Donnerstag, 27. Februar 2025

Muster der rechtsorientierten Manipulation

Im vorigen Blogartikel war von rechten Manipulationstaktiken wie Bullshitting die Rede, die hauptsächlich aus den USA stammen, wo sie viel dazu beigetragen haben und beitragen, um die dort im Entstehen begriffene Rechtsdiktatur zu etablieren. In diesem Beitrag geht es nun um solche aus dem deutschsprechenden Bereich. Das ist zugleich jener, der historisch durch Rechtsextremismus und Nationalsozialismus extrem vorbelastet ist, so schwer wie keine andere Region der westlichen Hemisphäre. 

Die Täter-Opfer-Umkehr

Wir sollten die rechten und rechtsextremen Tendenzen in unseren Breiten immer im Zusammenhang mit dem kollektiven Traumafeld aus Diktatur und Weltkrieg betrachten. Während die „linke“ Reaktion auf die Gräueltaten und die daraus erfolgende kollektive Schambelastung eine Mischung aus aggressiver Anklage der Täter und der Schuldübernahme besteht, versuchen die Rechten, die Ereignisse umzudeuten, abzuschwächen und zu verdrängen. 

Das bedeutet, dass hier die emotionale Identifikation mit den Vorgängen und den beteiligten Personen noch immer weiterbesteht. Die Eltern-, Großeltern- oder Urgroßelterngeneration war in der einen oder anderen Weise an den Untaten beteiligt – und das ist auffällig bei namhaften Vertretern der Rechten und Rechtsextremen (dazu zählen im Übrigen auch Trump und Musk). Diese Beteiligung war bekanntlich auf der Täterseite. Es wirken mächtige unbewusste Mechanismen der transgenerationalen Loyalität: Ich muss den Werten meiner Vorfahren treu bleiben, auch wenn sie Zu Untaten geführt haben. Daraus entsteht das Bestreben, die Täter zu entlasten, indem sie als Opfer dargestellt werden. Die Täter-Opfer-Umkehr soll scheinbar von der Last der Scham befreien. 

Die eigentlichen Bösen waren nach dieser Logik der unbewussten Loyalität nicht die Deutschen, sondern die Alliierten und/oder die Russen. Wären die Vorfahren böse Täter gewesen, stünde man selber in einem schlechten moralischen Licht da. Deshalb müssen die Angehörigen der Kriegsgeneration entlastet oder sogar als Helden glorifiziert werden. Landauf landab gibt es Krieger- und Heldendenkmäler, die an die gefallenen Soldaten, an die Opfer erinnern, die der Krieg verursacht hat; die Täter scheinen nirgends in der Öffentlichkeit auf.

In diesem Zusammenhang wird oft die Taktik des Aufrechnens benutzt: Das Leid, das durch den alliierten Bombenkrieg dem deutschen Volk zugefügt wurde, wäre mindestens so schlimm wie der Holocaust – wo außerdem viele Zweifel gesät und verbreitet werden, ob er überhaupt stattgefunden habe. Es wird beklagt, dass die Ungerechtigkeiten gegen die Deutschen nicht erwähnt würden und dass immer nur von den „bösen Deutschen“ die Rede wäre. Schließlich wäre nicht nur das europäische Judentum untergegangen, sondern auch das Deutsche Reich und sein Volk. 

Mit der Entwertung oder Relativierung von Begriffen und historischen Vorgängen wird an der Verharmlosung von Gräueltaten gearbeitet, mit dem Ziel der Schamentlastung und der Rechtfertigung für die eigene Ahnenlinie. Wenn dieses Manöver gelingt, kann umso leichter die aggressive Bedrohung nach außen verlagert und dort bekämpft werden, statt dass sie in den eigenen Reihen wahrgenommen wird oder im eigenen Unbewussten weiter zu wirken. Es werden Narrative geschaffen, die nach innen reinwaschen, damit das Außen umso dreckiger, ekeliger und gefährlicher erscheint. Die Abschottung nach außen, ein zentraler Programmpunkt rechter Parteien, erscheint damit als notwendig und gerechtfertigt. Jede Bluttat, die ein Ausländer auf dem eigenen Territorium anrichtet, dient als Beweis für diese Notwendigkeit. Dass Inländer in wesentlich höherem Maß Bluttaten begehen, wird dabei ausgeblendet. 

Traditionalismus  

Die Betonung der Tradition und der Gebräuche, die die Rechten in ihren Programmen haben, hat den Sinn, die Identifikation mit der Vergangenheit zu stärken und diese positiv umzudeuten. Das Böse, das stattgefunden hat, muss vergessen werden und an seine Stelle soll das Reine und das Gute treten. Die Traditionen, die die nationale oder „völkische“ Identität festigen, müssen unbedingt erhalten bleiben oder wiederhergestellt werden. Denn sie leiden unter der Bedrohung durch die Modernisierer. Mit dem Feindbild der „Woke-Kultur“  wurde ein schlagkräftiges Symbol für die Gefahren gefunden, die auf die Traditionskultur lauern.

Modernisierung als Feindbild

Viel Unheil wird der Moderne oder der Modernisierung zugeschrieben, und um die Unzufriedenheit unter den Menschen zu schüren, werden die aktuellen Zeitumstände unter ein möglichst schlechtes Licht gerückt. Jede Weiterentwicklung bringt eine Verkomplizierung mit sich. Das liegt im Wesen der Natur. Ein Same ist einfacher als die Mohnblume, die daraus entsteht, ebenso verhält es sich mit der befruchteten Eizelle im Vergleich mit einem erwachsenen Menschen. Das Leben in einer Stammeskultur ist einfacher als das in einer modernen Großstadt. Alles Komplizierte erfordert mehr Rechenleistung in unseren Gehirnen und ist deshalb unangenehm. Eine Dimension der Intelligenz besteht darin, Komplexes zu vereinfachen, so, dass es handhabbar wird. Zu diesem Zweck haben wir Maschinen erfunden, die uns z.B. komplexe Rechenoperationen abnehmen. Jedenfalls sind wir dankbar, wenn uns jemand beim Vereinfachen hilft. Allerdings sollten wir immer darauf achten, worin der Preis der Simplifizierung liegt. Denn Ideologien stellen auch Vereinfachungen der sozialen Wirklichkeit dar, die bestimmten Interessen dienen. Die Rechtspopulisten arbeiten bewusst mit der Schlagkraft von Vereinfachungen, mit denen sie die Wirklichkeit in ihrem Sinn zusammenkürzen, sodass nur mehr ihre Ideologie als wirklichkeitsgerecht erscheint.

Dem Fortschreiten der Zeit soll Einhalt geboten werden, was natürlich nicht geht, aber mit der rückwärtsgewandten Verherrlichung der Vergangenheit entsteht zumindest die tröstliche Illusion der Macht über die Zeit. Viele Leute glauben, dass alles immer schlechter wird, und die rechtsorientierte Propaganda tut alles dazu, um diesen Eindruck zu verstärken. Unser Gehirn hilft mit, weil schlechte Erfahrungen besser abgespeichert werden als gute, und das nutzen wiederum die rechtsorientierten Propagandisten, um sich als Heilsbringer anbieten zu können.

Russland als Vorbild der europäischen Rechten

Interessant ist allerdings auch, dass bei vielen aktuellen Rechtsgruppierungen und –parteien die Russen als Gleichgesinnte, Vorbilder oder Bündnispartner und nicht als historische Bösewichter angesehen werden, wie das während des und nach dem Weltkrieg der Fall war, zumindest bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Da hat bei den Rechten eine Umorientierung stattgefunden, die sicher auch mit Geschäften und Geldflüssen zwischen europäischen Rechtsgruppierungen und dem postsowjetischen Russland zusammenhängt – das Regime von Putin versucht mittlerweile mit einigem Erfolg, diese Gruppierungen als Ankerpunkte für die Verbreitung seiner Ideologie und für seine Großmachtbestrebungen im Westen zu etablieren und die EU zu entzweien und zu destabilisieren. Denn eine Gemeinsamkeit zwischen Rechtsparteien und Russland besteht in der Abneigung gegen die EU. 

Rechtsextremen Gruppen und Parteien leiden an ihrer isolierten Stellung, weil sie von den etablierten Parteien als außerhalb des Verfassungsbogens stehend ausgegrenzt werden. Diese Schmach deckt sich mit einer Sichtweise, die auch in Russland ausgeprägt ist: Von den arroganten Westlern an den Rand gedrängt und verachtet zu werden. Außerdem gefallen rechtsorientierten Menschen „starke Männer“, die ein Land autoritär mit jeder Form der Brutalität regieren, also skrupellose Führerfiguren, die in Russland und anderen postsowjetischen Staaten gefunden werden können. 

Eine weitere Geistesverwandtschaft besteht dort, wo es um die Erhaltung des Patriarchats geht. Russland gilt manchen in dieser Hinsicht als Vorbild, weil dort jede Form der Aufweichung der männlichen Vorherrschaft und der dadurch begründeten Rollenbilder bekämpft wird. Die Eindeutigkeit der Geschlechterrollen, die durch alles, was als woke oder queer wahrgenommen wird, in Zweifel gerät, ist dort scheinbar noch voll intakt, indem alle Abweichungen von der Norm unterdrückt und bestraft werden. Auch werden dort nationale Traditionen hochgehalten und umerzählt, damit eine glorreiche Geschichte von Heldentaten bewundert werden. Und es ist dort nicht verpönt, die Wiedergewinnung von verlorenen Staatsgebieten zu verlangen, also vergangene Großreiche wieder errichten zu wollen, wie es die rechtsnationalistischen Fantasten in vielen Ländern erträumen. Darin liegt einer der Gründe für den Angriff Russlands auf die Ukraine.

Zum Weiterlesen:
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit
Nationalismus und Opferstolz


Sonntag, 16. Februar 2025

Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts

Wir leben in Zeiten, in denen ein Kampf um die Deutungshoheit und die Wahrheitsfindung mit allen Mitteln geführt wird. Es stehen dabei nicht weniger als die liberalen Errungenschaften einer rationalen und demokratischen Wahrheitsfindung und damit die Grundlagen einer modernen Gesellschaft auf dem Spiel. Es werden von rechter und rechtsextremer Seite alle Register der Manipulation gezogen, um den Wahrheitsbegriff systematisch zu untergraben und damit der Willkür preiszugeben. Die angestrebte Folge ist, dass derjenige die Wahrheit prägt, der die Macht hat. Die Wahrheitszerstörung wird als Mittel zur Machtergreifung perfektioniert, um dann durchsetzen zu können, was die Menschen für wahr zu halten haben. Die Nationalsozialisten und die anderen faschistischen Regime haben das vor hundert Jahren vorexerziert, und ihre Nachahmer sind weltweit auf dem Vormarsch.

Hier werden ein paar der Manipulationstechniken beschrieben, die in aller Unverschämtheit die sozialen Medien fluten und mehr und mehr die öffentliche Debatte bestimmen. Alle, die weiterhin daran interessiert sind, dass die Wahrheit in einem liberalen Rahmen von Respekt und Achtung gefunden werden soll, müssen sich mit diesen manipulativen Untergriffen beschäftigen, um sie entlarven und bloßstellen zu können, sodass der öffentliche Diskurs von toxischen Elementen frei gehalten wird.

Bullshitting

Der US-Philosoph Harry Frankfurt hat diesen Begriff erstmals 1986 geprägt. Bullshitting wird mit „Humbug“, „Hohlsprech“ oder „Geschwurbel“ übersetzt. Das Wort „bull“ heißt nicht nur Stier, sondern hat auch die Bedeutung von lügen und täuschen. Dieses Phänomen tritt zunächst dann auf, wenn Menschen über Dinge reden, von denen sie nichts verstehen. Es geht dabei weniger um die Falschdarstellung von Dingen als um eine Täuschung über sich selbst. 

Näher betrachtet, wirkt die systematische Verwendung dieser Kommunikationsform schlimmer als Lügen, bei denen es um das Mitteilen von bewussten Unwahrheiten geht, wobei also der Lügner die Wahrheit grundsätzlich anerkennt und sie nur verstecken will. Beim Bullshitting wird die Grundlage der Wahrheit selbst angegriffen. Es wird das Recht auf das Ausdrücken der eigenen Sichtweise über jeden Wahrheitsbezug gestellt. Die Wahrheit liegt einzig und allein im Aussprechen dessen, was man sagt. Man maßt sich die Macht an, sagen zu können, was man will – wir verfügen ja über die liberale Errungenschaft der Meinungsfreiheit, die solange missbraucht wird, bis sie alle loswerden wollen. Ob das Gerede Sinn macht, sozialförderlich oder wirklichkeitsbezogen ist, zählt nicht. Es geht nur darum, im öffentlichen Diskurs möglichst viele giftige Rückstände zu hinterlassen, die andere dann wegräumen sollen. Hauptsache ist es, präsent zu sein und möglichst viel Raum einzunehmen, den die anderen, die Gegner, nicht haben.

Hannah Arendt, die scharfsinnige Kritikerin des Nationalsozialismus, hat schon vor vielen Jahren darauf verwiesen, dass fortgesetztes Lügen nicht darauf abzielt, dass die Leute schließlich an die Lüge glauben, sondern dass sichergestellt werden soll, dass niemand mehr an irgendetwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kann, kann auch nicht zwischen richtig und falsch entscheiden – und mit einem solchen Volk kann man machen, was man will, so die Beobachtung von Hannah Arendt.

Der Conway-Move

In die gleiche Kerbe schlägt die berüchtigte Aussage von Trumps ehemaliger Sprecherin Kellyanne Conway, die  2017 von „alternativen Fakten“ sprach, als sie darauf angesprochen wurde, dass sie falsche Zahlen über die Teilnehmer bei Trumps erster Amtseinführung genannt habe. Nach dieser Auffassung gibt es nicht mehr nur Unterschiede zwischen Sichtweisen, sondern über die Wirklichkeit, die durch Fakten repräsentiert wird: Wenn A sagt, die Erde kreist um die Sonne, und B, die Sonne kreist um die Erde, dann sind das alternative Sichtweisen, die beide den gleichen Geltungsgrad beanspruchen. Niemand kann sagen, welche Aussage stimmt. Damit wird die Basis für die Bildung von konsensuellen Übereinstimmungen über die Existenz von Dingen geleugnet, weil für jeden andere Dinge existieren oder diese Dinge anders existieren und diese Unterschiede in den Existenzweisen akzeptiert werden müssen. Die Folge ist, dass sich dann als dominante „Wirklichkeit“ das durchsetzt, was mit mehr Macht verbreitet werden kann. Das ist die Gefahr, auf die George Orwell in seinem Roman 1984 hingewiesen hat: Die lückenlose Kontrolle der Meinungsverbreitung durch die Machthaber führt dazu, dass alle nur mehr das Gleiche denken. Es gibt keinen Bezugspunkt in der Realität, der ein sicheres Wissen bieten kann, sondern alles kann so gesehen werden oder auch anders. Die jeweiligen Machthaber entscheiden dann über das, was real ist und was nicht.

Der Marlboro-Move

In einer ähnlichen Form gibt es diesen Ansatz in der Wahrheitsrelativierung schon länger. Zunächst haben sich bestimmte Teile der Wirtschaft des Tricks bedient, Forschungsergebnisse, die gegen ihre Produkte gesprochen haben, durch den Hinweis auf Gegenstudien zu entkräften. Dazu wurden entsprechende Studien gefälscht. Dieses Vorgehen kennen wir aus der Tabakindustrie – von da auch der Name –, aber auch von der Zuckerindustrie. Zurzeit sind wir massiver Propaganda von der Ölindustrie ausgesetzt, die den hohen wissenschaftlichen Konsens über die Ursachen des Klimawandels ignoriert und suggerieren will, dass das nur Einzelmeinungen sind und dass die Leugner der menschengemachten Erwärmung der Atmosphäre mindestens genauso recht haben. 

Mit solchen Manövern wird gezielt an der Glaubwürdigkeit der Wissenschaften gesägt; sie werden so dargestellt, als könne man mit ihrer Hilfe jeden Standpunkt bestätigen und jedes Geschäftsinteresse bedienen. Die Verlässlichkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ausgefeilten Prüfinstanzen unterworfen sind, ist ein wichtiger Referenzpunkt für eine liberale Demokratie, und gerade deshalb ist sie den Gegnern dieser Staatsform ein Dorn im Auge. Mittels manipulativer und irreführender Rhetorik soll die Überzeugungskraft und die zentrale Rolle der Wissenschaften für die Wahrheitsfindung systematisch diskreditiert werden. Am Ende gibt es nur noch das Meinungsdiktat derer, die über genügend Macht und Geld verfügen.

Der “I Did My Own Research”-Move

Das Internet und die Plattformen für künstliche Intelligenz versetzen jeden in die Lage, Informationen zu sammeln. Man findet eine Seite, auf der jemand die eigene Meinung bestätigt, und schon verfügt man über eine Expertenmeinung und kann jeden anderen, der als Experte auftritt, übertrumpfen, auch wenn dieser auf wissenschaftlich anerkannte Forschungsarbeiten verweisen kann. Während der Pandemie-Zeit hat es nur so gewimmelt von selbsternannten Virologen und Impfexperten, die mit ihrem kursorisch angelesenen Halbwissen jeden ausgebildeten Virologen, der über jahrzehntelange Erfahrung in seinem Fachgebiet verfügte, als „Scharlatan“ verspotten oder als gekauften Büttel von Pharmakonzernen verleumden konnten. Ähnlich peinlich treten Leugner des menschengemachten Klimawandels auf, die in irgendeiner wissenschaftlichen Disziplin Experten oder sogar Nobelpreisträger sind, diese Position aber missbrauchen, indem sie ohne jede fachliche Qualifikation Erkenntnisse zu Klimafragen verbreiten und damit die Tausenden Klimawissenschaftler belehren wollen.

Der Bannon-Move 

Diese kommunikative Untugend ist nach dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon, einem rechtsextremen Publizisten, benannt. Seine Schlachtruf ist bekannt: „Flood the zone with shit.“ Es geht darum, möglichst viele unsinnige, faktenfremde, hetzerische und hasserfüllte Botschaften in die mediale Landschaft hinauszuposaunen, ohne irgendeinen Wahrheitsanspruch, einfach nur mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu bekommen, laut zu sein und möglichst viel Verwirrung und Verunsicherung zu stiften. Wenn sich viele angeekelt von all dem „Scheiß“ abwenden, ist die Arena frei für die Meinungsdiktate der Autokraten.

Das Erbe der Aufklärung weiterführen

Für alle, denen es wichtig ist, das Erbe der Aufklärung zu bewahren und weiter zu entwickeln, geht es darum, sich den Wahrheitsbegriff nicht wegnehmen zu lassen, sondern ihn gegen alle Zerstörungsversuche zu verteidigen. Die Wahrheitsfindung, mit der die Menschheit den Weg von der Steinzeit bis in die Moderne erfolgreich beschritten hat, beruht auf zwei Zugängen: Die möglichst hohe Übereinstimmung zwischen der Theorie und der Wirklichkeit (die Korrespondenzwahrheit) und die möglichst hohe Übereinstimmung mit anderen Wahrheitssuchern (die Konsenswahrheit). Diese Formen der Wahrheitsfindung haben sich praktisch bewährt – alle Maschinen, Geräte und Bauwerke sowie alle komplexeren Formen des menschlichen Zusammenlebens sind aus der Anwendung dieser Zugänge zur Wirklichkeit entstanden. Im technischen Bereich besteht im Grund kein Problem; auch die Rechten wollen funktionierende Computer und sichere Hochhäuser. Aber die systematische Infragestellung der Wahrheitskompetenz der Wissenschaften, indem diese in den Dienst der Machtpolitik gestellt werden sollen, unterminiert selbst diesen Bereich. Diktatoren haben immer schon bestimmte naturwissenschaftliche Theorien und die damit verbundenen Forschungen, die nicht in ihre Ideologie passten, verboten und bekämpft. 

Besonders betroffen von den Attacken auf die Wissenschaften sind allerdings die Sozialwissenschaften. Denn sie forschen im Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der von den Feinden der liberalen Demokratie mit allen Mitteln besetzt und umgestaltet werden soll. Deshalb sind diese Wissenschaften der natürliche Gegner für die selbsternannten Retter vor allem Bösen. Statt Formen der Kooperation zu fördern, geht es darum, möglichst überall das Recht des Stärkeren und Mächtigeren zu etablieren – aber damit kommt man in den Sozialwissenschaften nicht weit, und deshalb müssen eben diese Forschungsrichtungen unterdrückt werden. Die Trump-Administration hat schon eine lange Liste von Themen veröffentlicht, die nicht mehr mit Regierungsgeldern gefördert werden dürfen (z.B. Forschungen zum „Trauma“ oder zu indigenen Völkern); und auch private Geldgeber werden wohl unter Druck gesetzt werden, sodass ganze Forschungszweige stillgelegt werden müssen. Was auf Deutschland zukommen könnte, hat die AfD-Vorsitzende Alice Weidel kundgetan: „Soll ich sagen, was wir tun, wenn wir am Ruder sind? Wir schließen alle Gender-Studies und schmeißen alle diese Professoren raus.“ Soviel gilt also die Freiheit der Wissenschaften bei Rechtsparteien und unter den von ihnen angestrebten Diktaturen. 

Die Wahrheit muss über der Macht stehen

Nur eine starke und artikulierte liberale Zivilgesellschaft kann verhindern, dass die gezielt angewendeten Tricks der Meinungsmanipulation unter dem Deckmantel rechter Wahrheitsverbiegungen noch mehr Platz greift. Die Wahrheit darf niemals der Macht untergeordnet werden, denn dann bleibt die Freiheit auf der Strecke. Mit viel Einsatz haben Generationen vor uns die liberalen Grundrechte gegen autoritäre Staatssysteme errungen, die wir uns nicht von machtgeilen Möchtegerne-Diktatoren und ihren Speichelleckern und Mitläufern wegnehmen lassen dürfen. Die Alternative zu einer liberalen Demokratie ist eben eine illiberale, eine mit beschnittenen Freiheitsrechten, an deren Stelle eine unkontrollierte, korrupte und rücksichtslose Staatsmacht tritt, die den öffentlichen Diskursraum mit gleichgeschalteten Medien ausfüllt. Der Blick nach Orbán-Ungarn genügt, um zu sehen, wohin die Rechte steuert.

Zum Weiterlesen:
Fossile Propaganda und Klimazerstörung
Petromaskulinität und Klimazerstörung


Freitag, 14. Februar 2025

Der heroisierte Verzicht auf Empathie

Wir kennen ihn – diesen Typ des Politikers (fast immer männlich), der ohne mit der Wimper zu zucken verkündet, dass Sozialmaßnahmen gekürzt („geglättet“, „angeglichen“...) werden müssen, dass Migranten zurückgewiesen („Push-Back“) werden müssen, dass denen, die schon wenig haben, weggenommen werden muss, um die zu schonen, die mehr und auch die, die viel zu viel haben. Vermieden wird jede Art des Mitgefühls mit den Schwächeren und Ärmeren in der Gesellschaft. Das Zeigen von Mitgefühl ist das größte Tabu für solche Menschen, denn damit würden sie eine Schwäche kundtun. Ihr Mitgefühl gilt nur denen, die sie begünstigen und nicht jenen, denen sie schaden. Und dafür brüsten sie sich und stellen sich als Helden dar. Nach Natascha Strobl sind es „kalte, rationale Macher, die sich nicht von Mitleid oder anderen ‚weichlichen‘ Regungen irritieren lassen, sondern ihre harte, aber notwendige Agenda durchziehen.“ (Radikaler Konservativismus. Frankfurt: Suhrkamp 2021)

Empathie macht den Menschen zum Menschen

Was den Menschen zum Menschen macht, ist die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Es ist die Fähigkeit, von den eigenen Überlebensimpulsen absehen zu können und das Innenleben von Mitmenschen nachvollziehen zu können. Dazu gehört auch, das Leid von anderen wahr- und ernstnehmen zu können. Menschlich sein, heißt also, von den inneren Zuständen der anderen Menschen betroffen zu sein. Es geht dabei nicht nur um angenehme Gefühle wie Freude und Begeisterung, sondern auch um belastende wie Angst, Leid und Schmerz. Wenn wir uns vom Leid der anderen abschotten, dann entfernen wir uns von der Menschlichkeit und sind nur auf das eigene Überleben fixiert.

Die Menschheit konnte als Gattung nur mit Hilfe der Empathiefähigkeit überleben. Schwächer und langsamer als die Beutetiere wäre der homo sapiens bald ausgerottet worden, wenn er nicht auf Teamwork gesetzt hätte. Die technische und die soziale Intelligenz, über die er verfügt, haben seine Erfolgsgeschichte begründet. Die Empathie bildet das Zentrum der sozialen Intelligenz, weil sie den Gruppenzusammenhalt sichert: Jedes Mitglied der Gruppe fühlt sich gesehen und als Teil des Ganzen. 

Das sogenannte Bindungshormon Oxytocin sorgt dafür, dass die Beziehungen in einer Gruppe gefestigt werden und die Empathie wirken kann. Allerdings wird es auch aktiv, um die Gruppe vor anderen Gruppen zu verteidigen. Seine Devise ist gewissermaßen: Liebe nach innen und Aggression nach außen. Hier zeigt sich das Trügerische an der menschlichen Empathiefähigkeit. Sie kann unter bestimmten Umständen nach außen hin stillgelegt werden und sich ins Gegenteil, in den Hass verkehren. 

Die Evolution der menschlichen Zivilisation und Kultur hat dazu geführt, dass immer größere soziale Einheiten entstanden sind, bis zur Weltgesellschaft, die seit 1945 durch die UNO repräsentiert wird. Dementsprechend haben sich auch die Aufgaben ausgeweitet, sodass bestimmte Probleme nur im Zusammenwirken der ganzen Menschheit gelöst werden können. Die emotionale und soziale Voraussetzung dafür bildet die unbegrenzte und unbedingte Empathie. Das haben viele, wenn nicht alle Weisheitslehrer schon lange erkannt: Das ist die Botschaft über das Mitgefühl von Buddha oder über die Nächsten- und Feindesliebe von Jesus. Zugleich wissen wir, wie schwer wir uns tun, diese Bedingung für die Weiterentwicklung der Menschheit zu erfüllen. Die Tendenz, die das Sprichwort vom Hemd, das näher ist als der Rock, benennt, drängt sich immer wieder vor: Es ist unser Egoismus, der manchmal auch als Gruppenegoismus auftaucht.

Die Verherrlichung des Empathieverzichts

Unsere conditio humana, unsere unvollkommene Verfasstheit als Menschen, durchkreuzt immer wieder die ethischen Imperative, von denen wir im Grund wissen, dass sie stimmen und befolgt werden sollten. Allerdings gibt es eine Attitüde, die sich vermehrt in politischen Auseinandersetzungen im globalen Westen meldet, die ich als den heroisierten Verzicht auf Empathie bezeichnen möchte. Damit ist gemeint, dass die Menschlichkeit auf bestimmte Menschengruppen eingeschränkt wird, und dass das nicht mit einem Eingeständnis der Schwäche einhergeht, mehr nicht zu schaffen, sondern mit dem Pathos des heldenhaften Verzichts. 

Unter den Politikern vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums gibt es die rhetorische Figur und pathetische Haltung, dass Härte und Unerbittlichkeit gegen andere (Migranten, Ausländer, Asylwerber etc.) aufgebracht werden muss, aus dem Mitgefühl für das Leiden des „eigenen Volkes“. Wer mit Fremden oder Schwachen Mitgefühl hat, verrät die eigenen Leute. Der hingegen, der all die anderen verachten kann, gilt bei den eigenen als Held.

Das Beispiel Heinrich Himmler

Diese rhetorische Wendung erinnert mich an Heinrich Himmler, den Reichsführer der SS im Nationalsozialismus, der 1943 in einer Rede gesagt hat: „Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt.“ 

Himmler zeigt Mitgefühl mit den SS-Verbrechern seiner Truppe, die es aushalten müssen, vor Leichenbergen, die sie angerichtet haben, zu stehen, und die dafür, dass sie dennoch „anständig“ geblieben seien, ein „Ruhmesblatt“ verdienen. Er verzichtet demonstrativ auf jedes Mitgefühl mit den Opfern. So sagt er an einer anderen Stelle in dieser Rede: „Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“ (Posner Reden 1943)

Gruppenegoismus und Fremdenhass

Das ist die radikale Position des Gruppenegoismus verbunden mit einem ebenso radikalen Fremdenhass: Maximales Mitgefühl nach innen, kein wie immer geartetes Mitgefühl nach außen, sondern zügelloser Hass. Ich möchte keinen der aktuellen Politiker mit Himmler gleichsetzen, bemerke aber, dass viele von diesen die gleiche Position einnehmen, nur mit verminderter Radikalität. Sie rühmen sich, brutal und hart zu sein und notfalls über Leichen zu gehen, weil sie meinen, damit ihren Leuten etwas Gutes zu tun. Die scheinbare Ruhmestat besteht darin, die Anfechtungen des Gewissens, das sich bei jeder Regung von Hass und Menschenverachtung meldet, zu überwinden und zu ignorieren. Das ist die Härte gegen sich selbst, und diese ist im Grund der Seele nichts als der Hass auf die eigene Menschlichkeit.

Der Verrat der eigenen Würde

Tatsächlich steckt hinter den kalten und grausamen Worten von Himmler eine Einsicht in die menschliche Psyche: Wer sich dem Leid von anderen verschließt und davon abschottet, zahlt einen hohen Preis an seiner Selbstachtung und Würde. Nur verdient diese Wendung gegen sich selbst kein Ruhmesblatt, sondern erfordert ein tiefes In-Sich-Gehen, ein Anerkennen und Aufsichnehmen der massiven Scham, die mit der Verleugnung der Empathie verbunden ist. Daraus könnte dann eine Umkehr, eine Rückkehr zur Menschlichkeit erwachsen.

Schamlosigkeit als Heldentat

Was wir bei den Nachahmern von Himmler allenthalben beobachten können, ist das perverse Pathos des sich aufopfernden Empathieverzichters, der als Heldentat ausruft, was nicht nur einen Selbstverrat darstellt, sondern auch die Grundlagen der Moral und damit des gesellschaftlichen Zusammenhalts angreift. Um von der moralischen Last abzulenken, die durch das Ausblenden des Mitgefühls entstanden ist, wird ein wild entschlossener Aktionismus ausgerufen. So soll der Anschein erweckt werden, „das Notwendige“ mit Tatkraft zu vollbringen, also das, was die Not der Binnengruppe wenden soll. Typisch dabei ist, dass meist Maßnahmen mit hohem Symbolwert und minimaler Wirkung gefordert und  Abhilfen für herbeigeredete Gefahren versprochen werden. Es wird also der Anschein erweckt, dass die Dinge verbessert werden, während sich nur die Kosmetik ändert.

Zuspruch kommt von allen, die an einer Not leiden und die in der Unverfrorenheit von empathielosen Führerfiguren einen Ausweg sehen. Diese bekommen eine Vorbildrolle, indem sie den Verzicht auf Mitgefühl als Tugend vor sich hertragen. Je mehr Nachahmer sie finden, desto rauer und gröber wird das gesellschaftliche Klima. Und der Erfolg durch zulaufende Anhänger und Wähler bestätigt die Haltung und verstärkt Tendenz zur Selbstverherrlichung. 

Hier zur Videofassung.

Zum Weiterlesen:
Empathie
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit
Die Solidaritätsschranke


Dienstag, 11. Februar 2025

Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit

Im Bereich der relativen Wahrheiten gibt es kein eindeutiges und absolut gültiges Richtig oder Falsch. Vielmehr geht es darum, zu überprüfen, ob eine bestimmte Theorie nahe an die Wirklichkeit herankommt, sodass ihre Anwendung in der Praxis erfolgreich ist oder nicht. Hier hat sich die Vorgehensweise der Wissenschaften ausgezeichnet, weil sie durch die beständige Weiterentwicklung und Verfeinerung der Methoden der Wahrheitsprüfung viele Theorien hervorgebracht hat, die dann anwendbar und umsetzbar waren. Wir können uns jedes moderne technische Gerät, auch jenes, auf dem dieser Text geschrieben wird, als Ergebnis von Tausenden von praxistauglichen Theorien vorstellen, bei deren Anwendung verwertbare Ergebnisse entstanden sind. Andere Theorien wie die von der flachen Erde haben für manche eine gewisse Plausibilität, aber sie haben nichts zur Entwicklung eines einzigen technischen Gerätes oder eines wirksamen Medikamentes beigetragen. Sie sind im besten Fall folgenlose Spielereien des menschlichen Verstandes mit einem gewissen Unterhaltungswert.

Es gibt wichtige qualitative Unterschiede in der Realitätsnähe einer Theorie: Je näher sie zur Wirklichkeit steht, desto höher ist die Praxistauglichkeit und desto fortschrittsdienlicher ist sie. Diese Gleichung betrifft nicht nur physikalische Hypothesen, sondern auch solche aus der Ökonomie, Psychologie oder Soziologie. Zum Beispiel haben Studien über das Leiden von Personen mit einer vom binären Schema abweichenden Geschlechtsidentität zu mehr Toleranz geführt (solche Studien dürfen übrigens laut der neuen US-Regierung nicht mehr vom Staat gefördert werden). Studien über die Zunahme der Konzentration des Reichtums in einer immer dünner werdenden Oberschicht haben in manchen Ländern zu einer Umverteilung von oben nach unten geführt (die gegenwärtige US-Administration nutzt sie allerdings für eine Umverteilung von unten nach oben). Studien zum Ozonloch haben in den 1980er Jahren ein weltweites Verbot von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen bewirkt (damals ohne jegliche Einmischung von Verschwörungstheorien wie es leider beim Thema Klimawandel der Fall ist).

Realitätsuntaugliche Verschwörungstheorien

Auch wenn der Verschwörungsglaube keinen Wahn darstellt, obwohl er wahnhafte Elemente beinhaltet, ist er dennoch nicht realitätstauglich.  Denn er gewinnt seine Anziehungskraft aus Fantasien und nicht aus einer Wirklichkeitsprüfung. Diese Fantasien werden von Ängsten erzeugt und versprechen einen Ausweg aus der Not, indem die Verursacher des Bösen namhaft gemacht werden. Wenn es gelingt, mit einer Verschwörungserzählung kollektive Angstquellen anzusprechen, werden leicht Anhänger gefunden. Die Gruppe der Verschwörungsgläubigen erfährt eine subjektive Angsterleichterung, weil sie mit dem Erkennen der scheinbaren Angstverursachung ein Stück Kontrolle über die Bedrohung erlangt hat. Im sozialen Umfeld werden allerdings mit der neuen Theorie neue Ängste entfacht. Wer wäre z.B. schon auf die Idee gekommen, dass über Impfungen Elektroden in den Körper geschleust würden? In solchen Fantasiegebilden liegt die sozialschädliche Macht dieser Glaubensformen, die in vielen Fällen von den Anstiftern bewusst in Kauf genommen wird.

Verschwörungstheorien sind deshalb nicht nur realitätsfern, sie haben zusätzlich noch destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaft bis hin zu katastrophalen Unmenschlichkeiten. Die historisch folgenreichste dieser Theorien ist wohl die von der jüdischen Weltverschwörung. Sie fand durch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Antisemiten verfassten „Protokolle der Weisen von Zion“ weite Verbreitung. Dieser fiktive Text hat viele rechtsextreme Personen und Gruppierungen in ihren Judenhass angestachelt und damit das Feld für die Massenvernichtung der Juden unter den Nationalsozialisten bereitet.

Viele der Verschwörungstheorien sehen nach dem Modell dieser „Protokolle“ die „eigentliche“ Weltherrschaft in den Händen von wenigen Verschwörern (Illuminaten, Bilderberger, Jesuiten, Deep State, Finanzoligarchie, WHO etc.) oder in Einzelpersonen (George Soros, Bill Gates etc.). Statt sich in der Politik für Änderungen einzusetzen, werden die Ursachen für gesellschaftliche Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten dort gesucht, wo sie nicht unschädlich gemacht werden können. Denn die Verschwörer sind mächtig und gut versteckt, dass sie höchstens in ihren Stellvertretern bekämpft werden, aber nie endgültig erledigt werden können. Deshalb halten sich viele Verschwörungstheorien über lange Zeiträume – diejenige von der Judenverschwörung geht bis aufs Mittelalter zurück. Jene Erzählungen, die sich um die Corona-Pandemie rankten, sind noch immer aktiv oder leben immer wieder neu auf.

Je realitätsferner eine Verschwörungstheorie ist, desto größer ist der Begründungs- und Rechtfertigungsaufwand und damit auch eigene Anhänglichkeit an die Theorie. Mit der Wirklichkeits- und Faktenferne steigt auch der Aufwand an Aggressivität, die notwendig wird, um die eigene Position gegen Anfechtungen durchzusetzen und abzusichern. Es wird dabei auch die Wut und der Hass entschuldigt, die ja notwendig sind, weil die Gefahr so groß wäre, und weil in der Gefahr so viel Zerstörerisches stecke, dass ihr nur durch Gegengewalt Paroli geboten werden kann. Verschwörungstheorien sind also immer aggressiv geladen. Deshalb verbinden sie nicht, sondern sie spalten. Denn sie lassen nur eine paranoide Reaktion zu: Dafür oder dagegen zu sein. Und wer dagegen ist, steckt automatisch mit den Verschwörern unter einer Decke und muss auch bekämpft werden.

Realitätsnahe und realitätsferne Theorien

Theorien hingegen, die aus der Realitätsnähe gewonnen werden, zeichnen sich durch ihre Praxistauglichkeit aus. Im technischen Bereich entstehen funktionierende Geräte und Maschinen, im sozialen Bereich werden die gesellschaftlichen Bindungen gestärkt, es wird Inklusion statt Exklusion gefördert. Dadurch entsteht mehr Sicherheit für mehr Menschen, die individuellen und kollektiven Ängste werden weniger und positive Zukunftsaussichten entstehen.

Theorien, die aus ihrer Realitätsferne leben, also einen hohen Anteil an Fantasien enthalten, haben die gegenteilige Wirkung. Sie fördern den Rückschritt, die gesellschaftliche Spaltung sowie Aggression und Gewalt.

Hier zur Videofassung

Zum Weiterlesen:
Verschwörungstheorien zwischen Wahn und Normalität