Dienstag, 6. Juni 2017

Empathie

Die Fähigkeit des Mitfühlens ist zentral für die Vertiefung menschlicher Beziehungen und für das soziale Vertrauen. Mitgefühl bedeutet, Gefühle spüren zu können, die andere Menschen fühlen und mit diesen Gefühlen mitschwingen zu können. Wenn ich zu dieser Fähigkeit, über die Menschen grundsätzlich verfügen, Zugang habe, trete ich in Resonanz mit der anderen Person und bewege mich in ihre Innenwelt hinein. Dann bin ich empathisch: Im Gefühl eins mit der anderen Person.

Die Erfahrung einer empathischen Beziehung gibt uns Sicherheit und Vertrauen: Ich kann spüren, dass die andere Person im Grund das gleiche fühlt wie ich, damit bin ich mit ihr verbunden und fühle mich in der Beziehung sicher.

Wenn wir viele empathische Erfahrungen in unserer frühen Kindheit machen konnten, verfügen wir über ein solides Fundament für diese Fähigkeit und können sie leicht in den Situationen aktivieren, in denen es um gefühlsmäßige Resonanz geht.

Auch wenn die Geschichten unterschiedlich sind, die das Gefühl auslösen, und damit die Details des Gefühls unterschiedlich sind, ist die Verbindung auf einer tiefen Ebene hergestellt.

Empathie heißt nicht: zwei Personen verschmelzen völlig, sondern eine gemeinsame Schwingung wird hergestellt, die mit dem jeweiligen geteilten Gefühl verbunden ist, sodass das Gefühlserleben als solches zwischen den beiden Personen identisch ist: eine Person fühlt Schmerz, die andere ebenfalls. Der Schmerz kann sich in der Intensität unterscheiden; die empathische Person braucht den Schmerz nicht in der Tiefe zu spüren, um die einfühlende Beziehung herzustellen. Die gefühlsmäßige Resonanz ist nicht von der Stärke abhängig, ähnlich wie Töne unterschiedlicher Lautstärke in Harmonie sein können.

Es handelt sich also nicht um Empathie, wenn eine Person in der anderen Person oder in ihrem Gefühl aufgeht. Das wäre nur ein konfluentes Sich-im-anderen-Verlieren. Empathie erfordert zwei voneinander prinzipiell unabhängige Personen, die sich auf der Ebene eines Gefühls treffen und auf dieser Ebene alle Unterschiede aufgeben, sodass nur mehr eines vorhanden ist, das gemeinsam geteilte Gefühl.

Deshalb kann ich mit Personen empathisch sein, obwohl ich deren Lebensgeschichte nicht teile, ja, ich muss diese nicht einmal kennen. Ihr Gefühl mag einen anderen Hintergrund und Auslöser haben, aber ich kenne es als Gefühl aus meiner Geschichte, mit meinem Hintergrund und Auslöser.

Das Fließen der Empathie


Diese Form der Empathie ist nur möglich, wenn die Hindernisse und Blockierungen zu den eigenen Gefühlen abgebaut oder aufgelöst sind. Erst wenn diese Heilungsschritte vollzogen sind, öffnet sich der Zugang zu der Ebene, auf der alle Menschen miteinander verbunden sind: Die Ebene der primären Gefühle, in diesem Fall vor allem der Schutzgefühle von Schmerz und Angst. Auf dieser Ebene spielt es keine Rolle mehr, woher der Schmerz oder die Angst stammen; ausschlaggebend ist das Teilen der emotionalen Erfahrung. Dadurch entsteht auf einer tiefen Ebene Vertrauen und Sicherheit. Denn wir brauchen keine Angst zu haben, wenn wir der gleichen Verletzlichkeit und Ängstlichkeit begegnen, die wir von uns selber kennen. Angst macht uns das Fremde, das Unverständliche und nicht Deutbare. Wenn wir nicht wissen, woran wir mit der anderen Person sind, sind wir misstrauisch, es könnte uns drohen, dass wir wieder verletzt werden. Steigt jedoch die andere Person auf die Gefühlsebene ein, auf der wir uns gerade befinden, fühlen wir uns mit ihr verbunden und können Vertrauen aufbauen.

Auf diese Weise wird in einer gut verlaufenden Psychotherapie der Heilungsprozess in Gang kommen. Vertrauen, das in frühen Phasen des Lebens enttäuscht wird, wird in der aktuellen Situation der Gefühlsresonanz zwischen Therapeut und Klient aufgebaut, sodass die alte Enttäuschung, die zu Misstrauen geführt hat, überschrieben werden kann. Das Vertrauen zu der anderen Person, die sich mit mir auf der Gefühlsebene verbinden kann, stärkt das Vertrauen zu mir selbst, und auf diese Weise löst sich das Misstrauen auf und die innere Freiheit kann wachsen.

Physiologie der Empathie


Aus der Polyvagaltheorie wissen wir, dass sich unser Nervensystem in einem bestimmten Funktionszusammenhang befinden muss, um soziale Kompetenzen anwenden zu können. Sobald Stress entsteht, werden die sozialen Fähigkeiten reduziert und die empathischen Fertigkeiten werden zurückgefahren. Unsere inneren Systeme nehmen an, dass Gefahr im Verzug ist und stellen sich darauf ein, unser unmittelbares Überleben zu sichern. Für diesen Zweck ist die Empathie ein hinderlicher Luxus. Wir sollten nur in der Lage sein zu unterscheiden, von welchen Personen wir Bedrohung erwarten sollten und bei welchen wir uns sicher fühlen können. Dies wird vor allem aufgrund von früheren Erfahrungen und Ähnlichkeitsassoziationen entschieden.

Wenn wir hingegen entspannt sind, sodass der Stressgenerator Sympathikus abgeschwächt ist, kann das neue Vagussystem, das die sozialen Interaktionsprozesse enerviert, zum Tragen kommen. Wir sind also vom generellen Entspannungsniveau unseres Nervensystems abhängig, wenn wir Empathie entwickeln wollen, sodass die Fähigkeit zur Entspannung jeder sozialen Kompetenz vorgeordnet ist.

Die erlernte Empathieblockierung


Sozial ausgerichtete Lebewesen "können" Empathie aufgrund ihrer Veranlagung. Allerdings kann diese Fähigkeit reduziert oder verkümmert sein, wenn sie von Anfang an zu wenig gefördert und genährt wurde. Nehmen wir aus unserer Kindheit unzureichende Erfahrungen mit dem empathischen Einschwingen mit, so mussten wir Überlebensstrategien entwickeln, um mit diesem Mangel zurechtgekommen. Sie beruhen auf Ängsten und dienen dazu, die erlittenen Verletzungen durch das Nicht-Verstandenwerden zu kompensieren.

Wir können zwei Typen der Blockierung der Empathie unterscheiden.

Zum einen gibt es die Verschmelzer: sie haben als Kind gelernt, die Erwartungen anderer zu erfüllen, andere zu verstehen, um Zuwendung zu bekommen. Sie halten sich für empathisch, weil sie die Bedürfnisse und Stimmungslagen anderer gut lesen können und stets auf sie achten. Tatsächlich aber können sie nicht in Resonanz gehen, weil sie ihre eigenen Gefühle gar nicht spüren können. Was ihnen selber fehlt, war nie gefragt und ist ihnen deshalb nicht mehr zugänglich. Sie sind vermeintlich zufrieden, wenn sie andere zufriedenstellen können, bleiben innerlich aber immer hungrig nach wirklichem Verstandenwerden. In der Bindungstheorie findet sich dieser Typ als unsicher-ambivalenter Bindungsstil.

Verschmelzer müssen lernen sich abzugrenzen, indem sie die Empathie auf sich selber anwenden: Sie lernen sich selbst zu lieben, zu achten und sich um sich zu kümmern. Auf diesem Weg begegnen sie den eigenen Schmerzen und Ängsten, und indem sie diese Gefühle bei sich kennenlernen, kommen sie in die Lage, sie auch bei anderen Menschen empathisch mitzuempfinden und dabei die fremden von den eigenen Gefühlen zu unterscheiden. Indem sie sich selber kennen- und lieben lernen, können sie sich dort gut abgrenzen, wo andere ihre Gefühle ausbeuten wollen.

Die zweite Gruppe sind die Vermeider: sie können sich gut abgrenzen, aber können mit Empathie nicht viel anfangen. Sie haben den Rückzug und die innere Abschottung als Überlebensstrategie entwickelt. Die Not wird zur Tugend: Der Mangel an empathischer Verständigung wird resignativ in den Verzicht auf tieferes Verstehen umgewandelt. Besser lebt es sich, wenn die zwischenmenschliche Kommunikation an der Oberfläche bleibt und Gefühle dabei möglichst vermieden werden. Dieser Typ hat übrigens Ähnlichkeiten mit dem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil nach der Bindungstheorie.

Der Lernprozess von Vermeidern besteht darin, die Angst vor den eigenen Gefühlen zu verlieren und zu erleben, wie Gefühle das eigene Innenleben und die Kommunikation bereichern können. In dem Maß, in dem sie ihre Innerlichkeit entdecken, können sie sich empathisch für die Gefühle anderer öffnen.

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