Mittwoch, 6. April 2022

Die toxische Männlichkeit und die Verletzlichkeit

Traditionell sind Kriege Männersache. Es gibt zwar die Mythen von den kämpfenden Amazonen, und immer mehr Frauen übernehmen Rollen in den Streitkräften. Aber nahezu alle Kriege in der Menschheitsgeschichte wurden von Männern angezettelt und ausgefochten. In früheren Zeiten war ihre Körperkraft gefragt, wenn es darum ging, den eigenen Stamm vor Feinden zu schützen, während die Frauen für die Nachkommen sorgen sollten. Heutzutage, wo Kriege nicht nur im Schlamm, sondern zunehmend von geschützten Kontrollzentren aus geführt werden, ist die männliche Dominanz beim Führen von Kriegen obsolet geworden. Und die Frage wird immer wieder gestellt, ob es mit mehr Frauen an der Macht weniger Kriege würde oder ob sogar das Phänomen des Krieges vom Planeten verschwinden würde, wenn überall die Frauen das Sagen hätten. So weit sind wir noch lange nicht. Deshalb wird in diesem Artikel den Spuren des Patriarchalismus nachgegangen, um die männlichen Aspekte bei den Versuchen gewaltsamer Konfliktbewältigung besser zu verstehen.

Im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine viele Kommentare auf die Rolle von Männern im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch hin. Die Hauptakteure und Hauptverantwortlichen dieses Krieges sind allesamt Männer und die Kriegsrhetorik ist auch sehr stark männlich geprägt. Hier kommt das Stichwort von der toxischen Männlichkeit ins Spiel.

Toxische Männlichkeit

Der Begriff der Toxizidität ist in Mode gekommen. Er stammt ursprünglich aus der Pharmakologie und der Lehre von Giften und wird nun auch in der Psychologie und Alltagssprache auf Personen, Werthaltungen und Beziehungen angewendet. Das geht manchmal so weit, dass jemand alles als toxisch bezeichnet, was einem nicht gefällt. Der Begriff spielt mit den Emotionen von Angst und Ekel – Gifte bedrohen unser Leben und wir sollten uns davor hüten, mit ihnen in Kontakt zu kommen.

Mit toxischer Männlichkeit wird ein Bündel von Eigenschaften bezeichnet, die einem traditionellen Männerbild entsprechen: Neigung zu Gewalt, Dominanzgehabe, Einschüchterungsverhalten, Gefühlsabwehr, Abwertung und Unterdrückung von Frauen. Es ist der Patriarchalismus, der diese Form von Männlichkeit hervorgebracht hat, und er ist über die Jahrhunderte eng mit der Kriegsgeschichte verknüpft, und viele dieser Elemente wirken auch am aktuellen Kriegsgeschehen mit. 

Geburt und Heldenprägung

Männer dürfen keine Schwäche zeigen, sondern müssen hart sein, so lautet ein Leitspruch des Patriarchalismus. Die bekannten Mythen der Unverwundbarkeit sind aus diesen Quellen gespeist: Achill und Siegfried, die im Unterweltsfluss oder im Drachenblut baden und nur an einer kleinen Stelle verwundbar bleiben. Der Mythos besagt, dass der Held von der Sehnsucht nach einem völlig geschlossenen Außenschutz geleitet ist, in dem es keine Lücke der Verletzbarkeit gibt.  Er besagt aber auch, dass es aber keine vollständige Panzerung gibt, dass also immer eine Schwachstelle bestehen bleibt, über die sich der Tod einschleichen kann. 

Auf die Ebene des Psychischen übertragen, erkennen wir das Psychogramm des Mannes im Patriarchalismus. Das Streben nach Unverletzbarkeit, das auch ein Streben nach Unsterblichkeit beinhaltet, führt weg von der Innenwelt mit ihren Wunden und Ambivalenzen. Wenn von außen keine Gefahren mehr Angst machen müssen, braucht es keine Beschäftigung mit den Dämonen im Inneren. Alles, was bedrohlich ist, kann in der Außenwelt bekämpft und besiegt werden. Doch weist der Mythos auf den illusionären Charakter dieser gewaltbereiten Agenda hin: Auch die beste Abwehr weist eine Schwachstelle auf, über die das Innere aus seinen Tiefenschichten ins Bewusstsein drängt und die Abwehrbereitschaft unterminiert.  

Der Mythos vom Drachenblut

Das Drachenblut, das in der germanischen Sage diesen Schutz gewähren könnte, enthält deutliche Bezüge zur Geburt, denn ohne Mutterblut gibt es keine Geburt. Es ist also in diesem Fall eigentlich das Mütterliche, von dem das heldenhaft Männliche seine Unversehrbarkeit erhofft. Im Abschied vom mütterlichen Schutz, der die Unversehrbarkeit garantiert hat, braucht es einen neuen Schutzmantel, den die Mutter dem künftigen Helden auf den Weg mitgeben soll.

Das Blut wird im Mythos frei als Folge von Gewalt gewonnen, es muss ein Drache getötet werden, damit das Bad in seinem Blut möglich ist. Der Schutz wird gewährt, indem ein anderes Leben verletzt oder getötet wird. Auch die Mutter hat Gewalt erlitten, durch die Macht der Wehen und durch das Durchdrängen des Babykörpers durch die Enge des Geburtskanals. Das Blut kommt aus den Wunden, aus den Verletzungen, es trägt die Signale des Schmerzes in sich. Und gerade dieses Blut soll hinkünftig  jede Verletzlichkeit tilgen und damit vor allen Folgen von äußerer Gewalt schützen. Imprägniert mit dem Mutterblut, durch das das eigene Leben zur Welt gekommen ist, soll der Held dieses Leben meistern. 

Der Drache gilt als Symbol der unberechenbaren und unkontrollierbaren Zerstörung, er ist ein Vernichter und ein Verwandler von Ordnung in Chaos. Auf die Geburt bezogen, repräsentiert er die wuchtigen Gebärmutterkontraktionen, denen sowohl Mutter als auch Kind während der Austreibungsphase ausgesetzt sind. Die Ordnung des vorgeburtlichen Lebens wird über den Haufen geworfen, ein riesiges Chaos setzt ein. Es gibt kein Zurück, aber das Wohin ist ungewiss. Im Drama der Geburt entfaltet sich eine gewaltige Macht über Leben und Tod. Sie führt die Regie bei dem Geschehen. Es ist ein Kampf ums Überleben, gegen einen scheinbar übermächtigen Drachen. Mit Blut, Schweiß und Tränen erkämpft sich das Baby den Weg durch den Geburtskanal in die Freiheit, mit ähnlicher Anstrengung gibt die Mutter das neue Lebewesen frei. Die Bedrohungen im Chaos wurden überwunden, eine Heldentat ist vollbracht.

An der Schwelle des Todes

Der griechische Heldenmythos von Achilleus greift in anderer Weise auf die Geburtsmetaphorik zurück: Der kleine Achill wurde von seiner Mutter im Styx gebadet, in dem Fluss, der die Lebenden und die Toten trennt. Sie hielt ihn an der Ferse fest, wodurch diese Stelle nicht geschützt war. Er wurde kopfüber ins giftige Wasser gehalten, wie auch fast alle Menschenbabys kopfüber geboren werden. Im Niemandsland gewissermaßen, zwischen Leben und Tod, kann die Unverwundbarkeit erlangt werden. Dort, wo der Geburtsprozess auf der Kippe steht, wo er gut oder schlecht ausgehen kann, ist der Moment der Entscheidung. Das Überleben ist die Meisterung der Bewährungsprobe und verleiht die Unverwundbarkeit. Wenn diese Gefahren bewältigt wurden, kann nichts mehr im Leben unüberwindlich erscheinen. 

Das Gift im mythologischen Fluss stellt ein Symbol für die fremden Substanzen und Gerüche dar, denen das Baby im Geburtskanal begegnet und auf die es mit Ekelgefühlen reagiert. Auch diese Herausforderung wird mit jeder gelungenen Geburt bewältigt. Sie immunisiert vor allem, was jemals wieder Ekel verursachen könnte.

Die Instrumentalisierung der Helden im Patriarchalismus

Diese Heldenreise haben aber nicht nur die Männer, sondern auch alle Frauen hinter sich, sobald sie geboren sind. Dennoch finden offenbar unterschiedliche Codierungen, unterschiedliche Bedeutungsgebungen statt, gemäß dem vorherrschenden sozialen Umfeld, das den neuen Erdenbürgern seine bewussten und unbewussten Erwartungen mitgibt. Für männliche Babys wird eine Vorahnung und Vorprägung für das tapfere Bestehen von äußeren Herausforderungen im späteren Leben übermittelt, während die weiblichen Babys auf die Mühen der späteren eigenen Mutterschaft eingestimmt werden. Deshalb wird die Metaphorik der Unverletzbarkeit nur von den männlichen Heldenepen aus dem Geburtsprozess übernommen. 

Mannsein bedeutet, keine Verletzbarkeit zu kennen und stattdessen alle Schmerzen, die das Leben bereitet, mutig durchzustehen, gewappnet mit dem Mutterblut oder Muttergift. Es bedeutet, keine Feigheit und keine Schwäche zuzulassen und die Gefühle, die damit verbunden sind, unter Kontrolle zu haben. Insbesondere die Schamgefühle, die in Hinblick auf die eigene Bedürftigkeit bestehen, müssen gut verdrängt bleiben, nach dem Motto: Lieber unverschämt als beschämt durchs Leben gehen.

Im Patriarchalismus wird von den Männern erwartet, dass sie sich genau so verhalten: schmerzunempfindlich, gefühlsbefreit und durchsetzungsstark. Sie sollen alles unter Kontrolle haben, einschließlich ihrer selbst. Toleriert wird allenfalls die verstärkte Neigung zur Aggression, die aber in zivilen Grenzen bleiben muss. Das ist das Korsett, in das dem Mann gesteckt wird. Der Erwartungsdruck kommt von den anderen Männern und von den Frauen, die zugleich unter dieser Form der deformierten Männlichkeit leiden.

Die Selbstentfremdung

Das ist der tragische Zyklus des Patriachats und der aus ihm entstandenen toxischen Männlichkeit: Die Abspaltung der Verletzlichkeit führt zur inneren Verhärtung, und diese entfernt noch weiter von den feineren Gefühlen und damit vom inneren Selbst. Der Preis der Panzerung liegt in der Selbstentfremdung. Es ist die Angst vor Verletzung und in der Folge die Angst vor der Verletzlichkeit, die das Erleben und Handeln bestimmt. Zugleich ist die Schamvermeidung am Werk, die es für unmöglich erklärt, die eigenen Verletzungen zuzugeben. Für viele Männer ist der Satz: „Ich bin verletzt!“ nicht aussprechbar. Die Angstvermeidung und die Schamvermeidung wirken zusammen, sodass immer weniger gespürt werden kann. Als einzige emotionale Reaktionsweise auf Verletzungen meldet sich verlässlich die Wut.

Von hier ist die Schiene zur Ausbildung einer einseitig auf Gewalt gestützten Männlichkeit gelegt. Jede Form der Gewaltausübung stammt aus der Verdrängung der vulnerablen Seite. Zuerst kommt die Gewalt, die den eigenen Gefühlen angetan wird, und dann richtet sie sich nach außen, auf Konkurrenten, Gegner und Feinde, auf die Natur und auf alles, was in irgendeiner Weise an Schwäche und Verletzbarkeit erinnert. Alles, was Schwäche signalisiert, ist bedrohlich. 

Das Erleben von Gewalt gibt hingegen das Gefühl von Überlegenheit und Kontrolle. Je mehr davon gespürt werden, desto höher ist die Sicherheit vor der Verletzbarkeit. Es verleiht die Illusion der Mächtigkeit, mit deren Hilfe alles, was einen verunsichern könnte, bekämpft werden kann. Verletzlichkeit, Schwäche, Bedürftigkeit sind angstbesetzte Zustände, die abgewehrt und abgespaltet werden müssen. Durch diese innere Spaltung wird die Männlichkeit toxisch.

Jede Gewaltausübung, ob geistig, emotional oder physisch, hinterlässt Schneisen von Verletzungen. Jede Verletzung konfrontiert mit der Zerbrechlichkeit des Menschlichen. Um von dem Grauen, das nach dem Gräuel bleibt, nicht berührt zu werden, muss das Zerbrechliche im eigenen Inneren mit Gewalt unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden. Die Mechanismen der Grausamkeit setzen ein, die immer zuerst gegen das eigene Selbst wirken, ehe sie die Zerstörungen in der Außenwelt anrichten. 

Zum Weiterlesen:
Der Verlust des Männlichen im Patriarchalismus
Schamverdrängung im Ukrainekrieg


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