Jeder Zweifel, den wir an uns selbst anbringen, fügt uns eine Beschämung zu. Wir sagen uns, dass wir nicht in Ordnung sind, so, wie wir sind. Wir sollten anders sein, doch wissen wir nicht, wie genau das sein wollte und wie wir das hinbringen könnten. Hartnäckige Gewohnheiten hindern uns daran, schleichende Ängste stellen sich in den Weg, zwanghafte Gedanken lassen uns nicht weiterkommen.
Wir schämen uns, dass wir nicht besser sind, als wir sind. Und wir schämen uns wegen der Unsicherheit uns selbst gegenüber. Zunächst einmal sollten wir weniger mangelhaft sein und darüber hinaus sollten wir nicht an uns selber zweifeln. Und schließlich sollten wir uns nicht für all das schämen. Jede Scham, die wir uns selber zufügen, wird zur Quelle einer neuen Scham: Die Scham darüber, dass wir uns für uns selbst schämen. Jede Scham ist zugleich Nahrung für den Selbstzweifel.
Jeder Zweifel nagt am Selbstwert, führt ihn weg von seiner Mitte und lässt ihn in Richtung Scham kippen. Wir schwächen uns selbst, wenn wir uns in Zweifeln verspinnen, und beschädigen die Selbstbeziehung.
Autonomie versus Scham und Zweifel
In Erik H. Eriksons bekanntem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung ist die zweite Phase der Kindheitsentwicklung durch die Spannung zwischen Autonomie einerseits und Scham und Zweifel andererseits geprägt. Scham und Zweifel sind Regulatoren für die Entwicklung zur Selbständigkeit, die im zweiten und dritten Lebensjahr des Kindes im Zentrum steht. Nach diesem Modell gehen sie Hand in Hand. Sie können zu Hemmschuhen für die Ausbildung der Autonomie werden, wenn sie zu sehr von den Eltern verstärkt werden. Viele schambesetzte Selbstzweifel können in dieser Phase grundgelegt worden sein und ein Leben lang nachwirken.
Jedoch ist der völlige Mangel an Scham und Zweifel auch nicht ratsam. Denn dann entwickelt sich Haltungen der Schamlosigkeit und der Selbstüberschätzung, die ebenso nicht fürs Leben dienlich sind. Was wir aus dieser Phase mitnehmen sollten, ist ein starkes Gefühl für die eigene Autonomie, die sich aber auch selber in kritischen Situationen in Frage stellen kann und bei Fehlern mit Scham reagiert.
Angst – Scham – Zweifel: Ein verknotetes Dreieck
Spätestens seit dieser Entwicklungsphase sind Zweifel und Scham miteinander verbunden, und im Hintergrund sind es Ängste, die die Regie führen. So kommt es zu einem Wechselspiel zwischen diesen drei Kräften, das auch qualvolle Züge annehmen kann:
Der Zweifel ist eine kognitive Ausdrucksweise von Angst, und Scham ist die emotionale Komponente des Zweifels. Da die Scham die soziale Seite der Angst darstellt, schließt sich der Kreis. Schamgefühle lassen einen an sich selbst zweifeln, und das kann einem dann schon Angst machen. Für Ängste schämen wir uns immer wieder mal, was wiederum die Selbstzweifel nährt. Von Selbstzweifeln können wir uns schwer befreien, wenn sie sich einmal im eigenen Inneren eingenistet haben, ebenso wie von toxischen Schamgefühlen und chronifizierten Ängsten.
Wir kennen diese Zusammenhänge aus den Werken vieler Schriftsteller vor allem des 20. Jahrhunderts, am eindrucksvollsten ist die Ausweglosigkeit, zu der die Verzahnung dieser Gefühle führt, bei Franz Kafka dargestellt.
Selbstzweifel und Weltzweifel
Der Zweifel kennt generell zwei Richtungen: Es gibt den Selbstzweifel und den Zweifel an allem anderen, was nicht das Selbst ist, den wir den Weltzweifel nennen können. Der eine Zweifel geht nach innen und der andere nach außen. Allerdings beginnt der Zweifel immer beim Selbst. Die Abläufe und Geschehnisse im Außen sind solange kein Gegenstand für den Zweifel als die Selbstbeziehung intakt ist. Diese Beziehung wird brüchig, wenn ihm von innen oder von außen beständig Zweifel entgegengebracht werden.
Der Weltzweifel ist ein abgelenkter oder kompensierter Selbstzweifel, gedacht für die Entlastung des Selbst. Häufig sieht der Weltzweifel das eigene Selbst als Opfer oder Spielball äußerer Entwicklungen, die scheinbar jeden Zweifel rechtfertigen. Manchmal kommen beide Zweifelsrichtungen nebeneinander vor oder es kommt zu einem Schwanken vom einen zum andern, das dann irgendwann in den Abgründen des Pessimismus und Negativismus endet.
Der Selbstzweifel ist der gedankliche Vollzug einer tiefersitzenden Angst und Scham, während der Weltzweifel auf eine überindividuelle Ebene abzielt. Er stellt die Wirklichkeit in Frage und möchte sie mit Scham belegen, erwischt dabei aber auch das Selbst, das ja Teil der Wirklichkeit ist. Er stellt also eine komplexere Abwehrform der Scham dar, die im Selbstzweifel unvermittelter zum Ausdruck kommt.
Der Zersplitterung entkommen
Der Zweifel fragmentiert, zerteilt also, was an sich ganz ist. Deshalb zerstört er die ganzheitliche Weltsicht und zerstückelt die Selbstbeziehung. Gerade dort liegen die Auswege aus dem Gefängnis des Zweifels: Die Rückkehr aus dem vergifteten Denken in die direkte Erfahrung dessen, was gerade ist. Was ist, ist da, gleich ob wir daran zweifeln oder nicht. Die Erfahrung ist uns in jedem Moment zugänglich, indem wir z.B. unsere Atmung wahrnehmen oder unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Bereich unseres Körpers richten. Erfahrungen sind immer, innerhalb ihrer Grenzen, ganz, unzerteilt. Wir können nur ganze Katzen oder Bäume sehen, und selbst wenn wir uns auf Teile fokussieren, wie die Augen der Katze oder das Blatt eines Baumes, erkennen wir wiederum diese Teile als Ganzheit.
Die direkte, unmittelbare Wirklichkeitserfahrung ist also die einfachste Kur gegen den Zweifel. Sie kann im Wahrnehmen bestehen, nach innen oder nach außen, oder im fließenden Bewegen, Tanzen und Singen. All das sind einfache körperliche Formen der Selbstvergewisserung und der Verankerung in der Gegenwart, die es braucht, wenn wir aus den Schlingen des Denkens und der damit verbundenen belastenden Gefühlsketten aussteigen wollen.
Zum Weiterlesen:
Der notorische Selbstzweifel
Vom Sinn und Unsinn des Zweifelns
Der Zweifel als Prüfstein für das Ego
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