Dienstag, 14. März 2023

Die Geschwindigkeitssucht

Wir wissen: Stress schwächt den Körper und steckt als Ursache hinter den meisten Erkrankungen und Todesfällen. Er behindert die Kreativität und hemmt die Potenziale. Er reduziert die kommunikativen Fähigkeiten und fördert sozialschädliches Verhalten. 

Dennoch unterliegen wir dem Rausch der Beschleunigung. Wir brauchen nur an die Anfänge der Personal Computer denken und an die Zeit, die sie für ihr Hochfahren und ihre Operationen benötigten. Wir brauchen nur an die Anfänge des Internets denken, wie langsam damals die einfachsten Seiten geladen wurden. Heute würden wir ausflippen, wenn wir mit dieser „Langsamkeit“ konfrontiert würden. Wenn wir noch weiter zurückgehen, kommen wir in eine Zeit, in der die ersten Autos mit 20 km/h unterwegs waren, während wir es heute als Zumutung empfinden, auf einer Autobahn nicht mehr als das Fünffache fahren zu dürfen. Noch weiter zurück konnten es sich einige leisten, mit Pferden die damals mögliche Höchstgeschwindigkeit zu erreichen; die meisten Menschen haben sich zu Fuß weiterbewegt und hatten einen Lebensradius von 20 oder 30 Kilometern im Umkreis, alles darüber hinaus war die unbekannte Fremde. 

Langsamkeit als Stressfaktor

Ein Kennzeichen der Moderne ist es, dass die Langsamkeit zum Stressfaktor wird. Der Mensch der Moderne ist getrieben, so, als stünde er im Bann eines permanenten Schneller-Sein-Müssens, wie z.B. Menschen auf dem Gehsteig, die dahinschlendern, während wir es eilig haben oder meinen, es eilig zu haben. Wir erleben sie als Hindernisse für unser Weiterkommen. Die Beschleunigung hat einen Sperrklinkeneffekt – es bewegt sich nur in eine Richtung weiter: Mehr und mehr Geschwindigkeit. Eine Rückwärtsbewegung würden wir nicht aushalten, weil sie uns sofort Angst bereitet. Sobald wir uns an eine bestimmte Geschwindigkeit gewöhnt haben, gibt es scheinbar kein Langsamer mehr. Oder wir vermeiden es um jeden Preis, die Geschwindigkeit zu drosseln, weil uns ein innerer Druck antreibt. Denn wir meinen, etwas zu versäumen oder irgendwohin zu spät zu kommen, wenn wir langsamer werden. Wir befürchten, dass das Leben an uns vorbeifließt und wir abgekoppelt von allem anderen an irgendeinem Rand übrigbleiben. Wir haben uns daran gewöhnt, dass unser Erleben mit dauernd wechselnden Reizen überfüllt wird, und sind irritiert, wenn die Flut weniger wird, wenn sich also dieser Strom verlangsamt oder verdünnt. Es entsteht ein Mangelgefühl, und daraus folgt ein Suchprozess nach neuen Reizen, um das empfundene Defizit wieder aufzufüllen. Dieser Vorgang ist von jeder Sucht bekannt: Fehlt der Gegenstand der Sucht, so fokussiert sich die gesamte Aufmerksamkeit darauf, ihn zu finden und damit die unangenehme Erregung, die mit dem Mangel verbunden ist, zu beruhigen. Sucht ist immer eine Bewältigung von Stress, die allerdings nur kurzfristig wirkt und anschließend das Stressniveau erhöht. Der Suchtkreislauf entsteht, der durch zunehmende Beschleunigung gekennzeichnet ist: Immer mehr, immer schneller.  

Jeder der vielen Reize, die auf uns einströmen, hat das Potenzial, Stress auszulösen, je nach der Bewertung, die das Nervensystem erstellt. Der Reizhunger ist ein zugleich ein Stresshunger, denn die chronische Stressbelastung führt dazu, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn die Stresshormone wie eine Nahrung einfordern. Damit wird die allgemeine Beschleunigung der Gesellschaft in den Individuen als Stress- und Geschwindigkeitssucht implantiert.  

Zeit ist Geld

Ein Merkmal der kapitalistischen Wirtschafsweise besteht darin, dass die Zeit mit Geld gleichgesetzt wird. Wer schneller ist, kriegt zuerst das Geschäft und verdient mehr Geld. Wer mehr Geld hat, kann mehr investieren und verdient dadurch noch mehr Geld. Die Warenproduktion wird angekurbelt, und die Individuen werden zu Konsumenten und sollen mehr und schneller konsumieren. Deshalb ist der Hunger nach Beschleunigung in den Menschen ein zentrales Interesse der Wirtschaft und zugleich das, was sie dauernd hervorrufen. 

Der Geschwindigkeitsrausch

Eine Errungenschaft der Moderne besteht darin, die Grenzen der menschlichen Macht über Raum und Zeit auszudehnen: Mit Hilfe von Maschinen gelingt es, die Grenzen des menschlichen Körpers zu überwinden, die Natur und die Schwerkraft zu bezwingen und damit ein Herrschafts- und Machtgefühl genießen. Fast jeder Bewohner eines weiter entwickelten Landes hat die Möglichkeit, sich in eine Maschine zu setzen, auf ein Pedal zu treten und sich mit einer Geschwindigkeit zu bewegen, die sonst kein Lebewesen auf diesem Planeten schafft. Das Auto ist für die meisten nicht einfach nur ein Mittel, um von A nach B zu kommen oder schwere Sachen zu transportieren, sondern wird in der Fantasie der von Geschwindigkeitssucht Betroffenen ein Kultobjekt mit magischer Bedeutung. Es verspricht die Macht über Raum und Zeit, jenseits der Grenzen, die die Natur gesetzt hat. Es symbolisiert den Sieg der Menschen über die Natur, an der jeder Autonutzer teilhaben kann.  

Die Beschleunigung wirkt wie ein Wettlauf auf den Tod hin. Sie ist angetrieben von der permanenten Vorwegnahme des Todes, indem in die verbleibende Zeit hineingestopft werden muss, was nur irgendwie Platz hat. Je mehr Termine und Erledigungen bewältigt werden können, desto weiter scheint sich das drohende Ende zu entfernen. Aber unausweichlich ist das Ende, bei dem alles immer langsamer werden wird, bis es schließlich zum Stillstand kommt. 

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