Wir neigen dazu, den Staat als moralisches Subjekt zu sehen, indem wir auf ihn unsere Erwartungen von Gut und Böse projizieren: Der Staat A ist eine Diktatur, also ist er böse. Der Staat B hat eine gut funktionierende Demokratie, also ist er gut. Der Staat A nimmt Flüchtlinge auf, also ist er gut oder böse, je nach eigener Werthaltung usw. Der ehemalige US-Präsident Bush jun. hat eine Liste von Schurkenstaaten publiziert, um seine Vorstellungen von guten und bösen Staaten in die Welt zu posaunen. Aber auch in unseren Köpfen finden sich solche Listen, mit denen wir uns in der Staatenwelt orientieren. Dabei tun wir so, als wären Staaten menschliche Subjekte mit viel oder mit mangelhafter Moral.
Moralverfehlungen sind subjektiv
Fehlende Moralität können wir allerdings nur einzelnen Menschen vorwerfen. Selbst bei Menschengruppen ist es schon schwierig, einen gemeinsamen Bewertungsmaßstab anzulegen – sofort wird sich jemand aus einer Gruppe melden, der wir Unachtsamkeit vorwerfen, der sich nicht davon betroffen fühlt und sich über das ungerechtfertigte Verurteiltwerden beschwert. Die Frage einer Kollektivschuld wurde zwar nach dem 2. Weltkrieg diskutiert, wurde aber weitgehend abgelehnt. Im Strafrecht gibt es nur das Verschulden von Einzelpersonen.
Wir haben die Angewohnheit, die Geschichte als Prozess der Auseinandersetzung von verschiedenen Staatsgebilden zu verstehen, z.B. der Staat A führt Krieg gegen den Staat B. Wir nehmen Staaten als handelnde Subjekte wahr, was auch nicht so verwunderlich ist, weil die Machthaber in verschiedenen Staaten anstreben, ihre Staatsbürger geschlossen hinter sich zu vergattern. Die Botschaft lautet: Wir führen jetzt Krieg, weil wir das Böse bekämpfen, das der andere Staat repräsentiert. Alle müssen mitkämpfen, da sonst das Böse obsiegt. Wer nicht mitkämpft oder unseren Standpunkt teilt, ist selber böse, gehört aus dem Ganzen des Staates ausgeschlossen und muss ebenfalls bekämpft werden.
Einerseits treten Staaten als handelnde Subjekte auf (z.B. der Staat A erklärt dem Staat B den Krieg), andererseits ist dieses Handeln nichts anderes als die Summe von Einzelaktionen von Einzelpersonen (Kriege ordnen Politiker an und führen Soldaten durch). Jede staatliche Aktion geht ebenfalls auf Einzelpersonen zurück, z.B. dekrediert ein Präsident, berät eine Regierung oder beschließt ein Parlament bestimmte Maßnahmen. Als gut oder böse können nur die Handlungen von diesen Personen bewertet werden. Ein eindeutigeres Beispiel: Seit George Bush jun. haben eine Folge von 9/11 alle US-Präsidenten Drohnenangriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen auf der ganzen Welt angeordnet, die rechtlich gesehen Mordtaten darstellen, für die die Präsidenten persönlich verantwortlich sind und die nie geahndet wurden.
Es wird zwar jeder dieser Präsidenten behaupten, seine Entscheidungen für den Staat und für das Wohl seiner Staatsbürger getroffen zu haben. Doch die Last der moralischen Verantwortung bleibt bestehen, für jeden dieser Präsidenten und für jeden auf diese Weise angeordneten Mord.
Identifikation mit "Vater Staat"
Jedes Staatswesen enthält in sich ein kollektives Traumafeld, das aus den unmoralischen Handlungen in der Vergangenheit, die in seinem Namen begangen wurden, entstanden ist. Aus dieser Gemeinsamkeit, die auf unbewusste Weise die Staatsangehörigen zusammenschließt, erwachsen die Projektionen auf den „Vater Staat“. Er fungiert als die Verkörperung des guten wie des schlechten Vaters. Stolz- und Schamgefühle in Hinblick auf den eigenen Staat werden durch diese Identifikation erzeugt. Das geteilte Traumafeld schmiedet das Band, solange es unbewusst wirkt. Es ist die eingeschworene Gemeinschaft derer, die Traumatisierungserfahrungen teilen, welche diese Identifikation festlegt und unauflösbar machen, indem die Wurzeln im Dunkeln liegen. Denn Traumen üben eine starke Macht aus, weil und solange sie unbewusst sind.
Ideologische Einebnungen
Die Gemeinsamkeit der traumatisierenden Erfahrung ist der Kitt, der das Staatsvolk zusammenhält. Politiker nutzen diese Gemeinsamkeit, um das Volk den eigenen Interessen und Vorhaben gemäß formen zu können. Der Kitt wird allerdings für ideologische Konstruktionen instrumentalisiert, d.h. es wird als einheitlich und geschlossen dargestellt, was nicht einheitlich und geschlossen ist. In der Realität sind alle Staatswesen heterogen und nie so monolithisch. wie es vor allem die Nationalisten suggeriert wollen.
In Österreich z.B. gibt es ein weitgehend geteiltes kollektives Traumafeld durch den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg, das bis heute wirkmächtig ist. Es betrifft die Individuen aber unterschiedlich: Wenn die eigenen Vorfahren Mittäter oder Mitläufer der NS-Diktatur waren, ist die innere Belastung eine andere als wenn sie zu einer Oppositionsgruppe gehörten. Beide sind von den Kriegsereignissen betroffen, aber es macht wieder einen Unterschied, ob Vorfahren als Soldaten gekämpft und gemordet haben und/oder ob sie durch den Krieg zu Tode gekommen sind. Die einen sehen die Nazidiktatur als das schlimmste Übel, die anderen den Krieg und wieder andere das Kriegsende und die folgende Besatzungszeit.
Es gibt also in jedem Traumafeld Gemeinsames sowie Risse und Unebenheiten. Gerade deshalb tauchen immer wieder intensive ideologische Versuche auf, die das geteilte Feld einebnen wollen. Ideologien tendieren stets zur Vereinfachung, das Diverse taugt nicht für die Propaganda und ist schwieriger zu beherrschen. Am Beispiel Österreich erfolgte diese ideologische Einebnung dadurch, dass gleich nach dem Krieg begonnen wurde, eine Kultur des Vergessens und Verdrängens aufzubauen und Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus zu idealisieren.
Ideologien als Pfleger der Verdrängung kollektiver Traumen
Die unbewusst gesteuerte Teilhaberschaft eines auf solche Weise eingeebneten Staatsvolkes verführt dazu, den Staat als Subjekt zu erleben, nicht als komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Kräfte und Verwaltungseinrichtungen. Selbst wenn ein Staatsbürger dem Staat gegenüber negativ eingestellt ist, enttäuscht und frustriert von dem, was ein Staat macht, ist er nach wie mit ihm als Subjekt identifiziert. Erst wenn deutlich wird, dass der Staat kein Subjekt ist, sondern ein Zusammenwirken verschiedener Akteure und Interessengruppen, wird erkannt, dass es nur um die Amts- und Verantwortungsträger geht, denen gegenüber Kritik angebracht ist.
Nach dem Modell der Bewusstseinsevolution wird mit der Subjektivierung des Staates die personalistische Ebene in die systemische Ebene hineinvermengt. Zwar hat der Staat schon eine vor-systemische Wurzel, weil die ersten Staatsgründungen auf der hierarchischen, stark von Abhängigkeiten geprägten Ebene entstanden sind – viel mit Gewalt verknüpft, auf Kriegen begründet, durch die die Sklaverei zu einer tragenden Säule vieler Staatsgebilde und der staatlich geleiteten Wirtschaft wurde. Aber die Modernisierung des Staatswesens hat es mit sich gebracht, dass die Staatsverwaltungen zu Vorreitern des systemischen Bewusstseins wurden. Der Zwang zur Rationalisierung der Prozesse, der durch die Konkurrenz zwischen den Staaten entstanden ist, führte dazu, dass der Preis des Verzichts auf Modernisierung mit Rückschlägen in dieser Konkurrenz verbunden waren, was im Besonderen dann bei Kriegen zu schmerzlichen Erfahrungen führte. Die Staaten mit effizienterer Verwaltung waren zumeist auch jene, die kriegerisch erfolgreich waren und dadurch ihre Gebiete und ihren Einfluss vergrößern konnten.
Entideologisierung
Wenn wir einen Staat wollen, der sich aus der Klammer der ideologischen Vereinnahmungen und Zurechtbiegungen befreit, müssen wir die kollektiven Traumatisierungen bewusst machen, reflektieren und verstehen. Auf diesem Weg gelingt es, die Identifikation mit dem Staatswesen, in dem wir leben, aufzulösen und eine kritische Distanz einzunehmen, die es erlaubt, die Prozesse dort mitzugestalten, wo sie uns betreffen und rational abgewogene Haltungen zu den Themen einzunehmen, die sich im Zug der Weiterentwicklung des Staates stellen.
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