Freitag, 31. Januar 2020

Gibt es Grenzen des Mitgefühls?

Mitzufühlen ist eine Grundeigenschaft der Menschen, die diese Fähigkeit brauchen, um als Gruppenwesen füreinander da zu sein, wenn Not besteht und jemand Unterstützung braucht. Wir können uns in vielen Situationen des Lebens nicht alleine helfen und sind darauf angewiesen, dass uns jemand hilft. Dazu dient das Mitgefühl, das dazu motiviert, dem Schwachen unter die Arme zu greifen, der Kranken zur Seite zu stehen und der seelisch Leidenden Trost zu spenden. 

Das Mitfühlen hat aber auch seine Grenzen. Angesichts des massiven Leides, das auf dieser Erde herrscht, werden wir irgendwann unempfindlich. Es überfordert unsere kognitiven Kapazitäten und unsere Vorstellungskraft sowie das Nervensystem und erzeugt Stress. Wenn wir etwas Distanz gegen die Überflutung gewinnen können, wie sie uns medial begegnet, kann sich das Mitgefühl wieder regen. 

Die Nächsten und die Übernächsten 


Aus dieser Überlastung heraus entwickeln wir Abwehrformen gegen das Leid und Kategorien für das Mitgefühl. Wir unterscheiden die Nächsten, die Näheren und die Ferneren und dosieren dementsprechend unser Betroffensein. Den Nächsten zu lieben, fällt meistens leichter als dem Übernächsten und noch weiter Entfernten unsere Liebe zu schenken. Dennoch hat das Mitgefühl keine natürliche Grenze, ab der es nicht mehr wirkt, sondern ist grundsätzlich unendlich.   

Das Mitgefühl hat eine ererbte Komponente, hier nicht im genetischen Sinn gemeint, sondern bezogen auf die vor allem elterlichen Vorbilder, mit denen Kinder aufwachsen. Eltern, die ihr Mitgefühl auf den engen Familienkreis beschränken und über andere, die nicht dazugehören, schlecht reden, obwohl sie vielleicht arm dran sind und Hilfe bräuchten, können den Kindern eine zwiespältige Haltung weitergeben: Wer mir nahe ist, verdient Rücksichtnahme und Fürsorge, wer weiter weg ist, soll selber schauen, wie er zurechtkommt und ist eher eine Bedrohung, der mit Misstrauen begegnet werden soll.
  
„Man kann sich schließlich nicht um alle kümmern.“ So lautet das Credo des selektiven Mitgefühls. Auch wenn diese Aussage logisch klingt, verwechselt sie Mitgefühl mit hilfreichem Handeln. Sie dient auch zur Abwehr, um das Elend und Leid anderer Menschen nicht an sich heranlassen zu müssen.  

Denn die moralische Frage bleibt: Kümmere ich mich um genug viele Menschen, oder beschränke ich mein mitfühlendes Handeln auf eine viel zu kleine Zahl? Es gibt in diesem Zusammenhang keine absoluten Maßstäbe, und die ebenso gebräuchliche Aussage: „Ich bin ja nicht die Mutter Teresa“ führt hier nicht weiter. Die individuelle Verantwortung muss jeder für sich definieren und vor sich selbst rechtfertigen. 

Wir müssen für uns selber die Linie finden, wo wir aus ehrlichem Herzen für andere da sein können und Hilfe geben und wo wir nur aus “schlechtem Gewissen” oder aus einer angenommenen Rolle helfen, aus einem diffusen Pflichtgefühl, angetrieben von Schuldgefühlen. Das bekannte Syndrom des zwanghaften Helfens stammt häufig aus einer Rolle, die ein Kind früh in einer dysfunktionalen Familie angenommen hat, um das System zu stabilisieren und die Schwächen der Eltern auszugleichen. Im späteren Leben resultiert aus dieser Rolle häufig ein Burn-Out. Dieses Muster hat nichts mit Empathie zu tun, sondern mit unzureichenden Versuchen, Empathiemängel der eigenen Kindheit über das Tun für andere auszugleichen. 

Eine andere Reaktion auf fehlendes Mitgefühl in der eigenen Geschichte ist die Abhärtung, das Sich-Abfinden mit dem Defizit und das Einlassen auf ein trotziges Überlebensmuster, das sich selbst und auch den anderen wenig gönnt. Empathie auf Sparflamme heißt auch Leben auf Sparflamme. 

Der Preis der Herzenshärte 


Wer sein Herz verhärtet, mutiert schließlich zum Unmenschen. Manche tun so, als könnten sie selektiv ihr Mitgefühl abstellen - gegen die Fremden usw., während sie für Freunde oder ihre Familie da sind. Aber jede Verhärtung des Herzens führt zur inneren Abstumpfung und schädigt die Beziehungsfähigkeit auf allen Ebenen. Die brutalen KZ-Wächter, die abends mit ihren Kindern spielten, verstellen sich für eine verlogene Idylle, mit der die eigenen Kinder missbraucht werden; viele dieser Kinder haben später mit ihrem Vater gebrochen und die Abwehrmechanismen der Falschheit, Selbsttäuschung und Abspaltung, die hinter diesem Doppelspiel stecken, durchschaut.  

Ehrlicher klingt ein Vietnamveteran, der am Tag nach dem grausigen Tod eines Kameraden bei einer Patrouille Kinder erschossen und eine Vietnamesin vergewaltigt hat und später erkennen musste, dass er seinen eigenen Kindern nicht mehr in die Augen schauen kann, weil dabei die Leichen der vietnamesischen Kinder auftauchen. Es braucht einen langen Weg der inneren Heilung, dass die tiefe Scham, die mit solchen Erfahrungen verbunden ist, gelöst werden kann, eine Arbeit, die viel mit Selbst-Mitgefühl zu tun hat. Wenn diese innere empathische Beziehung wieder aufgerichtet werden kann, wird sich wie von selber das Mitgefühl ausweiten und die Opfer der eigenen Gewalttätigkeit ebenso umfassen wie die Opfer jeder anderen Misshandlung. 

Universelles Mitgefühl 


Das Mitgefühl ist mehr als ein Gefühl. Es ist eine innere Ausrichtung, eine Haltung und Einstellung, die wir willentlich einnehmen und stärken können. Gefühle kommen und gehen, diese Abläufe sind von unserem Unterbewusstsein gesteuert. Zum Mitfühlen können wir uns entscheiden. Es ist eine Fähigkeit, die wir üben können und die in der Ausübung angenehme und erfüllende Gefühle erzeugt. Denn das Mitgefühl weitet das Innere, über die Enge der eigenen Interessen und Bedürfnisse hinaus. Es lässt das Ego in den Hintergrund treten und führt zu einem Gefühl der Verbundenheit über die eigenen Tellerränder hinaus hin zur großen Gemeinschaft der Menschen und der Natur. Das Bindemittel in diesem großen Netz ist das Mitgefühl, das durch all die vielen Kanäle fließen kann und auf diesen Wegen viele Wunden heilt. 

Deshalb kann das Mitgefühl nie selektiv sein. Denn jede Auswahl würde andere ausschließen, und dazu fehlt uns das Recht. In der Praxis beschränken wir das Mitgefühl und müssen es beschränken, wir sollten jedoch uns bewusst sein, dass jeder Versuch der Eingrenzung des Mitgefühls willkürlich ist, weil er Ausgrenzungen beinhaltet, so nichts auszugrenzen ist. Alle fühlenden Wesen verdienen unsere Empathie, wie es in den buddhistischen Übungen heißt. Wir finden erst dann unseren vollständigen inneren Frieden, wenn ihn alle andere gefunden haben, und solange dieses Ziel nicht erreicht ist, gilt es, den Mangel an Frieden mit Mitgefühl auszufüllen, durch beständiges Üben im Ausweiten der Horizonte unserer Empathie. 

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