Freitag, 27. September 2019

Tiefe, eine Dimension des Menschlichen

Es gibt Menschen, die uns durch eine besondere Eigenschaft beeindrucken, die nicht viel mit Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, Kunstfertigkeit oder Spiritualität zu tun hat, sondern mit einer eigentümlichen Qualität des Menschseins im Sinn von Weisheit und reifem Verständnis der menschlichen Seele. Hanzi Freinacht hat sie als „Tiefe“ bezeichnet und beschrieben.

In seinem Buch zur „Listening Society“ hat er eine Erweiterung der Modelle der Bewusstseinsevolution vorgelegt und neue Dimensionen zu deren besserem Verständnis eingeführt. Eine davon, die Entwicklung der kognitiven Kompetenzen nach Commons habe ich im vorangegangenen Blogbeitrag vorgestellt. Wichtig finde ich, dass dieser evolutionäre Ansatz nicht nur äußere Phänomene aus Natur und Kultur zum Verständnis der Wirklichkeit heranzieht, sondern sie immer mit subjektiven Faktoren in Zusammenhang bringt. Es gibt keine objektive Erkenntnis ohne innere, also subjektive Prozesse bei denen, die erkennen.


„Zustände“ und „Tiefe“


Es erscheint mir eine Dimension des Modells von Freinacht besonders interessant. Zunächst unterscheidet er niedrigere und höhere Zustände, in denen sich die Menschen befinden: Mal ist man gut drauf, mal weniger. Manche Menschen grummeln von Tag zu Tag auf emotionaler Sparflamme herum, andere sind immer gut drauf, und noch weniger sind mehr oder weniger permanent in den höheren Sphären der Glückseligkeit. Das ist die Skala der inneren Zustände zwischen Hölle und Himmel, mit vielen Abstufungen dazwischen. Hanzi weist auch darauf hin, dass diese Zustände volatil sind, also sich schnell ändern können, dass aber die meisten Menschen innerhalb einer bestimmten Bandbreite der Stimmungen leben und dass durch Meditation und andere innere Praktiken dauerhaftere höhere Zustände erreicht und aufrechterhalten werden können.

Diese Dimension der Zustände unterscheidet er von der Dimension der Tiefe, die nun im Folgenden genauer geschildert und mit eigenen Gedanken garniert wird.

Unter „Tiefe“ versteht er die Beziehung zur Wirklichkeit als Ganzer, als eine innere Qualität, die häufig mit Weisheit verbunden wird. Es ist die Fähigkeit, die vielen Aspekte des Lebens zu umarmen. Je mehr innere Zustände jemand kennengelernt hat, intuitiv und körperlich, hohe und niedrige, desto mehr Tiefe ist vorhanden. Kennenlernen heißt dabei nicht nur das Durchgeschütteltwerden von heftigen Emotionen oder Lebenskrisen, sondern auch die bewusste Erfahrung im Durchgehen durch solche Prozesse, also eine Form des Verarbeitens. „Tiefe“ Menschen sind demnach nicht solche, die immer gut gelaunt sind und denen zu jeder Situation ein Scherz einfällt, sondern Menschen, die im Lauf ihres Lebens Höhen und Tiefen erlebt haben, die durch Krisen gegangen und gewachsen sind, die das Leben vor Herausforderungen gestellt hat, die gemeistert werden konnten. 

Aufgrund solcher Lebenserfahrungen entwickelt sich eine gründliche Beziehung zu fundamentalen Aspekten der Wirklichkeit im subjektiven Erleben. „Tiefe ist die Anzahl der Zustände, die zu einem untrennbaren Teil von uns geworden sind; integriert in unsere Erinnerungen und in unsere Persönlichkeit.“ (S. 282). Die Spannbreite dieser Dimension umfasst die Agonie, den Zustand der Verzweiflung und Ausweglosigkeit und die Ekstase, das Heraustreten aus allen beschränkenden Gewohnheiten und Feiern des Lebens in der Fülle, sowie alle Facetten zwischen diesen Extremen der menschlichen Existenz. „Tiefe ist die innerste Erkenntnis der Größe und/oder Ernsthaftigkeit der Wirklichkeit.“ (S. 283) Die Entwicklung von Tiefe verändert nachhaltig das Bezogensein auf die Welt und die Existenz als ganzer in der Form eines „implizites Wissens“, mehr Weisheit, die aus dem Erkennen des Moments spricht, als erlerntes Bücherwissen.

Diese Tiefe kann in drei Aspekte gegliedert werden, nach der klassischen Dreiheit des Wahren, Guten und Schönen geht es hier um die Schönheit, das Mysterium (das Wahre) und die Tragödie (das Gute).


Das Schöne


Im Erleben und Erfahren von Schönheit geht es um eine Tiefe in völliger Subjektivität: Schönheit ist immer an das Auge des Betrachters gebunden. Es ist eine Erste-Person-Beziehung zur Wirklichkeit. Der Blick, der sich auf das Schöne richtet, ist auf eine ganz tiefe, einzigartige Weise mit der Wirklichkeit in Kontakt, die bereit ist ihren ganzen Reichtum zu schätzen. Er legt das Individuelle bloß, das in all seinen Varianten und Formen Bewunderung verdient, sobald es der Blick auf das Schöne aus der Gleichförmigkeit der Erscheinungen holt. Dieser Blick ist die höchste Form von Wertschätzung, die möglich ist.

Die Sichtweise der Schönheit offenbart Erkenntnisse über die Wirklichkeit, die eine unschätzbare Qualität zum Menschsein hinzufügen. Sie sieht immer mehr als die Oberfläche, auch wenn es scheinbar nur Oberflächen zu sehen gibt; dieser besondere Blick geht in die Tiefe und erkennt dabei das Ganze im Einzelnen. Ein Bild von Van Gogh oder Picasso, das wir in einem Museum betrachten, kann eine überwältigende Erfahrung sein, wenn wir uns auf die Tiefendimension der Schönheit einlassen.

Nicht nur die Kunst, auch die Natur und das Menschliche – in der Zwischenmenschlichkeit und in der Selbstbegegnung – bieten Zugänge zum Schönen und damit zur Tiefe des Erlebens. Das Leben wäre ohne das Schöne ein Irrtum, um einen Satz von Nietzsche zu paraphrasieren.


Das Wahre


Die Suche nach der Wahrheit führt ins Mysterium. Es gibt eine besondere Erhabenheit in der Begegnung mit der Wirklichkeit, die durch den Willen zum Wissen geschaffen wird – dem Willen, das fundamentale Geheimnis der Wirklichkeit zu entschlüsseln. Das Geheimnis “entbirgt” sich nur dann in seiner Größe, wenn es eine Suche nach Wahrheit um der Wahrheit willen ist. 

Dabei bezieht sich das Ich auf die Realität als unpersönliches „Es“ – als eine dritte Person, als ein Objekt, dessen Sein allerdings auf eine besondere Weise geachtet wird: Es soll nicht primär einem menschlichen Verwendungszweck dienen, sondern soll so erkannt werden, wie es um seiner selbst willen innerlich wirkt. 

Wahrheitssucher brauchen nicht notwendigerweise ein Studium oder eine wissenschaftliche Qualifikation. Denn der Wille zu wissen ist zunächst ein existentielles und spirituelles Unterfangen, an dem jeder Mensch Anteil haben kann. Wissenschaftler und Forscher sind nur Professionisten und Spezialisten in diesem weiten Feld menschlicher Mystik.


Das Gute


Die Frage nach dem Guten konfrontiert uns unweigerlich mit der Tragödie der menschlichen Existenz. Menschliches Leben verläuft nie nach Plan, in irgendwelchen vorausgedachten geregelten Bahnen, sondern es nimmt jeden Tag unvorhersehbare und überraschende, manchmal überfordernde Wendungen. Manchmal haben wir den Eindruck, alles unter Kontrolle und im grünen Bereich zu haben, und dann wirft es uns wieder herum, dass wir nur mit Mühe Halt finden.

Damit kommen wir zur Tatsache des universellen Leidens: „Es gibt eine grundlegende und logischerweise notwendige Gebrochenheit in der Wirklichkeit selbst. … Und bevor du es weißt, fängst du schon an auseinanderzufallen, während du für einen Crashkurs für den Tod angemeldet wirst. All das Blühen, die Kindheit, Liebesbeziehungen und Freundschaften miteingeschlossen, müssen entweder verrotten oder verkümmern, um verlorenzugehen und für immer vergessen zu werden.“ (S. 292) 

Das Leben ist keine Spielerei, es hat eine wesentliche Dimension der Ernsthaftigkeit, die wir nicht wegdiskutieren oder wegmeditieren können. Das ist der Teil der Tragödie, und nach Hanzi erwächst gerade daraus der Impuls zum Handeln aus Mitmenschlichkeit. Aus der klaren Erkenntnis der Tragödie der Existenz folgert er, dass es eine Hingabe an den Primat des „Du“ braucht. Das Du-Sein zeigt sich als eigene Form der Wirklichkeit in der zweiten Person: „Ich bin nichts ohne dich. Ich bin durch dich geboren, und ich muss letztlich im Dienst an dir leben.“

Angesichts des Tragischen also sollen wir in die aktive Nächstenliebe einsteigen, die mit ihrer Arbeit nie an ein Ende gelangen kann, die aber in jedem Akt lohnend und gewinnbringend für den gebenden und empfangenden Teil ist. Wo Tragik ist, soll durch Liebesdienste Glück wachsen, indem das Gute in der Welt gemehrt wird. 

Da würde ich noch hinzufügen: Das Tun des Guten kann auch aus Zuständen der inneren Freiheit fließen, als besondere Form des Selbstausdrucks. Wenn wir frei von Angst sind, sind wir nicht nur nicht gemein zu unseren Mitmenschen, sondern helfen ihnen gerne und mit Freude. 

Freinacht schließt dieses Kapitel seines Buches mit den Sätzen: „Nur ein Gefühl der Tragödie kann uns dazu antrieben, für die Verdammten dieser Erde zu arbeiten: Lieben bis es weh tut. … Nur gebrochene Herzen können die Welt retten.“ (S. 293) Sicher sind es nicht die eindimensionalen Verwalter der Macht, die mit ihren polierten Egos die menschlichen Geschicke in eine konstruktive Richtung lenken können, sondern Menschen mit Tiefe und Reife. Doch bis diese Erkenntnis in die Tiefen der Seelen einer genügend großen Menge von Bürgern und Wählern gesickert ist, wird es wohl noch einige Zeit brauchen.

Hanzi Freinacht: The Listening Society. Metamodern Guide to Politics. Book One. Metamoderna 2017
Übersetzung der Zitate: Wilfried Ehrmann

Zum Weiterlesen:
Metamodernismus - eine Übersicht
Komplexe Themen und komplexes Denken

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