser Kräfte an, die gesehen, gespürt und überwunden werden können, bis sie sich in Ressourcen verwandeln und dem Wachsen dienen. 

Bald werden sie bei diesen Erkundungen merken, dass sie auf einem Fundament aufbauen, das sich durch die früheren Erfahrungen gebildet hat. Nichts, was je erworben wurde, ist umsonst geschehen. Jedes Lernen und Wachsen hat eine Spur hinterlassen und Neues erschlossen.  

Sie kommen leichter in die innere Stille als in ihren Anfängen, sie merken, dass ihnen die Disziplin im Üben und Reflektieren leichter fällt als früher und dass sie schneller zur Gelassenheit zurückfinden, wenn sie sich mal aufregen. Sie erkennen, dass kein Schritt, der sie jemals näher zu sich selber geführt hat, umsonst war, sondern dass all diese Erfahrungen ihren Sinn haben und zum Weitergehen beitragen.  

Das Rätsel der Ungeduld lichtet sich, indem es als ein Trick des Egos verstanden wird. Ein spiritueller Weg ist nie geradlinig und eben, er kennt viel rauf und runter, unerwartete und unübersichtliche Kurven tauchen auf, und manchmal stecken wir in einem Labyrinth fest und suchen verzweifelt den Ausweg. Hindernisse aller Art stellen sich entgegen, und eine davon ist die Ungeduld. Je mehr wir diese Hindernisse verstehen, desto besser können wir mit ihnen umgehen. Was uns zuerst als lästiger Gegner erscheint, wird dann zum vertrauten Bekannten, der uns ein Stück begleitet. Die Ungeduld, die wir zur Freundin gewinnen, verwandelt sich bald in eine entspannte Genießerin des Augenblicks.  

Zum Weiterlesen:
Alles zu seiner Zeit: Ungeduld in der Therapie
Geduld ist die Tugend der Glücklichen
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen

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