Montag, 27. März 2023

Der plötzliche Tod und die moderne Lebensweise

Ist der plötzliche Tod ein Phänomen der Neuzeit und eine Folge der Beschleunigung, die stattgefunden hat? Sicher hat es schon früher plötzliche Todesfälle gegeben, durch Unfälle, Gewalteinwirkung oder durch Herzstillstand. Aber es könnte sein, dass diese Todesart zugenommen hat, so wie auch die allgemeine Geschwindigkeit zugenommen hat. 

Der Verkehrstod 

90 % der Todesfälle durch Unfall geschehen im Straßenverkehr. Die rasante Zunahme der Verkehrstoten hat in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht dazu geführt, dass die Geschwindigkeit der Autos reduziert wurde, sondern dass die Fußgänger und Radfahrer von den Straßen verdrängt wurden. Einschränkungen müssen die potenziellen Opfer auf sich nehmen, nicht die möglichen Täter in ihren schweren Fortbewegungsmaschinen. 

Priorität genießt also die Schnelligkeit, und jeder, der sie stört, wird von den privilegierten Verkehrsflächen verbannt. Das Geschwindigkeitsprinzip im Sinn des expandierenden Kapitalismus hat zur Bevorzugung der schnellen Verkehrsmittel vor den langsameren Verkehrsteilnehmern geführt, und es ist bis heute wirksam. Die Verantwortung für den schnellen Verkehrstod wird damit von den schnelleren und damit lebensgefährlicheren Fortbewegungsmitteln auf die langsameren übertragen. 

Die Anzahl der Verkehrstoten weltweit übertrifft regelmäßig die der Todesfälle durch Kriege, Genozide und Terrorüberfälle bei weitem, und dabei sind diejenigen, deren Leben durch indirekte Folgen des Verkehrs verkürzt wird, z.B. durch Luftverschmutzung, gar nicht mit einberechnet. Miteinbezogen, würden sich die Todesfälle durch Verkehr verdreifachen. Die Beschleunigung fordert ihren Preis, und mit ihr steigen die plötzlichen Todesfälle. Der Tod hält offensichtlich Schritt mit der allgemeinen Zunahme der Schnelligkeit. 

Wir alle wünschen uns einen sanften, langsamen Tod. Wie das schöne Wort besagt, wollen wir friedlich entschlafen, nachdem wir uns von unseren Nächsten verabschiedet haben. Doch führen wir unser Leben so, dass wir alles tun, um dieses Ziel nicht zu erreichen. Wir beschleunigen, wo es nur geht, treiben uns an zu mehr und effektiverer Leistung, haben das Gefühl, dass wir nirgends nachlassen dürfen und meinen, dass auch nur kurzzeitige Untätigkeit der Anfang allen Lasters ist. Wir pumpen immer mehr Energie in alle Abläufe unseres Lebens und sorgen immer weniger für deren Regeneration und Nachhaltigkeit. Wir betreiben Raubbau an uns selbst, nicht nur an den natürlichen Ressourcen um uns herum. Wie also soll unser Leben organisch ausklingen, wenn wir bis zum Äußersten unorganisch leben?  

Krieg und Tod 

Plötzliche Tode gab es in allen Kriegen, aber die Technik, die immer mehr die Kriegführung übernimmt, führt zu immer raffinierteren Formen des Tötens, wo mit einem Atombombenabwurf auf einen Schlag hunderttausende Menschen den plötzlichen Tod finden. Raketen werden abgeschossen und landen in Wohnblöcken, in denen viele Menschen ihren sofortigen Tod finden. Der Einsatz von moderner Tötungstechnik fördert die Anonymisierung des Tötens: Der Töter steht dem Getöteten nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sondern drückt auf einen Knopf, das Geschoß nimmt seinen Lauf und findet selbstgesteuert sein Ziel, das es sofort vernichtet. Damit fallen viele Tötungshemmungen weg. Der plötzliche Tod wird zum dauernden Begleiter aller Menschen, die in einem Kriegsgebiet leben. Jede Kriegspartei versichert zwar, dass sie nur deshalb tötet, weil damit das Töten schneller beendet werden kann, aber das Einzige, was diese Todeslogik bewirkt, ist ein noch schnelleres und häufigeres Töten. 

Krankheiten der Zivilisation 

Herzinfarkte waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch für 10% der Todesfälle verantwortlich; zur Jahrtausendwende waren es in den Industrieländern bereits 50%. Diese Anstiege werden zwar mit der gestiegenen Lebenserwartung erklärt; ein Zusammenhang mit der zunehmend hektischeren Lebensweise („der Puls der Zeit schlägt immer schneller“) und dieser Form des raschen Todes drängt sich aber auf.  

Die Corona-Pandemie hat nicht nur gezeigt, wie rasant sich eine Krankheit in der modernen Gesellschaft über Länder und Kontinente ausbreitet. Sie hat auch zu einer Beschleunigung des Sterbens vor allem bei vorbelasteten Menschen geführt. Vor allem die ersten Varianten dieses Virus haben die Intensivstationen in unseren hochentwickelten Gesundheitssystemen sehr bald nach dem Ausbruch an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt. Die Entstehung und die Verbreitung des Virus, wie auch immer sie passiert ist, ist ohne die Beschleunigungsvorgänge in unseren Gesellschaften schwer vorstellbar. Das Virus erscheint wie ein Ausdruck der Unbewusstheit, mit der die selbst- und naturausbeutende Lebensweise unserer Industriekultur in rasendem Tempo vorangetrieben wird.  

Die Todesverdrängung 

Die Kehrseite der Todesverdrängung, die in allen Beschleunigungsanstrengungen wirksam ist, liegt in immer neuen Formen des plötzlichen Todes, die durch diese Lebensweise in der einen oder anderen Form hervorgerufen werden. Wir entrinnen unserem Ende nicht, so sehr wir uns auch beeilen, all das zu erledigen, was sich immer wieder von neuem auftut, um erledigt zu werden. Es scheint sogar, als würde dieses Ende umso abrupter kommen, je mehr wir ihm mit unserer Hast und mit unserem Vollstopfen der uns noch verbliebenen Zeit entkommen wollen. 

Zum Weiterlesen:

Die Langsamkeit der Natur
Alles zu seiner Zeit: Ungeduld in der Therapie
Geduld ist die Tugend der Glücklichen
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen
Ungeduld beim inneren Wachsen
Die Geschwindigkeitssucht
Langsamer ist schneller


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