Das Mitgefühl ist die Antwort auf die menschliche Leidensfähigkeit. Wir Menschen sind Wesen, die immer wieder leiden, natürlich nicht nur das und nicht immer das, sondern auch vieles anderes. Aber jeder Mensch hat einen Grundbezug zum Leiden, der auch das Motiv liefert, warum sich Menschen mit religiösen Systemen beschäftigen, die die Erlösung vom Leiden versprechen. Natürlich liegt auch die Ursache für das Entstehen Medizin und der Psychotherapie in der Vielfalt menschlichen Leidens.
Es gibt Leidenszustände, für die wir verantwortlich und zuständig sind und wo wir aufgerufen sind, etwas zu tun. Ein Baby leidet an Magenkrämpfen und die Eltern müssen sich bemühen, Abhilfe zu verschaffen. Wir haben einen Parkschaden verursacht und sorgen dafür, dass der Schaden wieder gutgemacht wird. Wir haben jemanden beleidigt und entschuldigen uns.
Es gibt andererseits menschliche Leidenszustände, für die wir keine persönliche Verantwortung tragen, mit denen wir aber dennoch in Kontakt kommen, wie z.B. die Krankheit oder Armut anderer Menschen. Jedes menschliche Leid verdient unser Mitgefühl, aber nicht jedes menschliche Leid können wir lindern. Es wäre eine anmaßende Überforderung, sich um alles Leid zu kümmern, das um uns herum sichtbar ist; wir kämen kaum bis zur nächsten Straßenecke.
Das neurotische Helfen
Doch manche Menschen neigen zu dieser Überforderung und ziehen wie magisch Menschen an, die ihnen ihre Probleme umhängen, für die sie sich dann zuständig fühlen. Das Helfen wird zwanghaft, und das hat nichts mit Mitgefühl zu tun. Die neurotische Helferin missachtet die eigenen Belastungsgrenzen und sieht sich, getrieben von inneren Zwängen, verpflichtet, jeder Not, die sich in der eigenen Umgebung zeigt, abzuhelfen. Sie beutet sich selbst aus, um vor den anderen und vor sich selbst als gute Person dazustehen. Sie sieht ihre Existenzberechtigung darin, jederzeit für andere da zu sein und scheinbar für sich selbst nichts zu brauchen.
Die Wurzeln dieser Haltung liegen wahrscheinlich in einer Rolle, die in der Kindheit angenommen wurde, um in einem mangelhaften Familiensystem überleben zu können. Die karge Liebe, die zur Verfügung stand, war an die Bedingung geknüpft, selbstlos für andere da zu sein. Solche Bedingungen werden oftmals gar nicht offiziell verkündet, sondern von den überforderten Eltern unbewusst als Auftrag an die Kinder weitergegeben, die sich dann entweder die Aufgabe teilen oder unterschiedliche Rollen einnehmen. Da kann es dann passieren, dass die Rolle des Helfers und Unterstützers an einer Person hängen bleibt. Die Grundlage für eine lebenslange Belastung durch eine giftige Kombination aus Selbstausbeutung und schlechtem Gewissen ist gelegt und ins Unbewusste der Seele eingepflanzt.
Der neurotische Helfer ist nicht durch Mitgefühl angetrieben, sondern durch den Wunsch, an anderen gutzumachen, was an ihm selber schlecht gelaufen ist. All das, das er nicht gekriegt hat, ist er anderen schuldig. Wenn ihr Leid gemildert ist, ist auch das eigene Leid weniger. Es liegt auf der Hand, dass sich die Rechnung nie ausgeht, es tritt immer wieder Leid auf, das nach Abhilfe verlangt. Zudem bleibt das eigene Leid auf der Strecke und meldet sich irgendwann in chronischem Stress und Burn-out-Symptomen.
Abgrenzung der Verantwortung
Wo das Mitgefühl statt dem Helferzwang Platz greifen soll, müssen die Verantwortungsbereiche klar abgegrenzt sein: Die Hauptzuständigkeit für das Leiden liegt bei der leidenden Person. Die mitfühlende Person trägt keine Verantwortung für das Leid, außer sie hat es zugefügt. Immer jedoch trägt sie die Verantwortung für die eigene Haltung und Einstellung, für das Zuwenden oder Abkapseln in Bezug auf das Leid.
Auch wenn es eine klare Abgrenzung der Verantwortungsbereich gibt, wird im Mitgefühl nicht zugleich die menschliche Verbindung gekappt. Wir können uns vom Leid anderer Menschen berühren lassen, ohne für die Umstände die Verantwortung zu übernehmen. Wir können dieses Berührtsein durch die Wahrnehmung eines belasteten Lebens stehen lassen, ohne etwas zu tun zu müssen. Vielleicht ergibt sich aus dem Kontakt mit dem Leid eine helfende Handlung, vielleicht auch nicht. Wir lassen das Elend an uns heran, so dass es an unseren Grenzen ankommt, ohne dass es in unser Inneres eindringt und uns überrollt. Wir haben keine Angst vor dem Leiden der anderen Menschen und sind frei von jeder Last durch irgendeine Pflicht oder Verantwortung.
Ein Mensch sitzt weinend auf einer Parkbank. Wir gehen vorbei und nehmen das Leid wahr und wünschen der Person in Gedanken, dass es besser wird, oder wir setzen uns dazu, um zu trösten oder einfach nur, um da zu sein. Was immer geschieht, ist nebensächlich; wichtig ist die Haltung und die Einstellung, ob es Gleichgültigkeit oder Betulichkeit oder eben Mitgefühl ist. Das macht den Unterschied zwischen der Selbstbezogenheit und der Menschlichkeit, die es nicht ohne Mitmenschlichkeit gibt.
Bei sich und verbunden bleiben
Diese Unterscheidung ist grundlegend für die Haltung des Mitgefühls: Dein Leid bleibt dein Leid, auch wenn ich es wahrnehme und erkenne. Wir tragen nicht das Leid gemeinsam, das kannst nur du, weil es deines ist. Aber wir teilen unser Menschsein und damit unsere Leidensfähigkeit. Wir wissen um die Zerbrechlichkeit unseres Seins, die wir alle in uns haben und die uns verbindet.
Im Mitgefühl sind wir offen und konfrontieren uns mit allem, was die Welt an uns an menschlichen Möglichkeiten heranbringt: Hässlichkeiten, Ekelhaftigkeiten, Erbärmliches, Verkommenes, Hoffungsloses. Wir wissen oder ahnen, dass wir all das auch in uns tragen. Es ist uns nicht fremd, sondern als Teil von uns bekannt und vertraut. Darum können wir uns nicht über diese Formen des Menschseins stellen oder besserwisserisch oder verachtend darüber urteilen. Vielmehr lässt uns das Mitgefühl bescheiden und demütig an die Leidensweisen der Menschen herangehen und mit ihnen in Kontakt kommen.
Obwohl wir all das, woran Menschen leiden können, von uns kennen oder kennen sollten, müssen wir nicht in das fremde Leid eintauchen. Wir bleiben nur im Mitgefühl, wenn wir uns selber in unserem Wesen zeigen, wenn wir dem Leid ein andersartiges Gegenüber bieten, das wir jetzt gerade sind. Denn der mitfühlende Kontakt besteht nicht im Anpassen oder Unterwerfen an den Zustand der anderen Person, sondern in einem kontrastierenden Angebot, das aus der eigenen Kraft und Klarheit stammt. Wir treten einander gegenüber, mit durchlässigen und fließenden Grenzen. Nur so kann sich ein interaktives Spiel entwickeln, das für das Mitgefühl kennzeichnend ist und das leicht und zugleich schwer sein wird. Auf diesem Weg entsteht die wirkungsvollste Hilfe für leidende Menschen.
Im Mitgefühl bleiben wir bei uns und sind zugleich offen für das Leiden der anderen Menschen. Wir lassen zu, dass wir berührt werden und sind zugleich präsent und in Verbindung mit uns selbst. Wir können uns klar von der leidenden Person unterscheiden und ihre Last und ihr Problem bei ihr lassen. Wir vertrauen darauf, dass sie die Herausforderung meistern kann, unter Einsatz eigener Kräfte, die sich auch darin äußern können, um Hilfe zu bitten. Wir schauen auf das Leid, erkennen es und verschließen uns nicht davor. Zugleich lassen wir die Verantwortung dort, wo sie hingehört, und sehen uns nicht in der Pflicht und alleinige Aufgabe, das Leid zu tilgen.
Mitgefühl und Passivität
Wenn wir bloß aus sicherer Distanz das Leiden im Außen wahrnehmen und uns einreden, dass wir nichts tun können, sind wir nicht im Mitgefühl, sondern in der Abwehr des Leidens. Denn das Mitgefühl steht nicht im Gegensatz zur Aktivität noch zur Passivität. Wir werden aus Mitgefühl aktiv, wenn es das Mitgefühl erwirkt und nicht wenn es das schlechte Gewissen oder das Pflichtbewusstsein befiehlt. Wir bleiben passiv, wenn es die Situation erfordert. Mitfühlend können wir etwas tun, eine Hilfestellung oder einen Rat anbieten, Trost spenden, Verständnis zeigen. Es wirkt aber kein Müssen, kein Zwang, keine Notwendigkeit, sondern das Tun erfließt frei aus dem Mitgefühl.
Es ist ein Tun, das aus Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit und menschlichem Teilen geschieht. Wenn es für die andere Person nicht passt, hören wir sofort auf und reagieren nicht mit Ärger, wenn die Hilfe nicht angenommen wird. Das Handeln aus dem Mitgefühl ist durch Leichtigkeit gekennzeichnet. Sobald sich etwas schwer und mühsam anfühlt, wissen wir, dass wir nicht im Mitgefühl sind.
Mitgefühl und Menschenwürde
Im Mitgefühl würdigen wir den anderen, leidenden Menschen, in seinem Leid und auch in seiner Fähigkeit, das Leid zu überwinden. Wenn es passt, reichen wir eine Hand, wenn nicht, bleiben wir in der mitfühlenden Präsenz. Auf diese Weise stärken wir die innere Kraft, die das Leiden überwinden will, und zehren uns selbst nicht aus, getrieben vom uneinlösbaren Wunsch, all die Leiden der Welt zu lindern. Im Mitgefühl bleiben wir in unserer Klarheit und in unserem Vertrauen und geben damit die wirksamste Unterstützung für das Leiden der anderen.
Wenn wir mit einem Bettler auf der Straße Mitleid haben, geben wir ihm Geld und gehen schnell weiter; wenn wir Mitgefühl haben, geben wir ihm seine menschliche Würde zurück. Im Mitgefühl sind wir Bettler wie er.
Mitgefühl und Empathie
Mitfühlen (Empathie) ist nicht das Gleiche wie Mitgefühl, das erstere ist aber eine wichtige Komponente des zweiteren. Wenn wir nur empathisch sind, kann es passieren, dass wir von den Leidenszuständen der anderen Menschen überlastet werden und uns ausgebrannt fühlen. Wir spüren unsere eigene Unfähigkeit, das vielfältige Leid zu lindern, und leiden selber daran. So wird das Mitfühlen schnell zum Mitleid(en).
Am Rand der Empathie gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können unser Bewusstsein erweitern und kommen ins Mitgefühl, oder wir folgen einer Konditionierung und landen im schuldbeladenen Mitleid. Es ist wichtig, diesen Unterschied in sich selbst zu erkennen und diese Erkenntnis zu festigen, damit wir nicht in einem von alten Programmierungen gesteuerten vermeintlichen Mitgefühl hängen bleiben.
Der bekannte Spruch: "Geteiltes Leid ist halbes Leid" erscheint in diesem Licht als doppeldeutig. Wenn wir annehmen, dass wir einem anderen Menschen die Hälfte seines Leides abnehmen müssen, geraten wir in die Helferfalle. Wenn wir uns darauf einstellen, mit der leidenden Person zu sein und zu verweilen und in diesem Sinn das Leid zu teilen, bleiben wir im Mitgefühl.
Beim Mitgefühl nehmen wir Bezug auf die andere Person als Ganze, nicht nur auf ihr Leid. Dabei erkennen wir sofort, dass sie mehr ist als ihr Leid und auch mehr in ihrem Leben vermag. Wir sehen die verletzten Seiten und die gesunden. Mit diesem geweiteten Blick können wir genauer abstimmen, welche Handlungen unsererseits hilfreich und welche kontraproduktiv sind.
Im Mitgefühl spüren wir also das Leid der anderen Menschen, ohne selbst zu leiden – aber auch ohne uns selbst besser fühlen zu müssen. Deshalb stärkt uns das Mitgefühl, während die mit alten Programmen verknüpfte Empathie zur Erschöpfung führen kann.
Die Wirkung der Präsenz
Viele Leidenserfahrungen stammen aus Verletzungen auf der Beziehungsebene. Wie wir ganz klein waren, waren wir völlig von anderen Menschen abhängig, und viele der Irritationen in diesen Beziehungen waren für uns existentielle Bedrohungen, die sich im späteren Leben in wichtigen Beziehungen widerspiegeln können. Zum Beispiel können wir bei unvorhersehbaren Trennungen oder bei der Enttäuschung von Erwartungen überreagieren. Das alte Drama wiederholt sich, und die alten Gefühle überschwemmen uns.
Die mitfühlende Präsenz eines Menschen ist uns deshalb oft so wertvoll, weil sie solche Verletzungen und Mängel ausgleicht. Ist eine andere Person über die empathische Ebene mit uns verbunden und mit uns im Gefühl da, so fühlen wir uns nicht nur sicher in unserer Existenz, sondern auch in unserem Wesen, also in der Art und Weise, wie wir als Personen sind. Wir können so sein, wie wir sind.
Allmenschliches Mitgefühl
Die buddhistische Lehrerin Pema Chödrön schreibt: „Mitgefühl wird dann real, wenn wir uns unseres gemeinsamen Menschseins bewusstwerden.“ Im Mitgefühl heben sich alle Rangunterschiede und Statusdifferenzen unter den Menschen auf. Wir sind alle gleich – gleich reich und arm, gleich glücklich und unglücklich. Wir sind alle gleich wertvoll. Wir alle haben zu tragen, die einen ein wenig mehr und die anderen ein wenig weniger. Dementsprechend bezieht sich die buddhistische Symbolfigur des Bodhisattva auf einen Menschen, der mit der eigenen Befreiung die Befreiung aller anderen fühlenden Wesen verbindet, also jemand, der sich bewusst ist, dass ohne die Erlösung aller keine individuelle Erlösung möglich ist.
Das Mitgefühl bewahrt uns also vor jeder Form von Überheblichkeit, Arroganz und Stolz. Wir erkennen unsere Kleinheit, Beschränktheit und Hinfälligkeit. Mitfühlend sind wir auf der gleichen Stufe wie das leidende Wesen.
Die Praxis des Mitgefühls
Die Haltung des Mitgefühls erfordert Übung, damit sie uns in Fleisch und Blut übergeht. Hier folgt eine Form der buddhistischen Metta-Meditation, der Meditation des Mitgefühls: „Mögest du frei sein von Leid und von den Ursachen des Leidens. Mögest du glücklich sein und dich der Ursachen des Glücks erfreuen. Mögest du Heilung finden. Mögest du zu Gleichmut und Frieden gelangen. Möge es dir wohlergehen und mögest du zum Wohlergehen anderer beitragen.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen