Sonntag, 24. Januar 2021

Der notorische Selbstzweifel

Ich kriege nie einen guten Job, die richtige Freundin, genug Geld. Ich werde es nie schaffen, zufrieden zu sein oder gar glücklich. Ich schneide immer schlechter ab als die anderen. So viel ich mich auch bemühe, ich komme nie über einen Durchschnitt hinaus. Nichts kriege ich auf die Reihe.

So oder so ähnlich klingt der Selbstzweifel, der gerne in Form von Loops seine Kreise im Kopf zieht. In therapeutischen Belangen hört es sich z.B. so an, wenn sich Klienten bei der Therapeutin beschweren:

Ich werde dieses Muster nie los, soviel habe ich schon probiert, immer wieder kommt es. Das schaffe ich nie. Alles, was ich da schon ausprobiert habe, hat nicht geholfen. Ich war schon bei so vielen Therapeuten, aber bin nicht weitergekommen. Ich komme immer wieder zum gleichen Punkt, trotz all der Bemühungen es zu verändern.

Der notorische Selbstzweifel

Zweifel ist eine Angst, die sich ins Denken übersetzt hat, wie schon in einem früheren Artikel beschrieben. Bei wiederkehrenden Selbstzweifeln sind es chronische Ängste, die diese Gedankenschleifen befeuern. Sie machen das Zweifeln zur Gewohnheit, damit sie nicht als Ängste gespürt werden müssen, was noch unangenehmer wäre.

In den Zweifeln vor einem und im Verzweifeln am Weiterkommen im Leben spiegeln sich Kindheitserfahrungen, in denen die Ängste entstanden sind, die sich dann später im Zweifeln kognitiv manifestieren. Eltern haben ihre Zweifel an der Entwicklung ihrer Kinder, vor allem, wenn sie nicht ihren Vorstellungen und Erwartungen gemäß verläuft. Damit bleiben sie den Kindern die emotionale Unterstützung schuldig, das Vertrauen, das die Kindern brauchen, um die eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln. Die Eltern investieren vielleicht viel in Förderung, Zusatzbildung oder Nachhilfe bei ihren Kindern, wenn aber die emotionale Sicherheit fehlt, wird es für ein Kind viel schwieriger, sich zu behaupten und zu entwickeln. Das wiederum führt zur Verstärkung des Zweifels und des Erwartungsdrucks seitens der Eltern.

Solche Themen bilden häufig den Hintergrund von Konflikten, die dann in der Pubertät kulminieren, der Zeit, in der die Jugendlichen ihren Lebensweg selbst in die Hand nehmen wollen. Die Eltern stützen sich auf ihre längere und umfangreichere Lebenserfahrungen, während die Jugendlichen den Eindruck haben, die Alten haben keine Ahnung von der Welt, in der sie leben und auf die sie sich vorbereiten. In diesen Konflikten mischen frühe Prägungen mit, sowohl solche, die die Eltern aus ihrer Kindheit mitgebracht haben, als auch solche, die die Jugendlichen im früheren Alter erlebt haben. Es ist ein gesundes Zeichen, wenn die Jugendlichen in diesem Alter das Eigenrecht auf ihre Entwicklung zurückfordern, Erwartungen, die für sie nicht passen, zurückweisen und den Zweifeln der Eltern keine Gefolgschaft leisten.

Zweifel und Verzweiflung

Verzweiflung tritt auf, wenn der Zweifel nichts mehr fruchtet. Vermutlich kommen alle Eltern zeitweise an solche Punkte mit ihren Kindern: Mein Kind wird nie durchschlafen, reden, sauber werden usw. Sie vergleichen vielleicht mit anderen Kindern in der Bekanntschaft und Verwandtschaft und fürchten, dass das eigene Kind in einem Bereich zurückbleibt und damit eine schlechte Basis für das weitere Leben hat. Solche Zweifel sollten die Eltern für sich behalten und nicht den Kindern vorwerfen. Sie sollten darauf achten, dass sich das Zweifeln nicht in den Vordergrund spielt, sondern dass sie es als Symptom von Überlastung und Erschöpfung verstehen. Stärker muss immer das Vertrauen sein, dass sich alles gut und in seiner Zeit entwickeln wird. Dann wird dem Kind ein Vertrauen vermittelt, das es als Basis für das Weitergehen übernehmen kann.

Wenn die Zweifel allerdings notorisch auftreten und immer wieder mit Verzweiflung angeheizt werden, wenn also massivere Ängste von Seiten der Eltern mitwirken, können sie im Kind als gewohnheitsmäßige Selbstzweifel unbewusst abgespeichert werden. Eltern, bei denen der Zweifel am Wachsen ihrer Kinder das Vertrauen überwiegt, bringen meist ein Misstrauen aus der eigenen Geschichte mit: Ein Misstrauen, das sie sich selber gegenüber aufbringen und das ebenso auf die Kinder gerichtet ist. Sie hatten Eltern, die wenig Vertrauen in sich selbst als Eltern und in das Aufwachsen ihrer Sprösslinge hatten.

In der Folge tritt im Leben der Kinder oft ein Schwanken zwischen Vertrauen und Zweifeln auf, wobei die Zweifel phasenweise selbstquälerische Ausmaße annehmen können, oft in Zusammenhang mit äußeren Krisen oder Misserfolgen. In extremeren Situationen kippt dann leicht der Zweifel in die Verzweiflung und bewirkt unter Umständen Verzweiflungshandlungen oder Verzweiflungsunterlassungen.

Mangel an Geduld

„Wo Geduld und Demut ist, da ist weder Zorn noch Aufregung.“ (Franz von Assisi)

Zweifel werden häufig von Ungeduld angetrieben. Was sich nicht gleich und sofort im gewünschten Sinn verändert, schürt Zweifel an den eigenen Fähigkeiten. Statt an deren Verbesserung zu arbeiten, wählt der Zweifel die Selbstgeißelung, die Selbstbestrafung mittels Selbstabwertung. 

Geduld ist nicht jedermanns Sache, hört man oft. Ist es so, dass die einen mehr davon haben als die anderen? Gibt es also die Geduldigen oder die Ungeduldigen? Wir sind ungeduldig, wenn wir unter Anspannung stehen, wenn wir dringend etwas erledigen müssen, wenn wir unter Druck stehen. Wir glauben, etwas Wichtiges zu versäumen, und schon werden wir ungeduldig. Sobald der Druck abfällt, ist die Ungeduld weg. In der Ungeduld bildet sich die Unzufriedenheit der Eltern mit dem eigenen Werden ab, in der Geduld das Mitgefühl mit sich selbst und mit dem eigenen Entwicklungstempo.

Geduld ist also geprägt von der Abwesenheit von Stress, getragen von Vertrauen und Zuversicht: Alles kommt und geschieht, wenn die Zeit reif ist. Selbstzweifel dagegen entstehen aus Druck und Unruhe und erzeugen wiederum Stress. Geduld streckt die Zeit in die Länge, Zweifel ziehen sie zusammen. Geduld ist langatmig, Zweifeln verleitet zur Kurzatmigkeit.

Selbstzweifel enthalten Lernchancen

Manchmal gelingt es, Selbstzweifel in Veränderungspläne umzumünzen. Das ist der kreative Ausweg aus der Qual des Zweifelns: Nachzuschauen, worauf der Selbstzweifel zielt und sich zu fragen: Was kann ich wie in meinem Leben verbessern, damit ich mit mir zufrieden sein kann? Die Zweifel werden dann zu Orientierungspfeilen, die die Richtung für Lebensveränderungen anzeigen und verlieren ihre krampfhaften und selbstquälerischen Aspekte.

Leben mit Schwächen und Einschränkungen

Was wir uns darüber hinaus immer wieder klarmachen sollten, wenn uns Selbstzweifel beschäftigen: Wir haben nur dieses eine Leben mit seinen vielfältigen Beschränkungen zur Verfügung. Es ist ein Geschenk, das wir ohne jeden Verdienst empfangen haben. Warum sollten wir daran zweifeln? Es sind unsere beschränkten Vorstellungen, die uns vor uns selbst als ungenügend erscheinen lassen. Was wissen wir schon, wie ein „richtiges“ Leben sein soll? Welche Maßstäbe setzen wir uns vor, und von wem stammen sie? Wieso sollten sie für uns gelten? Die Erforschung dieser Fragen geben uns Aufschluss über die Wege aus den selbstschädigenden Gewohnheiten des Selbstzweifelns.

Selbstzweifel gelten nicht nur dem ungenügenden, mangelhaften und scheiternden Selbst, sondern darüber hinaus noch dem Größeren, der Welt. Wir alle sind eine Hervorbringung dieser Welt, entstanden aus dem Füllhorn des Lebens, das sich entfaltet und entwickelt. Das Leben glaubt an uns mit einem bedingungslosen Ja, das uns von Moment zu Moment leben lässt. Stimmen wir uns darauf ein, so sind alle Zweifel weggeblasen.

Wenn wir dagegen an uns zweifeln, zweifeln wir auch an dieser schöpferischen Kraft, der wir alles verdanken und die uns mitsamt unseren Grenzen hervorgebracht hat. Es ist eine Kraft, die weit über unser Begreifen hinausgeht und von unserem Zweifeln nicht erfasst wird. Es ist nur unser begrenztes Begreifen, an dem wir scheitern, wenn wir zweifeln. 

Wie oft müssen wir die Erfahrung machen, dass die Lösung unserer Probleme immer wieder geduldig hinter der Ecke auf uns wartet, während wir lieber in unseren fragenden und irritierten Gedanken kreisen, als den Schritt um die Ecke zu riskieren? Wie viele Möglichkeiten zur Befreiung haben wir schon übersehen, weil wir so in uns selber verfangen waren?

Bescheidenheit und Demut sind Haltungen, mit denen wir unser Sein mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen entwickelten und zurückgebliebenen Seiten, mit seinen Fähigkeiten und Begrenzungen umfangen und gutheißen. Sie führen uns aus dem Selbstzweifel heraus, der nie ganz frei von Anmaßung und Besserwisserei ist. Unsere Grenzen bringen uns nicht in die Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit, sondern weisen uns auf unseres inneres Zentrum hin, auf das Zentrum unserer einzigartigen Individualität. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, finden wir zum Frieden mit uns selbst.

Zum Weiterlesen:
Vom Sinn und Unsinn des Zweifelns
Der Zweifel als Prüfstein für das Ego
Selbstzweifel und Scham

 

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