Wer anderen Menschen Leid zufügt, erlebt Scham. Diese unweigerliche Reaktion entspringt aus der sozialen Natur der Menschen. Wenn wir das Leid nicht erkennen, das wir anderen antun, fallen wir aus dem sozialen Netz heraus, und in der Folge zerfällt die Gesellschaft. Das Erleben von Scham ist also ein wichtiger Kitt für den Zusammenhalt unter den Menschen und ein starkes Gegengewicht gegen einseitige Machtdurchsetzung und Gewaltausübung. Der Willkür, die sich aus einer Überlegenheitsposition ableitet, kann nur Einhalt geboten werden, indem die Scham darüber erkannt wird.
Wenn schon kleine Verletzungen, die im zwischenmenschlichen Alltag geschehen, zu Schamreaktionen führen, dann ist es klar, dass massive Verletzungen, wie sie in einem Krieg geschehen, ebenso massive Schamgefühle auslösen. Am aktuellen Beispiel der Ukraine bedeutet das, dass die Angreifer, die russische Föderation und die für den Angriff verantwortlichen Personen massiv mit Scham belastet sind.
Krieg ist eine Schande
Sergej Gandlewskij, ein angesehener russischer Dichter, hat einen Protestbrief verfasst, in dem er schreibt: „Der von Russland gegen die Ukraine entfachte Krieg ist eine Schande! Das ist unsere SCHANDE. Leider werden noch die Generation unserer Kinder und die heute noch gar nicht geborenen Russen die Verantwortung dafür übernehmen müssen!“ Den Brief haben bisher zehntausend russische Kulturschaffende unterzeichnet. (Quelle: Falter 10/22, S. 28)
Das Phänomen hat den Kreml-Sprecher Peskow zu der Äußerung veranlasst: “Ein echter Russe schämt sich nie, ein Russe zu sein.” Wer sich dennoch schäme, wäre kein echter Russe. Das ist eine Formulierung aus einem blinden und autoritären Nationalismus: Über die eigene Nation darf man nichts kommen lassen, sonst gehört man nicht mehr dazu. Zur Nation zu gehören heißt bedingungslos deren Führern zu folgen und deren Handeln für richtig zu befinden. Die Scham wird verboten, weil sie dazu herausfordert, das eigene Handeln in Frage zu stellen und zu überprüfen. Eine schambefreite Nation ist zu allem fähig, gleich ob es gut oder böse ist: Right or wrong, it is your country. Vor solchen Nationen sollte man sich hüten.
In dieselbe Kerbe schlägt die kategorische Aussage einer russischen Facebook-Posterin, dass Russen keine Zivilisten töten. Es ist, als ob die eigene Rechtschaffenheit und der Wunsch nach Menschlichkeit der ganzen Nation übergestülpt wird. Wer Russe ist, ist automatisch gut. Damit kann die Identifikation aufrechterhalten bleiben, die an das Ganze der Nation bindet. Der Umkehrschluss gilt dann auch gleich: Wer Zivilisten tötet, kann kein Russe sein. Alles Böse wird externalisiert, wird nach außen verbannt, und das Innere wird zwanghaft sauber gehalten.
Generationenbelastung
Für alle aber, die nicht im Bann einer nationalistischen Ideologie stehen, ist jetzt schon klar zu sehen, dass verursachtes Leid Scham auslöst und Verantwortung einfordert. Wenn sie nicht gleich mit dem Geschehen einbekannt wird, überträgt sie sich auf die nächsten Generationen. Auch auf der Täterseite entsteht damit eine kollektive Traumatisierung, die im schlimmsten Fall weitere Aggressionen befeuert und im besseren Fall zu einer Abkehr von Gewalt und Militarismus führt, wie es z.B. in Deutschland und Japan, den beiden Aggressoren im 2. Weltkrieg, geschehen ist.
Nur mit dem Annehmen und Einbekennen der Scham kann die eigene Seele ins Gleichgewicht kommen und nur so können die sozialen Beziehungen wiederhergestellt werden. Nur so kann Unmenschlichkeit durch Menschlichkeit ersetzt werden. Sich der Scham zu stellen und das angerichtete Unheil einzugestehen und dafür die Verantwortung zu übernehmen, führt zurück in die Würde und zum Respekt für die anderen, vor allem für die Opfer. Wenn das nicht geschieht, bleibt die Scham bestehen und legt sich wie eine Wolke über die eigene Person und über eine ganze Gesellschaft, eine Wolke, die alles Erleben eintrübt.
Schamabwehr
Da diese Konsequenzen aus Leid, das anderen zugefügt wurde, unvermeidlich sind, aber zugleich mit äußerst unangenehmen Gefühlen verbunden sind, kennt die menschliche Seele eine Reihe von Abwehrformen, die scheinbar aus der Last der Scham herausführen. Die Hauptverantwortungsträger bei kollektiven Schambelastungen nutzen die einfachste Form der Schamabwehr, die Unverschämtheit, also die Weigerung, Scham zu spüren, und sie wird meist verbunden mit ideologischen Rechtfertigungen: Die Aggression gegen den Nachbarn war notwendig, um Unheil von ihm selber abzuwenden, um einen historischen Irrtum zu korrigieren, um das eigene Volk vor einer Bedrohung zu schützen usw.
Es gibt immer Gründe für das eigene Handeln, ob sie nun aus der Realität oder aus der eigenen Fantasie, gespeist von kollektiven Traumen, abgeleitet sind. Aber diese Gründe reichen nicht aus als Rechtfertigung für das Leid, das verursacht wurde. Gründe und Motive finden sich genauso willkürlich wie die Taten selbst. Mit Gründen versucht sich der Täter herauszureden, damit er nicht die Verantwortung für seine Taten übernehmen muss. Er will sein Gewissen beruhigen und die Scham stilllegen. Nicht zugelassene Scham öffnet dann Tür und Tor für das Festhalten an der eigenen Praxis, daran, dass die aggressive Schiene zwanghaft weiterverfolgt werden muss. Je mehr wider die eigenen Schamregungen agiert wird, desto stärker ist der Impuls, das eigene Tun durch das Tun zu rechtfertigen. Denn es fehlt das Korrektiv, das die Destruktivität eingrenzen könnte. Das Eingestehen von Scham und Schuld gilt als Schwäche, die um jeden Preis vermieden werden muss – und wenn dafür auch andere Menschen mit ihrem Leben bezahlen müssen.
Der Verlust der Scham bewirkt einen Verlust der Empathie. Gesprächspartner des russischen Präsidenten berichten, dass er, auf zivile Opfer angesprochen, keine Gefühlsregung zeige. Vergleichbar dem Weltgeist nach Georg Hegel, der unbesehen der Schlachtbänke der Menschheit, die immer wieder angerichtet werden, in seinem Gang weiterschreitet, fühlen sich manche Drahtzieher und Regisseure von Bluttaten als Vollstrecker historischer Notwendigkeiten, für deren Verwirklichung Menschenleben und Menschenleid nicht zählen.
Scham auf der Täterseite
Wer sich auf der Täterseite zur Scham bekennt, schert aus aus dem verschworenen und verordneten nationalen Einheitsdenken. Die Absage an die bedingungslose Identifikation mit der Nation und all ihren Angehörigen ermöglicht einen bewussten Umgang mit der kollektiven Scham und reduziert deren Macht. Es bleiben die Türen zu den Schamgefühlen offen, sie werden nicht gänzlich ins Unterbewusste verdrängt und bilden ein Gegenmittel zur vorherrschenden Schamlosigkeit. Jede Ent-Identifikation mit dem Nationalstolz und der Illusion von Gleichheit, die damit suggeriert wird, ermöglicht die differenzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Jede Absplitterung vom monolithischen Block der schambefreiten Nation ersetzt Fantasie, Wunschdenken und Ideologie durch Realität.
In dieser Realität gibt es Gutes und Böses überall, bei den Eigenen und bei den Feinden. Die Nation ist ein Konstrukt, das besonders in Krisenzeiten herbeibeschworen wird, um die Leute unter einem Banner zu scharen und in einen Krieg schicken zu können. Dieses Konstrukt hat die Verdrängung der Scham als einen wichtigen Zweck. Deshalb sind in seinem Namen unzählige Grausamkeiten und Skrupellosigkeiten begangen worden, eigentlich genug, sollte man nach 240 Jahren Erfahrung mit diesem blutgetränkten Begriff meinen, endlich Zeit, das Gemeinsame, das Übernationale über das Nationale zu stellen und den Mut aufzubringen, zum moralischen Versagen der Vergangenheit und der Gegenwart stehen zu können und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Nur so gibt es einen Weg in eine friedvollere Zukunft, in der die Menschenwürde an höchster Stelle steht.
Zum Weiterlesen:
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Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
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Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
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