Sonntag, 25. Februar 2018

Der Bösewicht in uns

Als „böse“ gelten Intentionen und Handlungen, die das Zusammenleben der Menschen erschweren und behindern, weil sie den Eigennutzen über den Gemeinnutzen stellen. Menschliche Gemeinschaften können nur funktionieren, wenn es einen fairen Ausgleich zwischen den individuellen Strebungen und den Bedürfnissen der Gruppe gibt. Diese Balance muss immer wieder hergestellt werden, durch Kommunikation und Diskurs in der Gesellschaft und durch die Instanz des sozialen Gewissens. Böses Handeln ist dann ein solches, das sich gegen dieses Gewissen und damit gegen das Gemeinwohl entscheidet.

Der Psychiater und Verbrechensforscher Reinhard Haller sagt: „Es muss im Menschen so etwas wie einen Moralinstinkt geben. Denn Delikte wie Töten, Vergewaltigen oder Rauben werden zu allen Zeiten, in allen Kulturen als verwerfliche Taten angesehen, die man verhindern und bestrafen muss. Der Mensch weiß das also instinktiv. Tatsächlich beginnt das Böse, glaube ich, an dem Punkt, an dem man den Moralinstinkt überspringt.“ (Interview in der ZEIT)

Was Haller als Moralinstinkt bezeichnet, würde ich das soziale Gewissen nennen, jene Instanz, die wir brauchen, um unsere inneren Impulse mit den Erfordernissen der Gemeinschaft abzustimmen. Das Gewissen macht uns darauf aufmerksam, dass wir Normen und Regeln beachten müssen, aber auch, dass wir den grundlegenden Respekt vor jedem anderen Menschen aufbringen müssen. Mein Eigennutz muss sich immer wieder diesen Werten unterordnen, damit die Gemeinschaft weiter bestehen kann. 


Die Leere nach der Tat


Wie geht es einem Verbrecher nach der Tat? Die Spannung, die mit der Planung der Tat verbunden war, fällt ab, das Ziel ist erreicht, das Böse ist getan. Der Täter fällt in eine Leere, die den Schmerz verdeckt über das, was anderen Menschen angetan wurde. Das soziale Gewissen holt jeden ein, die Strafe ist emotionale Kälte oder noch schlimmer, innere Leere, die durch den Verlust der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entsteht. Die Tat schädigt in ihren Folgen den Täter selbst.


Wenn uns Böses widerfahren ist, sinnen wir auf einen Ausgleich, und das ist die Rache. Indem dem Bösewicht Böses zugefügt wird, soll er seine Bosheit erkennen. Rache ist süß, solange das Opfer leidet. Danach droht auch hier die Leere. Die Bitterkeit zieht ein. Die Leere bedeutet, dass durch die Tat nichts besser wird, sondern dass deutlich wird, dass die Tat durch die Illusion motiviert war, sie könne alles zum Besseren ändern. Der Bankräuber lebt nach der Tat in der Angst, erwischt zu werden, die ihm mehr Kraft kostet als der Mangel an Geld, an dem er möglicherweise vorher gelitten hat. Die Rächerin vermeint, dass das Leiden der anderen Person das eigene Leiden mindert. In Wirklichkeit bessert sich nichts, vielmehr leidet sie zusätzlich an ihrer eigenen Schlechtigkeit und an dem Verlust einer moralisch überlegenen Position gegenüber dem ursprünglichen Täter.


Der Gewöhnungseffekt an das Böse


Menschen verfügen über eine Hemmung vor unmenschlichem Verhalten, ob es nun ein Instinkt ist oder eine verinnerlichte soziale Instanz. Es bedarf einer starken Willensanstrengung oder eines heftigen Affekts, um über diese Schranke hinauszugehen. Viele Erfahrungen belegen allerdings, dass, sobald einmal die Überwindung der Hemmung geschehen ist, das böse Verhalten selbstverständlicher wird. Das soziale Gewissen stumpft ab, wird verdrängt und stillgelegt. Die Skrupel weichen einer asozialen Haltung. Der Täter stellt sich selber außerhalb der menschlichen Gemeinschaft (auch wenn er vielleicht Mitglied einer asozialen Teilgesellschaft ist) und wird zum Außenseiter.

An diesem Punkt kann das verwerfliche Verhalten nur durch eine starke Gegenreaktion der Gesellschaft aufgehalten werden, es müssen Strafen eingesetzt werden, um den sozialen Ausgleich wieder herzustellen und den böse handelnden Menschen mit seinem sozialen Gewissen zu konfrontieren, sodass es im besten Fall zu einer „Re-Sozialisierung“ kommt: Das Individuum, das mit seinem übermäßigen Bestreben nach Eigennutz aus dem sozialen Rahmen ausgeschert ist, bekommt die Chance, wieder einen Platz in der Gemeinschaft einzunehmen, vorausgesetzt der Egoismus wird reduziert und das Gemeinwohl erhält einen höheren Wert. Dazu ist es notwendig, dass dieser Mensch in sich das Böse integriert hat, sodass es nicht mehr als isolierter Teil der Persönlichkeit aktiv werden kann.


Das Böse in uns selbst


Wir alle haben den Wunsch in uns, dass es uns auf Kosten anderer besser geht. Wir alle kennen also das Böse in uns, auch wenn es einfacher ist, es im Außen zu lokalisieren und zu bekämpfen. Wir können unser Leben als Prozess der beständigen Auseinandersetzung zwischen unseren selbstsüchtigen Impulsen und unseren sozialen Orientierungen verstehen. Zu erlernen, bewusst mit diesen Konflikten in uns umzugehen, ist ein wichtiger Schritt zur inneren Freiheit.

Es geht zunächst darum, das Böse in uns zu spüren und anzuerkennen. Dazu müssen wir die Eitelkeit überwinden, die uns sagt, dass wir ja so gut sind oder dass wir das Böse in uns bekämpfen und nicht akzeptieren sollen. Allerdings hat jeder einen Verbrecher in sich, ob er sich offensiv oder verdeckt in unserem Leben äußert. Er ist durch viele Hemmmechanismen gezähmt, die aus unserem sozialen Gewissen und aus unserer Sozialisation stammen. Vermutlich fließen auch noch Prägungen ein, die wir aus der Generationenlinie übernommen haben.

Ein wichtiger Aspekt dieser Hemmungen ist die Angst vor diesen Impulsen und ihrer destruktiven Kraft. Das zerstörerische Potenzial des Bösen führt dazu, dass es verdrängt werden muss. Wollen wir also das Böse in uns erlösen, so müssen wir uns dieser unserer Destruktivität stellen. Es handelt sich um die Emotionen von Wut und Hass, die uns dabei begegnen. Diese Gefühle enthalten eine Menge Kraft und Energie, die wir ins Konstruktive transformieren können, indem wir ihre Destruktivität annehmen und überwinden.

Die Bereitschaft, in die Rolle des zerstörerischen Täters zu schlüpfen und sie als eigenen inneren Teil anzunehmen, verringert die Angst und ermöglicht den inneren Ausgleich zwischen der Opfer- und der Täterrolle. Weil wir erkennen, dass diese Energien Aspekte oder Teile unseres Inneren sind, können wir uns leichter von beiden Rollen desidentifizieren, von der gewohnten und der gefürchteten, der zum Selbstbild passenden und der fremden, angstbesetzten, und beide verlieren an Macht, die eine auf der bewussten und die andere auf der unbewussten Ebene. Im Alltagsverhalten kann keine von beiden mehr so leicht alleine das Kommando übernehmen. Die schwache Komponente, auf der die Opferrolle beruht, und die starke Komponente, die in der Täterrolle erscheint, gleichen einander aus, sodass immer wieder eine gute und kräftige Mitte erreicht werden kann, die balancierte Kraft, die flexibel auf die Umstände reagieren kann: Wenn die Situation vertrauensvoll ist, kann die weichere und nachgiebigere Seite zum Vorschein kommen; wenn die Situation riskanter ist, kann die härtere und durchsetzungsfreudige Seite wirksamer werden.

Der ausbalancierten Persönlichkeit kann kein Täter etwas anhaben, weil er einer klaren abgrenzenden Kraft begegnet. So besteht keine Gefahr, in die Opferrolle abzurutschen. Andererseits weitet sich der Bereich, in dem der soziale Austausch friktionslos und ausgeglichen abläuft, sodass kein Machteinsatz notwendig ist, um die Opferrolle zu vermeiden und keine Selbstverleugnung, um nicht Täter zu werden. Der ausbalancierte Mensch kennt das Böse in sich und erkennt es in anderen, muss diese Destruktivität aber nicht zum Einsatz bringen, weil die in sich ruhende Kraft den Respekt vor jedem anderen erlaubt und den Respekt von jedem anderen erzeugt.


Zum Weiterlesen:
Wut, das herausforderndste Gefühl
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses

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