Mittwoch, 23. Dezember 2020

Der Zweifel als Prüfstein für das Ego

guille pozzi - unsplash

Es gibt viele Fragen, auf die es keine eindeutig richtige oder falsche Antwort gibt. Dazu zählen auch die großen Fragen des Lebens, z.B. nach dem Sinn der eigenen Existenz oder der Welt im Ganzen. Es gibt zwar viele Antworten auf diese Fragen, aber es braucht den Zweifel zur kritischen Überprüfung von voreiligen Annahmen. Sonst verstricken wir uns in eine Form des Größenwahns. Denn jede Antwort auf Fragen nach dem Ganzen kommt aus einer Position, die wir nicht innehaben: Von einem Aussichtspunkt auf das Ganze, sei es auch nur unserer eigenen Existenz. Dieser Punkt ist ein Punkt und nicht mehr, willkürlich ausgewählt aus einer unendlichen Menge an Punkten, die unsere raum-zeitliche Existenz umfasst und von denen sie nur einen verschwindenden Bruchteil erfassen kann. Der Punkt, den wir jetzt gerade als Urteils- und Einsichtspunkt nehmen, ist im nächsten Moment schon wieder Geschichte, ein Schicksal, das jedem dieser Momente beschieden ist. Manchmal haben wir vielleicht den Eindruck, etwas Wesentliches und Bahnbrechendes verstanden und begriffen zu haben. Solche Durchbrüche können uns auch länger beschäftigen und sich immer wieder mal melden. Doch sind auch sie nur Elemente des Teilhabens an dem Ganzen, Staubkörnchen, die wir erhascht haben, mehr oder weniger zufällig.

Also inkludieren alle Aussagen über die großen Fragen eine Anmaßung, eine Überheblichkeit und Vermessenheit. Unser großspuriges Ego möchte seine Macht über das Ganze durch seine vorlauten Einsichten bestätigen. Im nächsten Moment schon wieder kann es auf die Nase fallen, indem sich der vorgefasste Sinn des Lebens an einer gerade auftauchenden Herausforderung mühselig abarbeitet. Ein Teller fällt runter und schon sind die Scherben das Zentrum des Universums und verkörpern ratlos seinen flüchtigen Sinn.

Was haben wir von unserem Leben, dessen Sinn wir ergründen wollen? Worauf wir uns stützen können, sind ein paar Erinnerungen, die recht willkürlich ab und zu in unser momentanes Erleben hineinplumpsen, und ein paar Ideen über unsere Zukunft, die ein Sammelsurium an illusionären Ängsten und Sehnsüchten darstellen. In der Mitte zwischen den Vergangenheitsreminiszenzen, die unser Gehirn einspeist, und den Zukunftsfantastereien befindet sich der gegenwärtige Moment, in dem sich alles abspielt, was wir zur Verfügung haben. 

Jeder dieser Momente hat zwei Seiten, eine unüberwindliche Begrenztheit und eine unbegreifbare Weite. Meist widmen wir uns unserer Begrenztheit und finden dort viele Quellen des Leidens: Wünsche erfüllen sich nicht, Erwartungen werden enttäuscht, Wunder treten nicht ein, was wir loswerden wollen, verabschiedet sich nicht, und was wir haben wollen, kriegen wir nicht.

Wenn es uns gelingt, die Weite im Moment wahrzunehmen, verschiebt sich das Leiden in den Hintergrund und macht der Freude Platz. Eigentlich ist es nie ein Gelingen, das uns auf diese Ebene führt, sondern die Besonderheit eines Moments, in dem innere und äußere Umstände auf besondere Art zusammenwirken, die plötzlich möglich machen, was wir vorher für nicht möglich gehalten haben. 

Der Zweifel ist das Gegengift gegen die Überheblichkeit unseres Egos. Er macht uns darauf aufmerksam, dass unsere hochfliegenden Gedanken und erhebenden Gefühle nicht das sind, wofür wir sie gerne halten. Wir haben nur Vorläufiges in Händen und glauben oft, Endgültiges zu besitzen. Sobald der Zweifel nicht von einer Angst angetrieben ist, sondern den bescheidenen Anteil unseres Geistes repräsentiert, wird er der wichtige Prüfstein für die Erfahrungen, die wir an der Schwelle zwischen Begrenztheit und Weite machen. Der rechte Zweifel, der Wächter über unser Ego, zieht sich allerdings zurück, wenn die Weite einfach da ist, in einem Moment der Stille oder der einfachen Liebe.

In diesem Sinn Frohe Weihnachten, den Gläubigen, den Zweiflern und den Ungläubigen, die wir in uns kennen und um uns herum treffen.

Zum Weiterlesen:
Vom Sinn und Unsinn des Zweifels
Der notorische Selbstzweifel


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