Samstag, 25. Februar 2023

Geduld ist die Tugend der Glücklichen

Wenn wir ungeduldig sind, sind wir nicht einverstanden, wie die Zeitstruktur der Wirklichkeit gerade beschaffen ist. Wir hätten gerne, dass irgendetwas schneller abläuft, als es gerade abläuft. Der Zug, auf den wir warten, soll schneller da sein, die Person, mit der wir weggehen wollen, soll schneller fertig werden, der Stau, in dem wir stecken, soll sich schneller auflösen usw. Wir geraten in Stress und machen die Umwelt dafür verantwortlich. Da sie sich nicht unseren Erwartungen gemäß verhält, erzeugt sie einen Druck in uns, der uns unangenehm ist und den wir so schnell wie möglich wieder loswerden möchten. Wir geraten in eine Opferrolle der äußeren Wirklichkeit gegenüber, denn sie alleine kann und muss dafür sorgen, dass es uns wieder besser geht und wir aus dem Stress herausfinden. 

Soziale Ängste 

Hinter der Ungeduld steckt die Angst, etwas zu versäumen, etwas nicht zu schaffen, etwas zu verlieren usw. Die Angst entsteht, weil unsere Erwartung zerstört wird, also die Fantasie, die wir über die Zukunft entwickelt haben, z.B. die Vorstellung, pünktlich zu dem Geburtstagsfest einzutreffen. Wir geraten in Stress, weil die ausbleibende Straßenbahn oder der Stau auf der Zufahrtsstraße unsere Pläne durchkreuzt und bewirkt, dass wir unpünktlich sein werden. Wir sind gerne zuverlässig und befürchten, dass wir wegen dem Zuspätkommen unsere Gastgeber enttäuschen und sie uns dann für unzuverlässig halten. Im Grund plagt uns die Angst, weniger gemocht zu werden und in der Achtung unserer Mitmenschen zu sinken, die den Stress auslöst.

Ungeduld und Wut

Hinter der Ungeduld steckt auch eine Aggression. Sie ist der Gegenpart zur Ohnmacht, die mit Situationen verbunden ist, über die wir keine Kontrolle haben, die wir also nicht in unserem Sinn gestalten können. Wir sind der Langsamkeit anderer Menschen oder der Säumigkeit von anderen Abläufen ausgeliefert. Der Zorn gibt uns das Gefühl, Einfluss ausüben zu können und zu müssen. Wir erlangen also ein Stück der Kontrolle zurück. Selbst wenn wir nur schimpfen und hadern, bekommen wir den Eindruck, dass wir etwas Macht ausüben können. Wir fühlen uns handlungsfähig. Wir stellen der widrigen Wirklichkeit eine Energie von uns gegenüber und fordern sie heraus. Wir wollen sie mit unserer Kraft zwingen, dass sie sich unseren Vorstellungen gemäß verhält. Wir beschweren uns über das, was uns da zugemutet und auferlegt wird und wir klagen an, dass uns ein Stress bereitet wird. Die Wut suggeriert uns, dass wir der Opferrolle nicht ausgeliefert sind, sondern dass wir uns wehren können. 

Allerdings wird es in den meisten Fällen so sein, dass unsere Wut nichts ausrichtet. Der Zug kommt nicht schneller, auch wenn wir uns noch so ärgern. Der Stau reagiert nicht auf unseren Gemütszustand. Und der Mitmensch, dem wir unseren Zorn über seine Saumseligkeit entgegenschleudern, wird möglicherweise selbst zornig reagieren und damit auch nicht schneller unsere Erwartungen erfüllen. Mit der Wut können wir zwar ein wenig von unserem Stress loswerden, steigern aber unter Umständen den Stress in unserer Umgebung.

Ungeduld und Scham

Hinter der Ungeduld stecken auch Schamgefühle. Denn die Ungeduld nährt sich aus Erwartungen und sozialen Zusammenhängen. In den meisten Fällen geht es darum, dass wir fürchten, die Erwartungen anderer Menschen zu enttäuschen, was uns Schamgefühle beschert. Manchmal geht es auch um Erwartungen, die wir an uns selber haben, wenn wir z.B. ungeduldig sind, weil wir eine Arbeit nicht in der Zeit schaffen, die wir dafür vorgesehen haben. In diesen Situationen schämen wir uns vor uns selbst und werten uns ab, weil wir nicht unserem Ideal entsprechen. 

Das Üben der Geduld

Zunächst sollten wir einsehen, dass jeder Stress in uns selber entsteht. Wir verfügen nicht über einen Knopf, auf den andere Menschen oder Reize aus der Umwelt drücken, und dann spüren wir uns gestresst. Wir deuten bestimmte Ereignisse in unserer Umgebung so, dass sie uns bedrohen, und das löst dann die Stressreaktion aus. Meist erfolgt diese Interpretation unbewusst, aber sie erfolgt in uns. Wir sind es also, die den Stress produzieren, und wir sind dafür verantwortlich. Wir haben also auch die Verantwortung, den Stress wieder zu beruhigen, z.B. indem wir unsere Ausatmung entspannen und langsamer atmen. Wir können die unangenehme Wartezeit in eine Meditationszeit umwandeln. Wir können uns mit etwas beschäftigen, das uns entspannt und interessiert. Wir haben viele Möglichkeiten, um vom Stress herunterzukommen, die wir erst ergreifen können, sobald wir erkennen, dass unser Stress hausgemacht ist. 

Dann geht es auch darum, zu erkennen, dass wir uns in der Ungeduld und dem Ärger, der in ihr steckt, mit der Wirklichkeit zerstreiten. Wir stellen uns über sie drüber und wollen sie beherrschen. Doch ist das ein sinnloser Anspruch. Bekanntlich wachsen die Grashalme nicht schneller, wenn wir sie antreiben. Die Wirklichkeit ist immer mächtiger als wir selbst. Alles, was sie von uns einfordert, ist Akzeptanz: Das Annehmen dessen, was jetzt gerade ist. Das, was wir wollen, kommt immer erst hinter dem, was ist. Beim Streit mit der Wirklichkeit unterliegen wir immer. Sobald wir aber akzeptieren, was ist, öffnen sich unsere Handlungsräume. Wir gewinnen einen Überblick über die Möglichkeiten, die wir haben, z.B. eine andere Route zu wählen, die entstandene Wartezeit mit anderen Inhalten zu füllen usw. Auf diese Weise versöhnen wir uns mit der Wirklichkeit, und der Stress löst sich. Wir können das genießen, was gerade ist. In diesem Sinn meint Spinoza: „Geduld ist die Tugend der Glücklichen.“

Das Leben bereitet uns immer wieder Überraschungen, und zu den unangenehmen Überraschungen zählt alles, was uns ungeduldig macht. Wir fallen aus dem Fluss des Lebens heraus und auf uns selber und unser starrsinniges Ego zurück. Es will uns einreden, gegen das Leben zu kämpfen, um unsere Interessen und Vorstellungen durchzubringen. Doch ist dieser Kampf aussichtslos. Wir werden ihn nie gewinnen, sondern nur noch mehr Stress aufbauen.

Die Geduld zu erwerben und zu vergrößern, ist ein Prozess in der Vertiefung unserer Bewusstheit. Jede Regung der Ungeduld in uns ist eine Chance, mehr in die Akzeptanz der Wirklichkeit zu gehen und unser Ego zurückzustufen. Mehr Geduld bedeutet mehr Lebensqualität. Rainer Maria Rilke schreibt: „Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!“

Zum Weiterlesen:
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen
Der notorische Selbstzweifel
Akzeptiere was ist - einfach ist es nicht


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