Wie uns die Bibel berichtet, geschah der Sündenfall von Adam
und Eva, nachdem sie den Apfel vom verbotenen Baum aßen. Dieser Baum hatte
einen Namen: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Was mag uns die Bibel
damit sagen?
Offenbar kennen wir alle einen unschuldigen Zustand, in dem
die Kategorien von Gut und Böse keine Rolle spielen. Stellen wir uns ein
kleines Baby vor und versuchen wir, es als gut oder böse zu sehen – was macht
das für einen Sinn? Wenn es lächelt, freuen wir uns, wenn es schreit, haben wir
Mitgefühl, Sorge oder Ärger. Ist es böse, weil es schreit und uns aus dem
Schlaf weckt? Höchstens in unseren Gedanken, aber wenn wir klar sehen, erkennen
wir, dass das Baby nicht aus Bosheit schreit, sondern aus Bedürftigkeit und
Not. „Böse“ erleben wir es nur, wenn wir selber nicht „gut“ drauf sind.
Also warten wir, bis das Kind größer wird und seinen eigenen
Willen bewusst entdeckt. Dann können und müssen (?) wir es mit den Begriffen
von Gut und Böse vertraut machen. Wenn du A machst, bist du gut, bei B böse. Du
musst lernen, Gutes zu tun und Böses zu meiden, damit wir miteinander auskommen
können, schärfer noch: Damit wir dich liebhaben können. Damit pflanzen wir dem
Kind ein Bewertungsschema ein, das es ihm ermöglichen soll, sich in der
komplexen sozialen Welt der Menschen und ihren Erwartungen orientieren zu
können.
In dieser Welt können wir es nicht durchgehen lassen, wenn
Menschen sich daneben benehmen. Wir müssen Verhalten, das andere schädigt und
verletzt, eindämmen und möglichst verhindern. Dazu dient die Einteilung in Gut
und Böse. In der Evolutionsgeschichte des Bewusstseins befinden wir uns auf der
3. Stufe. Hier, im hierarchischen Denken, werden die Normen und Gesetze
kodifiziert, die das Verhalten der Menschen festlegen und regulieren sollen. Der
Staat wacht mit all seiner Macht darüber, dass sich die Menschen wohl
verhalten. Dazu muss auch jedes Mitglied der Gesellschaft wissen, was gut und
was böse ist.
Allerdings, je höher jemand in der Hierarchie angesiedelt war, desto
weniger genau konnten diese Einteilungen angebracht werden, was ja bis heute so
praktiziert wird: Die Mächtigen machen sich ihre eigenen Regeln und Gesetze, zu
ihrem eigenen Vorteil. Ein aktuelles Beispiel aus der österreichischen
Innenpolitik: Alle Staatsbürger, die vor einen parlamentarischen
Untersuchungsausschuss geladen werden, müssen dort erscheinen, nur einer nicht:
Der Herr Bundeskanzler. Der hat nämlich die Macht zu verhindern, dass er
geladen wird.
Die Welt wird noch komplexer durch die Entwicklung des
kapitalistischen Wirtschaftssystems. Was soll schlecht oder böse daran sein,
den eigenen Wohlstand zu steigern und Geld anzuhäufen? Wer es nicht zu Reichtum
bringt, ist doch selber schuld. Was aber, wenn mein Reichtum durch die
Verarmung eines anderen Menschen entstanden ist – bin ich da noch gut?
Die nächste Bewusstseinsstufe verschärft die Frage noch
mehr, indem sie die Kritik an allen Regeln und Standards forciert. Nichts, was
Menschen anderen Menschen vorschreiben, darf als selbstverständlich genommen
werden, sondern muss auf seine Sinnhaftigkeit für das gesellschaftliche
Zusammenleben überprüft werden. So tritt langsam der öffentliche ethische
Diskurs an die Stelle der unkontrollierten Autorität bei der Festlegung von Gut
und Böse. Die Herrschenden werden selber der Kontrolle unterworfen und, wenn es
sein muss, zur Verantwortung gezogen. Auch gekrönte Häupter können auf dem
Schaffott fallen.
Erstaunlicherweise produzierte gerade die ethisch so hoch
entwickelte personalistische Stufe die ärgsten Bösewichter. Mit den technischen
und ökonomischen Mitteln des Kapitalismus ausgestattet, installierten im 20.
Jahrhundert einige hasserfüllte und paranoide Individuen die Massenvernichtung
von Menschen als Methode der Politik. Diese Leute dienen als Argument für das
„abgrundtiefe Böse“, das offenbar im Menschen wohnt und, wenn die Umstände
passen, gewalttätig und zerstörerisch zum Ausbruch kommt.
Die systemische Bewusstseinsschicht, die auch aus den Verzerrungen
des personalistischen Denkens erwachsen ist, eröffnet einen Ausweg aus der
Polarität von Gut und Böse. Vorbereitet von scharfen Beobachtern der
menschlichen Schwächen wie Friedrich Nietzsche, der die Verlogenheit der
Gutmenschen entlarvte, oder Sigmund Freud, der die zerstörerischen Kräfte des
Unbewussten in jedem Menschen erkannte, verloren die eindeutigen Zuordnungen an
Aussagekraft. Es ist zu einfach, die Hitlers und Stalins der Geschichte und
Gegenwart als abartige Entgleisungen der Natur oder der Gene abzuurteilen.
Um zu verstehen, was da abgelaufen ist, helfen die
Etikettierungen nicht weiter. Wir brauchen sie zwar, um Position zu beziehen
und die Gesellschaft vor den Ausbrüchen der Asozialität zu schützen. Recht muss
gesprochen werden, Verurteilungen und Strafen müssen verhängt werden. Aber
damit ist nichts geheilt und transformiert, sondern oft geht das Elend weiter,
wenn der Straftäter durch die Strafe verhärtet und verbittert wird und seinen
Ausweg wieder nur in der Kriminalität sieht.
In jedem Täter steckt ein Opfer, und in jedem Opfer ist auch
ein Täter. Böse sind Gute und Gute sind Böse. Es gibt das Böse im Guten und das
Gute im Bösen. In der systemischen Sicht gibt es niemanden, der ausschließlich
böse oder ausschließlich gut ist. Die Polarität löst sich aus der Starre, die
Eindeutigkeiten weichen der Vielfalt. Genaueres Hinschauen ist dazu notwendig.
Das heißt auch, hinter die Kulissen zu blicken und die Regie neben dem
Theaterdonner wahrzunehmen.
Damit lösen wir uns aus dem Druck, Menschen zu verurteilen
und uns moralisch über sie zu stellen, was unserer eigenen Moral nicht gut tut.
Wir öffnen uns für die Vorstellung, dass Menschen nicht an sich gut oder böse
sind, sondern so reagieren, wie es ihnen in bestimmten Situationen anders nicht
möglich ist, ob uns das gefällt oder nicht. Aber wir brauchen uns nicht mehr
herausnehmen, sie dafür zu verachten, zu hassen oder ihnen das Menschsein
abzusprechen.
Ich halte für diesen Schritt die Überlegung für wichtig,
dass Polaritäten im menschlichen Verstand entstehen und außerhalb davon keine
Wirklichkeit haben. Sie spiegeln den bis in unsere Zellen als Notmechanismus
einprogrammierten Kampf/Flucht-Antagonismus wider. Die Natur und damit die
Lebensabläufe verändern sich nach Nuancen und nicht polar oder stochastisch –
nach einem Entweder/Oder-Schema. Es ist nicht entweder Tag oder Nacht, sondern
der Tag geht in die Nacht über und wir können nur willkürlich festlegen, wann
die Nacht beginnt und der Tag zu Ende ist.
Ein sprechendes Beispiel dazu wird von dem österreichischen
Politiker Bruno Kreisky berichtet, der einmal gesagt haben soll, als ihm ein
Journalist eine Frage vorlegte, auf die er mit Ja oder Nein antworten sollte: „Das
hat zuletzt die Gestapo von mir verlangt.“
Weil nur unser Denken Polaritäten schaffen kann (weil es
auch digital arbeiten kann), finden wir in unserer äußeren Erfahrungswelt kein
Gut und Böse. Erst wenn wir diese Welt in unserem Kopf verarbeiten, nutzen wir
dieses Schema, vor allem, wenn wir in Stress sind.
Bsp.: Ich bin in der U-Bahn, entspannt, nehme die Menschen
um mich herum als Menschen wahr und verhalte mich rücksichtsvoll und
freundlich. Ich gerate in Stress, weil ich auf die Uhr schaue und merke, dass
ich spät dran bin und die U-Bahn viel zu langsam fährt. Ich vergesse die
Menschen um mich herum und sehe sie nur als Hindernis, sobald wir in der
Station ankommen, plötzlich stellen sich alle mir in den Weg und ich muss sie
wegstoßen, um aussteigen zu können. Dann fange ich auch zu denken, die anderen
sind böse, und die anderen, die angerempelt wurden, denken vermutlich, ich bin
der Böse. Sobald sich der Stress gelegt hat, kann mir deutlich werden, was sich
in mir abgespielt hat und die anderen tun mir leid. Da braucht es dann kein
"Gut" - "Böse" mehr.
In diesem Sinn ist der Mensch oder sind die Menschen weder
gut noch böse, sondern so, wie sie sind und wie sie handeln. Das passt manchmal
zu unseren Erwartungen und manchmal nicht.
Wenn wir uns auf die holistische Ebene begeben, werden uns
die Zusammenhänge noch deutlicher. Wenn wir das ganze Bild betrachten, all die
menschlichen Versuche, zu leben, das Leben weiterzugeben und
weiterzuentwickeln, all das, was dabei gelungen und das, was misslungen ist,
dann sehen wir vielleicht ein Bild mit vielen Farben und Kontrasten, aber
nirgends die Textmarke „Böse“. Und dann stellt sich die Frage, ob wir überhaupt
noch die Bezeichnung "Gut" brauchen, der in unserem Denken als
Gegenpol zu böse verankert ist.
Wir können die Frage auf uns wirken lassen. Mit der Antwort haben
wir genug Zeit. Schließlich erwacht das universalistische Bewusstsein erst langsam
in uns.
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