Sonntag, 14. Oktober 2012

Das Gute und das Böse



Wie uns die Bibel berichtet, geschah der Sündenfall von Adam und Eva, nachdem sie den Apfel vom verbotenen Baum aßen. Dieser Baum hatte einen Namen: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Was mag uns die Bibel damit sagen?

Offenbar kennen wir alle einen unschuldigen Zustand, in dem die Kategorien von Gut und Böse keine Rolle spielen. Stellen wir uns ein kleines Baby vor und versuchen wir, es als gut oder böse zu sehen – was macht das für einen Sinn? Wenn es lächelt, freuen wir uns, wenn es schreit, haben wir Mitgefühl, Sorge oder Ärger. Ist es böse, weil es schreit und uns aus dem Schlaf weckt? Höchstens in unseren Gedanken, aber wenn wir klar sehen, erkennen wir, dass das Baby nicht aus Bosheit schreit, sondern aus Bedürftigkeit und Not. „Böse“ erleben wir es nur, wenn wir selber nicht „gut“ drauf sind.

Also warten wir, bis das Kind größer wird und seinen eigenen Willen bewusst entdeckt. Dann können und müssen (?) wir es mit den Begriffen von Gut und Böse vertraut machen. Wenn du A machst, bist du gut, bei B böse. Du musst lernen, Gutes zu tun und Böses zu meiden, damit wir miteinander auskommen können, schärfer noch: Damit wir dich liebhaben können. Damit pflanzen wir dem Kind ein Bewertungsschema ein, das es ihm ermöglichen soll, sich in der komplexen sozialen Welt der Menschen und ihren Erwartungen orientieren zu können.

In dieser Welt können wir es nicht durchgehen lassen, wenn Menschen sich daneben benehmen. Wir müssen Verhalten, das andere schädigt und verletzt, eindämmen und möglichst verhindern. Dazu dient die Einteilung in Gut und Böse. In der Evolutionsgeschichte des Bewusstseins befinden wir uns auf der 3. Stufe. Hier, im hierarchischen Denken, werden die Normen und Gesetze kodifiziert, die das Verhalten der Menschen festlegen und regulieren sollen. Der Staat wacht mit all seiner Macht darüber, dass sich die Menschen wohl verhalten. Dazu muss auch jedes Mitglied der Gesellschaft wissen, was gut und was böse ist. 

Allerdings, je höher jemand in der Hierarchie angesiedelt war, desto weniger genau konnten diese Einteilungen angebracht werden, was ja bis heute so praktiziert wird: Die Mächtigen machen sich ihre eigenen Regeln und Gesetze, zu ihrem eigenen Vorteil. Ein aktuelles Beispiel aus der österreichischen Innenpolitik: Alle Staatsbürger, die vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geladen werden, müssen dort erscheinen, nur einer nicht: Der Herr Bundeskanzler. Der hat nämlich die Macht zu verhindern, dass er geladen wird.

Die Welt wird noch komplexer durch die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Was soll schlecht oder böse daran sein, den eigenen Wohlstand zu steigern und Geld anzuhäufen? Wer es nicht zu Reichtum bringt, ist doch selber schuld. Was aber, wenn mein Reichtum durch die Verarmung eines anderen Menschen entstanden ist – bin ich da noch gut? 

Die nächste Bewusstseinsstufe verschärft die Frage noch mehr, indem sie die Kritik an allen Regeln und Standards forciert. Nichts, was Menschen anderen Menschen vorschreiben, darf als selbstverständlich genommen werden, sondern muss auf seine Sinnhaftigkeit für das gesellschaftliche Zusammenleben überprüft werden. So tritt langsam der öffentliche ethische Diskurs an die Stelle der unkontrollierten Autorität bei der Festlegung von Gut und Böse. Die Herrschenden werden selber der Kontrolle unterworfen und, wenn es sein muss, zur Verantwortung gezogen. Auch gekrönte Häupter können auf dem Schaffott fallen. 

Erstaunlicherweise produzierte gerade die ethisch so hoch entwickelte personalistische Stufe die ärgsten Bösewichter. Mit den technischen und ökonomischen Mitteln des Kapitalismus ausgestattet, installierten im 20. Jahrhundert einige hasserfüllte und paranoide Individuen die Massenvernichtung von Menschen als Methode der Politik. Diese Leute dienen als Argument für das „abgrundtiefe Böse“, das offenbar im Menschen wohnt und, wenn die Umstände passen, gewalttätig und zerstörerisch zum Ausbruch kommt. 

Die systemische Bewusstseinsschicht, die auch aus den Verzerrungen des personalistischen Denkens erwachsen ist, eröffnet einen Ausweg aus der Polarität von Gut und Böse. Vorbereitet von scharfen Beobachtern der menschlichen Schwächen wie Friedrich Nietzsche, der die Verlogenheit der Gutmenschen entlarvte, oder Sigmund Freud, der die zerstörerischen Kräfte des Unbewussten in jedem Menschen erkannte, verloren die eindeutigen Zuordnungen an Aussagekraft. Es ist zu einfach, die Hitlers und Stalins der Geschichte und Gegenwart als abartige Entgleisungen der Natur oder der Gene abzuurteilen. 

Um zu verstehen, was da abgelaufen ist, helfen die Etikettierungen nicht weiter. Wir brauchen sie zwar, um Position zu beziehen und die Gesellschaft vor den Ausbrüchen der Asozialität zu schützen. Recht muss gesprochen werden, Verurteilungen und Strafen müssen verhängt werden. Aber damit ist nichts geheilt und transformiert, sondern oft geht das Elend weiter, wenn der Straftäter durch die Strafe verhärtet und verbittert wird und seinen Ausweg wieder nur in der Kriminalität sieht.

In jedem Täter steckt ein Opfer, und in jedem Opfer ist auch ein Täter. Böse sind Gute und Gute sind Böse. Es gibt das Böse im Guten und das Gute im Bösen. In der systemischen Sicht gibt es niemanden, der ausschließlich böse oder ausschließlich gut ist. Die Polarität löst sich aus der Starre, die Eindeutigkeiten weichen der Vielfalt. Genaueres Hinschauen ist dazu notwendig. Das heißt auch, hinter die Kulissen zu blicken und die Regie neben dem Theaterdonner wahrzunehmen.

Damit lösen wir uns aus dem Druck, Menschen zu verurteilen und uns moralisch über sie zu stellen, was unserer eigenen Moral nicht gut tut. Wir öffnen uns für die Vorstellung, dass Menschen nicht an sich gut oder böse sind, sondern so reagieren, wie es ihnen in bestimmten Situationen anders nicht möglich ist, ob uns das gefällt oder nicht. Aber wir brauchen uns nicht mehr herausnehmen, sie dafür zu verachten, zu hassen oder ihnen das Menschsein abzusprechen.

Ich halte für diesen Schritt die Überlegung für wichtig, dass Polaritäten im menschlichen Verstand entstehen und außerhalb davon keine Wirklichkeit haben. Sie spiegeln den bis in unsere Zellen als Notmechanismus einprogrammierten Kampf/Flucht-Antagonismus wider. Die Natur und damit die Lebensabläufe verändern sich nach Nuancen und nicht polar oder stochastisch – nach einem Entweder/Oder-Schema. Es ist nicht entweder Tag oder Nacht, sondern der Tag geht in die Nacht über und wir können nur willkürlich festlegen, wann die Nacht beginnt und der Tag zu Ende ist.

Ein sprechendes Beispiel dazu wird von dem österreichischen Politiker Bruno Kreisky berichtet, der einmal gesagt haben soll, als ihm ein Journalist eine Frage vorlegte, auf die er mit Ja oder Nein antworten sollte: „Das hat zuletzt die Gestapo von mir verlangt.“

Weil nur unser Denken Polaritäten schaffen kann (weil es auch digital arbeiten kann), finden wir in unserer äußeren Erfahrungswelt kein Gut und Böse. Erst wenn wir diese Welt in unserem Kopf verarbeiten, nutzen wir dieses Schema, vor allem, wenn wir in Stress sind. 

Bsp.: Ich bin in der U-Bahn, entspannt, nehme die Menschen um mich herum als Menschen wahr und verhalte mich rücksichtsvoll und freundlich. Ich gerate in Stress, weil ich auf die Uhr schaue und merke, dass ich spät dran bin und die U-Bahn viel zu langsam fährt. Ich vergesse die Menschen um mich herum und sehe sie nur als Hindernis, sobald wir in der Station ankommen, plötzlich stellen sich alle mir in den Weg und ich muss sie wegstoßen, um aussteigen zu können. Dann fange ich auch zu denken, die anderen sind böse, und die anderen, die angerempelt wurden, denken vermutlich, ich bin der Böse. Sobald sich der Stress gelegt hat, kann mir deutlich werden, was sich in mir abgespielt hat und die anderen tun mir leid. Da braucht es dann kein "Gut" - "Böse" mehr.

In diesem Sinn ist der Mensch oder sind die Menschen weder gut noch böse, sondern so, wie sie sind und wie sie handeln. Das passt manchmal zu unseren Erwartungen und manchmal nicht. 

Wenn wir uns auf die holistische Ebene begeben, werden uns die Zusammenhänge noch deutlicher. Wenn wir das ganze Bild betrachten, all die menschlichen Versuche, zu leben, das Leben weiterzugeben und weiterzuentwickeln, all das, was dabei gelungen und das, was misslungen ist, dann sehen wir vielleicht ein Bild mit vielen Farben und Kontrasten, aber nirgends die Textmarke „Böse“. Und dann stellt sich die Frage, ob wir überhaupt noch die Bezeichnung "Gut" brauchen, der in unserem Denken als Gegenpol zu böse verankert ist.

Wir können die Frage auf uns wirken lassen. Mit der Antwort haben wir genug Zeit. Schließlich erwacht das universalistische Bewusstsein erst langsam in uns.

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