Donnerstag, 28. April 2022

Die Traumwelt und die Moderne

Beim Träumen (gleich ob beim Tag- oder Nachtträumen) befinden wir uns in einem besonderen Zustand, der über eine eigene Form der Realitätswahrnehmung verfügt. Während des Träumens erleben wir meistens unsere Erfahrungen als so wirklich wie die Wirklichkeit während des Wachens. Erst wenn wir aufwachen, erkennen wir, dass wir in einer anderen Wirklichkeit waren, die weniger wirklich ist als die im Wachzustand erlebte Welt. Den Unterschied zwischen Wach- und Traumzustand können wir also nur im Wachzustand feststellen. 

Traumzustände sind ein wichtiger Teil unseres Lebens – ohne Träumen können wir nicht gesund bleiben. In den Traumphasen des Schlafes wird das prozedurale Gedächtnis trainiert. Emotionale Themen werden verarbeitet. Das Gehirn wird gereinigt und auf die Tagesaktivitäten vorbereitet. Der Mangel an Traumphasen während des Schlafes bewirkt Unkonzentriertheit, Nervosität und Müdigkeit. Die Traumphasen umfassen ca. 15 – 20 % des Nachtschlafes. 

In unserer individuellen Entwicklung kommen wir aus einer Welt der Verwobenheit von Wach- und Traumzuständen. Ungeborene träumen sehr viel mehr als Erwachsene. Von Babys und Kleinkinder wird vieles an der Wachwirklichkeit als wundersam, unverständlich und vieldeutig erlebt und trägt also noch die Attribute des Traumhaften. Zug um Zug wachsen wir aus dieser doppeldeutigen Weltsicht heraus, das Magische und Mythische zieht sich langsam zugunsten der rationalen Weltsicht zurück. Wir lernen eine Sprache mit ihren Regeln, unterscheiden Fakten und Fiktionen, inkorporieren die Normen unserer Kultur und machen uns mit abstrakten Begriffen und Ideen vertraut. Wir beginnen, die komplexen Zusammenhänge der Welt der Erwachsenen zu erforschen und ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Unser Gehirn wechselt in dieser Zeit von einer rechtshemisphärischen Dominanz zu einer linkshemisphärischen. Wir durchlaufen einen Prozess der Entmystifizierung und Rationalisierung. Auf diese Weise wachsen wir in die Erwachsenenwelt und ihre Erfordernisse hinein. 

In der kollektiven Entwicklung der Menschheit sehen wir eine ähnliche Tendenz. Die frühen tribalen Kulturen, in denen die Menschen in enger Verbindung zur Natur und zu den Geistern lebten, sahen verschiedene Erfahrungsebenen als gleichwertig, die sich miteinander wechselseitig beeinflussen. Erzählungen, die ein Zwischenglied zwischen der emotionalen und rationalen Ebene darstellen, waren das wichtigste Element für die Weitergabe von Wissen und Weisheit. Der Mythos hatte einen höheren Stellenwert als die Geschichtsschreibung. Diese Kultur hat sich bei uns vor allem über Märchen und Sagen erhalten. Auch die moderne Unterhaltungswelt ist voll von Aspekten der Traumwelt. 

Der Siegeszug der Rationalität 

Schon in der griechischen Philosophie wurde die Wichtigkeit des Wachbewusstseins betont, z.B. im berühmten Höhlengleichnis von Platon. Mit der spätscholastischen Philosophie gegen Ende des europäischen Mittelalters begann spätestens der Wechsel von der Dominanz der Traumwelt zur Dominanz der Wachwelt. Der Aufstieg der Wissenschaften mit ihren Erkenntnissen, die neue Technologien und Wirtschaftsweisen hervorbrachten, bildete die Grundlage für die Aufklärung, für das Erwachsenwerden der Menschen und ihrer Gesellschaftsformen. Hand in Hand mit der Propagierung der allgemeinen Menschenrechte ging der Kampf gegen Aberglauben und Ideologien. Es handelt sich um eine Entwicklung, die nicht mehr rückwärts laufen kann. Denn die Rationalität ist über die Technik so tief in die moderne Lebenswelt eingebaut, dass es kein Zurück mehr geben kann, sondern dass dieser Trend vielleicht nicht linear, aber stetig weiter in diese Richtung gehen wird, ob wir das wollen oder nicht. 

Die Basis für die rationale Festlegung von Normen über das, was Fakt ist und was nicht, sowie darüber, wie soziale Entscheidungen getroffen werden, wird in rückbezüglichen Prozessstrukturen festgelegt: Jeder Schritt in der Wahrheits- oder Entscheidungsfindung wird überprüft und kontrolliert und im Fall des Irrtums revidiert. Die Prinzipien dieser Prozesse sind offengelegt und für jede Person einsichtig und nachvollziehbar, z.B. in der Verfassung eines Staates oder in Regeln zur Testung von Medikamenten. Die Vorstellung von absoluten Wahrheiten, die mit der mythologischen Weltsicht verträglich ist, wird zugunsten von relativen Wahrheiten aufgegeben: Wahrheit, die so lange gelten, bis sie durch bessere ersetzt werden. Das Innehaben oder Besitzen von Wahrheiten durch Eliten weicht fortlaufenden Prozessen der Annäherung an die Wahrheitsfindung, die Wahrheitsproduktion durch einzelne geniale Individuen tritt hinter der Wahrheitserforschung in Teams und Gruppen zurück. Diese Wahrheiten sind für alle gleichermaßen zugänglich, ebenso wie die Methoden, durch die sie gewonnen werden. Diese Zugänglichkeit hat sich durch das Internet auf nie dagewesene Weise auch praktisch weltweit demokratisiert. 

Rationalität als Voraussetzung für Diskurse 

In der Moderne können sich nur Menschen sinnvoll und für die Allgemeinheit förderlich einbringen, die ihre Rationalität von ihrer Traumebene trennen können und wissen, wann sie da und wann sie dort sind. Sie müssen Argumente von Erzählungen und Mythenbildungen unterscheiden können. Der politische Diskurs in einer Demokratie kann nur auf der Basis von Rationalität, die in der Nutzung der Vernunft besteht, und gegenseitiger Achtung funktionieren und weiterführende Resultate hervorbringen.  

Die Mechanismen und Strategien, die das demokratische Regieren und die empirische Wissenserforschung auszeichnen, beruhen auf der autonomen Wachwelt und den Kompetenzen, die mit ihr zusammenhängen. Das sind die Fähigkeiten, die für das Überleben und die Entwicklung der Menschheit unter immer komplexer werdenden Rahmenbedingungen unabdingbar sind. Diese Prozesse funktionieren aber nur, wenn die Traumwelt draußen bleibt. Sie darf sich also nicht unbemerkt einschleichen, wenn Entscheidungen getroffen oder wissenschaftliche Erkenntnisse produziert werden. Die klare Trennung von Wachwelt und Traumwelt ist das Erfolgsrezept der Moderne. Wo sie unterlaufen wird, kommt es zu kollektiven Regressionen, mit stark schädlichen Folgen und Verwerfungen auf allen Ebenen der Gesellschaft. 

Denn überall, wo sich das Traumerleben in die Erwachsenenwelt unerkannt einschleicht, erwachsen  vielfältige Probleme. Im individuellen Bereich sind es die Ängste aus den frühen Phasen des Lebens, die uns aus der aktuellen Wirklichkeitserfahrung herausholen und in Traumaschleifen verwickeln. Wir verlieren dadurch unsere Klarheit und soziale Verbindlichkeit. In Extremfällen kommt es zu psychischen Störungen und Krankheiten.  

Ideologien als Schlupflöcher der Traumwelt 

Auf der kollektiven Ebene sind es Ideologien, mit denen versucht wird, die aktuelle Realität mit Hilfe von Traumgespinsten zu erklären und zu bewältigen. Sie bilden das Einfallstor der Traumwelt in die Moderne. Ideologien nutzen Traumelemente, –motive und –logiken, um die Menschen für sich einzunehmen und sie auf ihre Seite zu bringen. Damit greifen sie den Kern und die Grundlagen der Moderne und der Aufklärung an: Die Ausgrenzung der Traumlogik, um allgemein verbindliches Erkennen, Wissen und Handeln zu ermöglichen. Mit den Ideologien schwappen die Gefühle in die Argumentationen und vernebeln die Entscheidungsprozesse. 

Die Ideologien unterlaufen die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung der Vernunftwelt von der Traumwelt, indem sie suggerieren, dass die Traumlogik der Wachlogik überlegen ist. Mit ihrer emotional ansprechenden Evidenz erreichen sie ihre Anhänger, die dann der Versuchung unterliegen, Vereinfachung als Mittel gegen die Komplexität, gefühlsgeleitetes Handeln statt argumentativer Entscheidungsformen. 

Ein Beispiel bildet der Antisemitismus, der viele Menschen dazu bringt, Juden generell abzulehnen und böser Absichten zu verdächtigen. Viele der Antisemiten kennen gar keine Juden persönlich, und der Antisemitismus ist dort am stärksten verbreitet, wo am wenigsten Juden leben. Es geht also nicht um faktische Erfahrungen, die die Judenfeindschaft begründen, sondern um einen Glauben, der jeder eigenen Erfahrung übergeordnet wird. “Ja, die Juden, die ich kenne, sind in Ordnung. Aber das sind die Ausnahmen, und alle anderen sind unsympathisch und gefährlich.”  

Erzählungen, wie in diesem Fall die Erzählung von der Bosheit und Verschlagenheit der Juden, sind immer subjektiv, willkürlich und unlogisch, sie folgen einer Traumlinie und keinen Kausalketten oder argumentativen Folgerichtigkeiten. Sie orientieren sich nicht an Fakten, sondern an Gefühlen. Sie sind also primär innengelenkt, während die Rationalität immer Inneres und Äußeres voneinander unterscheidet und aufeinander bezieht. Sie beziehen ihre Evidenz aus Gefühlszusammenhängen, aus emotionaler Betroffenheit, aus Gestalten des Unbewussten. 

Herrschaftsfreie Diskurse 

Den Raum des herrschaftsfreien Diskurses, den Jürgen Habermas als Voraussetzung für die Regelung einer modernen, aufgeklärten Welt vorgeschlagen hat, können wir nur im autonomen Wachbewusstsein betreten. Einmischungen aus der Traumwelt machen uns anfällig für Machtallüren und ideologische Verblendungen. Es regieren Gefühle und keine Argumente. Die Diskurskultur wird zerstört und statt des Herauskristallisierens der jeweils besten Lösungen und Entscheidungen tritt der Kampf um die Durchsetzung von Eigeninteressen.  

Menschen, die unter dem Einfluss ihrer Traumwelt handeln, können zu Verbrechern ohne Schuldgefühle werden. Selbstmordattentäter z.B. folgen ihrer irrationalen Traumerzählung, in der sie zu gottgesandten auserwählten Rächern des Bösen fantasiert werden. Macht- und ideologiebesessene Politiker entfesseln Kriege und zerstören Menschenleben ohne jede Scham.  

Wo die Bewusstseinsebenen nicht auseinandergehalten werden, wo also das Traumbewusstsein mit dem rationalen Wachbewusstsein vermengt wird, entwickeln sich auf der individuellen Ebene schwere Pathologien bis zu Psychosen und auf der gesellschaftlichen Ebene Ideologien und Machtfantasien. 

Das Phänomen des Faschismus wird nur verständlich, wenn diese Vermischung der Bewusstseinsschichten auseinandergelegt wird. Mit mythischen Bildern und Metaphern begründet, die von archaischen Ängsten aufgeladen waren, wurde die Verhetzung und Vernichtung von Minderheiten gerechtfertigt. Nicht umsonst wirkt diese Zeit des Grauens wie ein Alptraum in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber auch den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine können wir nur verstehen, wenn wir die verzerrten Traumelemente erkennen, die die Zerstörungskräfte antreiben. 

Das kreative Träumen 

Wir brauchen aber auch Träume für die Weiterentwicklung unserer Zivilisation und unserer Seele. „I have a dream” - mit dieser Traumbotschaft begeisterte Martin Luther King die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. „Maybe I’m a dreamer” steht über den imaginierten visionären Zukunftshoffnungen von John Lennon. Wir sollen zuerst eine bessere Welt erträumen, damit wir sie Schritt für Schritt herstellen können. Das sind Wachträume, die wir bewusst als solche erleben und klar von der Wachwirklichkeit unterscheiden können. Sie schenken uns Impulse, deren Inspiration wir brauchen, um die Welt aus ihren begrenzenden Mustern herauszuführen. „Give peace a chance!” 

Zum Weiterlesen:
Der trügerische Zauber der Illusion
Kreative und reaktive Fantasien


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