Mittwoch, 29. Mai 2019

Der trügerische Zauber der Illusion

Mit Illusionen täuschen wir uns über Wirklichkeiten hinweg, die uns unangenehm oder unbequem sind. Wir malen uns aus, wie es besser sein könnte, wie sich Umstände zu unseren Gunsten wandeln, Probleme auf magische Weise verschwinden oder eine Person, mit der wir unzufrieden sind, zu einem neuen und viel besseren Menschen wird. Illusionen wirken oft bezaubernd auf ein betrübtes Gemüt, das sich mit der Fantasie aus der misslichen Situation befreien will. Es ist die Flucht in eine bessere und schönere Welt, die uns von unserem Gehirn und seinem Fantasiereichtum angeboten wird. Wir vermeiden die aktuelle Realität mit ihren Ecken und Kanten, um nicht noch mehr Schrammen abzubekommen und versinken in der Welt der Illusionen. Dort ist alles geschmeidig, weich und ideal, und unsere Wünsche gehen leicht in Erfüllung.

Illusionen formulieren Erwartungen an die Realität: sie soll sich gefälligst unseren Wünschen und Träumen entsprechend gestalten. In unserer Fantasie tun wir so, als wäre es schon eingetreten, was wir uns ausdenken. Obwohl wir wissen, dass wir nur in der Fantasie unterwegs sind – und deshalb haben wir es nicht mit Halluzinationen zu tun –, kann uns unsere selbstproduzierte Kopfrealität wichtiger und bedeutsamer werden als die äußere, von uns viel weniger kontrollierbare Realität. Denn diese Welt können wir uns so einrichten, wie sie sein soll, ohne dass uns wer dreinredet und ohne dass sich irgendwelche unliebsame Umstände querlegen.

Im Vergleich zur Wirklichkeit ist die Illusion dumpf und schal. Denn die Wirklichkeit ist immer lebendig voller Überraschungen und neuer Einfälle. Die Illusionen, in die wir uns immer wieder flüchten, sind im Wesentlichen immer die gleichen und kreisen im Kopf in wiederkehrenden Schleifen. Sie stammen aus Gewohnheiten unseres Denkens und Fühlens und nähren sich aus unbewussten Ängsten. Wie wir aus der Trennungstheorie wissen, stammen diese Fluchttendenzen insbesondere aus unverarbeiteten Beziehungsabbrüchen aus der frühen Kindheit. 

Das Leben fließt in Mäandern und unvorhersehbaren Wendungen, manchmal schneller, manchmal langsamer. Es kennt unendlich viele Schattierungen und Nuancen. Es steht nie still und wiederholt sich nicht. Allerdings, wenn wir uns überfordert fühlen vom beständigen Fluss der Veränderungen, flüchten wir in eine Welt, die ganz unserer Kontrolle unterliegt und in der wir das Tempo und die Themen bestimmen können. Diese Welt können wir nach unseren Wünschen und Bedürfnissen einrichten und perfektionieren. Ihr einziger Nachteil besteht darin, dass sie künstlich und irreal ist, ohne eigene Dynamik.

Die perfekte Welt gibt es nur für einen perfekten Verstand, und diesen gibt es nicht, und selbst wenn wir ihn hätten, könnten wir ihn nicht kontrollieren. Deshalb werden wir auf diesem Weg nie zur Zufriedenheit finden. Er stellt zwar einen gewohnten Ausweg zur Verfügung, doch führt uns der scheinbare Ausweg immer wieder zu der Unzufriedenheit zurück, von der er ausgeht und der er abhelfen möchte. 


Viele Spielwiesen der Illusion


Es gibt praktisch keinen Lebensbereich, in dem wir uns nicht einer Illusion hingeben könnten. Häufig mischen sich Illusionen in Liebesdinge ein. Sie gaukeln uns vor, dass wir in den vollkommensten Menschen auf der ganzen Welt verliebt sind. Zusätzlich nähren wir dabei die Illusion, dass wir allein dadurch glücklich sein können, wenn wir genug von diesem vollkommenen Wesen geliebt werden. Also setzen wir alles in unserer Macht Stehende in Gang, um abzusichern, dass wir ausreichend geliebt werden. Auch hier laufen wir Gefahr, unsere Illusion mit der Wirklichkeit der Liebe zu verwechseln.

In beruflichen Zusammenhängen neigen wir zu Illusionen, wenn wir unsere Fähigkeiten überschätzen oder laufend wunderbare Ideen entwickeln, ohne uns um ihre Verwirklichung zu kümmern. Oder wir kümmern uns nicht um die realen Marktbedingungen und Absatzchancen, wenn wir eine neue Geschäftsidee entwickeln, sondern glauben an die an unsere eigene Großartigkeit. Umgekehrt fallen wir manchmal auf Leute herein, die uns bewusst oder unbewusst mit ihrer eigenen Selbstüberschätzung täuschen.

Viele Raucher und andere Substanzabhängige reden sich ein, dass sie zu denen gehören, denen das Gift nichts ausmacht und die damit steinalt werden können, ohne die Suchtgewohnheit verändern zu müssen. Sie beruhigen mit dieser Strategie ihre kognitive und emotionale Dissonanz, was vor allem dann notwendig ist, wenn im eigenen Umfeld Menschen an Lungenkrebs sterben und wenn sie bei jedem Arztbesuch daran erinnert werden, dass sie die Sucht beenden sollten.

Auch in Bezug auf die ökologische Situation neigen viele zu Naivität und Wunschdenken: Jene, die die „Klimahysterie“ anprangern und darauf hoffen, dass sich Tausende Wissenschaftler in ihren Berechnungen geirrt haben, geben sich der Illusion hin, dass schon alles irgendwie gehen wird, ohne dass wir Eingriffe in unsere bequemen Lebensweisen vornehmen müssten. Sie suchen alle halbseidenen und windigen Argumente zusammen, die im Netz herumgeistern, um ihre Illusion zu bekräftigen, wie in dem Witz von den beiden Dinos, wo der eine sagt: „Du glaubst doch auch, dass das mit dem Meteoriten ein Hoax ist“.

In der Nachbarschaft der „Klimaleugner“ treiben sich auch mannigfaltige Verschwörungstheorien herum. Sie sind von der Illusion angetrieben, dass sich komplexe Dinge einfach erklären lassen: Geht die Wirtschaft schlecht, sind die Bilderberger, Freimaurer, Illuminaten oder wer auch immer gerade dabei, noch mehr Geld in ihre Taschen zu schaufeln; geht die Wirtschaft gut, passiert das Gleiche. Sie pflegen den Glauben, dass ein paar Menschen (Männer) die gesamte Weltwirtschaft und Weltpolitik steuern. Dabei schaltet doch James Bond in jedem Film einen dieser Giganten aus, eine gefährdete Spezies. 

Karl Marx hat in seiner Kritik an der Religion den Begriff der Illusion verwendet: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1844) Das jenseitige Glück, das den Menschen vor allem vom Christentum und vom Islam versprochen wird, sei nur eine Illusion, und sobald die Wirklichkeit entsprechend umgestaltet ist, sodass das Glück im Diesseits erfahrbar wird, würde sich die Illusion erübrigen, die Religionen sterben aus. 

Marx selber hing der Illusion an, dass sich die ökonomischen Umstände durch revolutionäre Aktivitäten so umgestalten ließen, dass alle zum Glück fänden. Obwohl sich seither für viele Menschen der Wohlstand verbessert hat, ist nicht unbedingt das Ausmaß an Glück gestiegen.

Schließlich spielen die Illusionen in spirituellen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. So schreibt z.B. Jiddu Krishnamurti: „Entweder sind Sie sich des chaotischen Zustands der Welt bewusst, oder Sie schlafen nur, leben in einer Phantasiewelt, einer Illusion.“ (Total Freedom, 1996) Das hinduistische Konzept von Maya besagt, dass wir alle eingesponnen sind in eine Illusion des begrenzten und abgetrennten Ichs, das nichts mit der wahren, befreiten Natur des Menschen zu tun hat. Aufgabe des spirituellen Weges ist es, die Illusionen zu durchschauen und aufzulösen und zur Wahrheit über das Sein vorzudringen. 


Von der Scheinwelt zur Wirklichkeit


In all diesen Zusammenhängen geht es darum, den trügerischen Zauber der Illusionen zu durchschauen. Nur dann können wir diese Scheinwelten hinter sich lassen, um der Wirklichkeit zu begegnen, die unser eigentliches Leben ist. Wir sind aus Fleisch und Blut, im Hier und Jetzt, in diesem Feld spielt sich unser Leben ab. Sobald wir uns Illusionen hingeben, weichen wir diesem unseren Leben aus. Manchmal brauchen wir das scheinbar, weil wir uns überlastet und überfordert fühlen. Das sollte uns einfach nur bewusst werden, dann bleibt das Illusionieren harmlos. „Ich spinne jetzt ein wenig vor mich hin, wie einfach und angenehm das Leben sein könnte, um mich dann wieder den Aufgaben zu widmen, die mir das Leben stellt.“

Manchmal allerdings merken wir gar nicht, dass wir in unseren Illusionen unterwegs sind, in einem Ersatzleben, das wir aus unseren Fantasien zusammenzimmern. Das geht oft lange gut, bis wir auf eine Wirklichkeit stoßen, die stärker ist als unser Wunschdenken und uns mit tragischer Wucht aus unserer Traumwelt reißt.

Wie entkommen wir unserer Tendenz zum Illusionieren? Wie können wir rechtzeitig in die Realität zurückfinden, ohne dass uns das Leben die Lektion erteilen muss? Die einfachste Möglichkeit besteht darin, uns über den Bezug zu unserem Körper in die Gegenwart zu bringen. Unser Körper ist die nächste, greif- und begreifbare Realität für uns, und wenn wir uns auf den Atem fokussieren, sind wir ganz bei uns. Sind wir auf diese Weise in Kontakt mit uns selbst, spüren wir auch die Kraft, dass wir uns der Komplexität unserer Lebenswelt stellen können und ihre Herausforderungen meistern können. 

Der Seelenkenner Arthur Schnitzler hat geschrieben: „Eine Illusion verlieren, heißt um eine Wahrheit reicher zu werden. Doch wer den Verlust beklagt, ist auch des Gewinnes nicht wert gewesen.“ Es geht also zunächst darum, zu erkennen, dass die Wahrheit bedeutsamer und wichtiger ist als die Illusion, sodass wir uns immer verbessern und in unseren Möglichkeiten erweitern, wenn wir mehr Wahrheit und Wirklichkeitsbezug erfahren, mag es auch zeitweilig unangenehmer und belastender erscheinen. Diese Tatsache sollten wir wissen und anerkennen. Damit entgehen wir der Falle, der Illusion nachzutrauern, was nur dazu führen kann, dass wir uns die nächste Illusion suchen.

„Die Wahrheit wird euch frei machen“, heißt es im Johannes-Evangelium. Die Bereitschaft, dass wir uns unserer inneren und der äußeren Wahrheit stellen, ist die Voraussetzung für die Freiheit. Das Einspinnen in Illusionen lässt uns in der Unfreiheit beharren und schwächt unsere Kraft, unsere Lebenswirklichkeit kreativ zu gestalten.

Zum Weiterlesen:
Die Illusionsmaschine Internet und die Ethik
Wahrheit und Illusion

Die Illusion des bewussten Selbst
Erzeugen wir unsere Gedanken?


3 Kommentare:

  1. Oft schafft man es nicht allein, Illusionen als solche zu erkennen, oder man wird durch das Leben schmerzhaft darauf hingewiesen..
    Gibt es aber auch positive Wechselwirkungen zwischen illusionären zweiten Welten und der realen ersten Welt? Nach dem Motto "ich weiß zwar, dass der Osterhase/Christkind/Fasching kindische Bräuche sind, aber dennoch...", kann man durch Illusionen Freude gewinnen, statt sich, wie es viele Erwachsene machen, ihnen zu verschließen, weil es irgendwie sinnlos erscheint und als mit der eigenen Persönlichkeit nicht vereinbar. Freud hat angenommen, dass die "unperfekte" griechische Götterwelt den Menschen eine gewisse Entlastung geboten hätte, was er als kulturelle Schiefheilung bezeichnet hat. Kann es also auch "nützliche Illusionen" geben? Solche, die die eindimensionale Realität öffnen, die eigene Identität anzweifeln? denn nur der Verrückte hält sich vollkommen für das, was er ist.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Wenn wir uns bewusst in illusionäre Welten bewegen, können wir dort auch Ablenkung und Freude erfahren, wir können dort auch Einsichten gewinnen. Jeder Roman oder Film führt uns in eine illusionäre Welt, aber wir können dadurch mehr über das Menschsein erfahren. Was nun die religiösen Illusionen anbetrifft, so haben die immer einen Aspekt der Entlastung, aber meistens auch einen der Belastung, indem z.B. Schuldgefühle dadurch aufgebaut werden.
      Was nun die eindimensionale Realität öffnet, sollte nicht eine Illusion sein, sondern eine tiefere Erfahrung. Illusionen sind Kopfgeburten, die oft im Widerspruch zur Erfahrungswelt stehen.

      Löschen

  2. Wenden Sie sich an Dr. Obodo, wenn Sie Probleme mit der Liebe, Trennungen, Scheidungen, verlorene Liebe oder Hexerei haben. Kontakt über
    Email; templeofanswer @hotmail .co.uk
    WhatsApp / Text; +234 815 542548-1

    AntwortenLöschen