Sonntag, 17. November 2019

Gier und Selbstzerstörung

„Willst du reich werden? Dann plage dich nicht damit, deine Güter zu vermehren, sondern deine Habgier zu verringern.“ (Epikur)  

Die Gier zählt zu den sieben Lastern im katholischen Christentum und zu den drei Geistesgiften im Buddhismus.  Sie ist von ihrem Wesen her ein ausgelebter Egoismus, dass sie aus der Sicht von Religionen der Mitmenschlichkeit angeprangert werden muss. Die Gier ist asozial: „Ich will nicht teilen, sondern nur für mich haben, viel, möglichst alles.“ Ich will einverleiben, damit ich spüren kann, dass es bei mir ist und damit es sicher bei mir bleibt und ich es nicht verlieren kann. Deshalb ist sie stark im Mund- und Kieferbereich, also im „oralen Segment“ (Wilhelm Reich) beheimatet. 

Wir können die Gier als Abkömmling der Wut verstehen. Aggression hat etwas mit Bemächtigung zu tun und Gier mit der Einverleibung des Bemächtigten. Aggressiv ist auch die Abgrenzung gegen die anderen, die als Konkurrenten um das von der Gier Begehrte erscheinen und notfalls mit Gewalt davon abgehalten werden müssen, etwas von der Beute zu bekommen. Und schließlich geht es auch um eine Selbstaggression: Die Reduktion der eigenen Seele auf die Objekte der Gier und die versteckte Selbstbestrafung, die z.B. in der Fressgier sichtbar wird, mit der sich der Gierige durch die aggressive Selbstschädigung sein eigenes Grab schaufelt.

Die Gier richtet sich üblicherweise auf materielle Dinge: Güter, Nahrung, Drogen, Geld usw. Wir können aber auch nach Erfolg, Macht, Sex, Unterhaltung und Anerkennung gierig sein. Alles, was eine innere Frustration lindern kann, alles, was der Befriedigung eines Bedürfnisses dient, kann zum Objekt der Gier werden.

Der ursprüngliche Sinn der Gier liegt darin, Ressourcen für das eigene Überleben anzuhäufen, damit für Notzeiten vorgesorgt ist. Da wir aber Gier auch dann empfinden können, wenn wir schon genug zum Überleben haben, spielt eine emotionale Prägung mit. Sie bewirkt, dass die Gier krankhaft und zwanghaft werden kann. Diese neurotische Form der Gier hat ihre Wurzeln in unserer frühen Lebensgeschichte und bezieht sich auf eine innere emotionale Leere, die durch die Objekte der Gier gefüllt werden soll. 

Die Gier ist prinzipiell unendlich, es gibt immer noch etwas, was sie nicht hat, auch wenn schon so viel zusammengerafft wurde. Manchmal erschöpft sie sich für kurze Zeit im Konsum des Angehäuften, bis der Hunger aufs Neue erwacht. Darauf bezieht sich der Begriff des Lasters, eine Dauerbelastung für die Seele.

Diese Unerschöpflichkeit der Gier kommt daher, dass sie aus Mängeln der eigenen Kindheit stammt und für Bedürfnisse, die damals nicht erfüllt wurden, herhalten muss, ohne die damals versäumte Befriedigung jemals stillen zu können. Sie will ein kindliches Größenselbst füttern, eine Verdrehung der kindlichen Fantasie, die das riesige Ausmaß der eigenen Hilflosigkeit in sein Gegenteil verkehrt. Das Kind, in seiner großen Not, vermeint, dass ihm als Ausgleich riesige Schätze zustünden, wie es in den Märchen erzählt wird. Deshalb kennt und akzeptiert die Gier keine Grenzen.


Gier und Scham

Die Gier stiftet zu einem sozial schädlichen Verhalten an: Nimm alles für dich, bevor es die anderen kriegen. Da meldet sich die Scham als Gegenstimme. Sie klagt die Sozialverträglichkeit ein und benennt den Egoismus der Gier. Deshalb zeigen wir uns lieber bescheiden und anspruchslos, großzügig und wohltätig als gierig. Denn die Gier ist für uns selber hässlich und beschämend. Also müssen die von der Gier motivierten Taten geheim und unsichtbar bleiben. Alle Spuren sollen verwischt werden. Für gieriges Verhalten bekommen wir keine Anerkennung, sondern ernten eher Verachtung und Abwertung. Wer will schon einen gierigen Menschen zum Freund?

Hier eine Geschichte, die den Zusammenhang von Scham und Gier recht anschaulich verdeutlicht: Es sitzt eine Runde von Personen zum gemeinsamen Abendessen um einen Tisch. Alle haben schon gegessen, und ein Schnitzel ist auf dem Servierteller in der Mitte des Tisches übriggeblieben. Die Gastgeberin fragt, ob nicht jemand das Schnitzel noch essen möchte, doch alle verneinen bescheiden. Plötzlich geht das Licht aus, und ein Schrei ertönt. Das Licht geht wieder an, und auf dem Schnitzel liegt eine Hand, in der die Gabeln der anderen Gäste stecken. 

Solange es hell ist, also solange jeder gesehen wird, zügelt die Scham die Gier. Niemand will das Schnitzel, alle zeigen sich zufrieden und genügsam. Kaum fällt die äußere Kontrolle weg, setzt sich sofort die unverschämte Gier durch. Das ist der heimliche Gang zum Kühlschrank in der Nacht, die versteckte Schnapsflasche, das fette Schwarzgeldkonto auf den Bahamas – die Gier scheut die Öffentlichkeit. Nur der Schamlose lebt seine Gier offen. 

Wir erkennen hier die eminent wichtige soziale Rolle der Scham: Sie hält die Gier in Schach, damit sie nicht überhand nimmt und in der Folge die Gesellschaft in selbstsüchtige Individuen zerfällt, die versuchen, alles auf Kosten der anderen an sich zu raffen. Die Scham zügelt den Egoismus und erinnert daran, wie notwendig die wechselseitige Rücksichtnahme und die Gemeinwohlorientierung sind. 


Frühkindlicher Mangel

Die Panik, zu kurz zu kommen, die die Gier antreibt, stammt aus früh erfahrenen emotionalen Mangelerfahrungen. Sie ist die Quelle für das Überspielen der Schamreaktion, nach dem Motto, dass das Überleben wichtiger ist als eine gute Presse. Es geht um das Zukurzgekommensein bei Zuwendung und Liebe und die durch solche Erfahrungen ausgelösten und durch häufige Wiederholungen chronifizierten Ängste. Solche Ängste können so stark werden, dass sie später über alle möglichen Schranken hinwegschwappen und extreme und exzessive Verhaltensweisen auslösen können: „Ich muss jetzt alles an mich reißen, sonst gehe ich unter“. 

Je größer das emotionale Loch ist, das jemand aus seiner Kindheit mitgenommen hat, und je schwächer die moderierende Einwirkung der Scham ausgeprägt ist, desto hemmungsloser und blinder kann die Gier das Kommando übernehmen. Diese Dynamik kann Menschen dazu bringen, dass sie für die Erreichung ihrer von einer maßlosen Gier ersonnenen Ziele bereit sind, sprichwörtlich über Leichen zu gehen.  

Die innere Leere ist immer die Folge einer missglückten Affektregulation in der Kindheit. Sie führt zur chronifizierten Angst vor dem Mangel, die wiederum die Bereitschaft zur Gier aktiviert und die von der Scham errichteten Hemmungen überwindet. In der Gier äußert sich die Forderung nach einem Ausgleich, nach einer Entschädigung für die erlebten Frustrationen. Manche gierige Menschen verhalten sich aus diesem Grund so ungeniert, weil sie meinen, sie hätten einen Rechtsanspruch auf alle materiellen und immateriellen Güter, auf alle Objekte des Begehrens.

Klarerweise kann die Gier nie zu einer dauerhaften Befriedigung führen, weil sie nach etwas lechzt, was unwiederbringlich versäumt wurde. Die fehlende Mutterliebe kann durch keine Luxusvilla, aber auch durch keinen Liebes- oder Sexpartner ersetzt werden. Deshalb mündet jede Gier in einer tendenziell unendlichen Schleife, sich nie zufrieden geben zu können, sondern immer mehr fordern zu müssen.  

Fürsorgliche Personen, denen es von früh an gelingt, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und angemessen zu erfüllen, legen die Basis für eine solide Selbstzufriedenheit und emotionale Erfüllung. Gelingt es außerdem, das Kind zu einem gut balancierten Schamerleben zu führen, so wird die Ausbildung einer zwanghaften Gier im späteren Leben überflüssig und die Neigung zu exzessivem Verhalten eingedämmt. 

Prägungen der Gier 

Manche Menschen haben eine ausgeprägte Gier nach Geld, andere nach Macht.
Die Geldgier hat ein anonymeres, unpersönlicheres Objekt. Geld ist eine abstrakte Größe, eine Zahl auf einem Kontoauszug. Wenn die Geldmenge am Konto wächst, gibt es niemandem, dem es weggenommen wurde. Die Geldgier kann als Antwort auf eine Form der emotionalen Vernachlässigung verstanden werden, die atmosphärisch gewirkt hat, also nicht an einzelnen traumatisierenden Momenten festgemacht werden kann, sondern sich aus tagtäglichen Missachtungen zusammensetzt. Geld als universal einsetzbares Mittel zur Absicherung gegen jede Art von Bedrohung dient dann als Gegenstand der Anhäufung. Massenhaftes Geld am Konto  verheißt die Sicherheit, nie mehr wieder einen Mangel erleiden zu müssen, der die eigene Kindheit geprägt hat. Die Falle dieser Form der Gier ist offensichtlich: Zahlen können keine Sicherheit garantieren. Eine Klientin, die bei ihrer Scheidung 10 Millionen Euro bekommen hatte und dazu eine stattliche Summe für die fortlaufende Lebensführung, bekam massive Existenzängste, als sich ihr Vermögen im Zug der Finanzkrise um eine Million verringerte. 

Die Gier nach Macht ist anders gestrickt. Sie muss sich mehr der Konkurrenz aussetzen und braucht mehr Aggression, um an ihr Ziel zu kommen. Macht muss anderen weggenommen werden, damit man sie haben kann. Die machtgierige Person braucht einen höheren Grad an Unverschämtheit. Die Machtgier kann als Antwort auf eine direkte Unterdrückung durch eine autoritäre Elternperson verstanden werden, die die Entwicklung der Eigenmacht des Kindes unterbunden oder stark eingeschränkt hat. So dient die Strategie der Machtgier der Sicherstellung der eigenen Autonomie gegenüber der Bedrohung durch andere Menschen. Die Gier soll den Autonomiemangel ausgleichen, der schmerzhaft in der Kindheit erlitten wurde. 

Machtgier und Geldgier stellen zwar unterschiedliche Strategien dar, doch sind sie in der Realität häufig eng miteinander verflochten. Machtgierige Menschen sichern sich die Macht, um in ihrem Schatten Geld anhäufen zu können. Geldgierige Menschen wollen reich werden, weil sie wissen, dass die Macht käuflich ist. Ein Sicherungssystem sichert das jeweils andere, ein Giersystem kurbelt das andere an. Die neurotische Sucht nach Sicherung der Sicherheit potenziert die destruktiven Kreisläufe, die von der Gier angestachelt werden.

In dieser Dynamik gedeiht das weite und hartnäckige Feld der Korruption – Einzelne oder Netzwerke, die sich öffentliche Güter für private Nutzung aneignen. Den Antrieb liefert die Gier, die wiederum von den nagenden Gefühlen des inneren Mangels gefüttert wird.

Alle Gierstrategien dienen einem Ziel, dem Inneren, der Seele Sicherheit zu bieten, eine Sicherheit, die freilich im Außen vergeblich gesucht wird. Das ist die Tragik der Gier und aller von ihr angetriebenen Handlungen: sie führen nie zu mehr Sinn und Glück, vielmehr richten sie großen Schaden in den Seelen der von ihr Getriebenen und im Leben der Betroffenen an. 

Das Missverständnis, im Außen eine Erfüllung zu suchen, die nur im Inneren gefunden werden kann, ist verständlich, denn der Mangel an Zuwendung und Fürsorge, der hinter der Gier steckt, war ursprünglich vom Außen, von den nahestehenden Menschen geschuldet. Die innere Verarmung ist die Folge einer fehlenden Unterstützung durch andere. Dennoch bedeutet Erwachsensein, die Verantwortung für die eigenen Bedürftigkeiten zu tragen. Solange das nicht gelingt, was immer der Fall ist, wenn die Gier aktiv ist, führt das unersättliche innere Kind die Regie und nimmt den Erwachsenen in Geiselhaft. Diese Rollenumkehr  kann in allen Zusammenhängen des erwachsenen Lebens von Liebesbeziehungen bis zu den Staats- und Weltgeschäften zu nichts anderem als zu katastrophalen Auswirkungen führen. 

Gierökonomie und Gierkultur 

Kultur und individuelle Entwicklung wirken immer zusammen. Diese Verflechtung ist besonders auffällig bei der Gier. Seit der Kapitalismus die Regulierung der Güterproduktion übernommen hat, hat die Gier eine riesige Spielwiese erhalten. Das nahezu unendliche Angebot an Dingen, die mit allen Tricks angepriesen werden, konfrontiert mit Glücksversprechen der unterschiedlichsten Art und entfesselt die Bemächtigungsgefühle, die im Inneren der frustrierten Menschen schlummern. Der hemmungslose Konsum wurde im Prozess der Zivilisation aus der Sphäre des Sündhaften und damit der Scham herausgelöst (der Protestantismus hat die Verdammung der Habgier nicht übernommen, sondern im Gegenteil Rechtfertigungen für die kapitalistische Bereicherung eingeführt) und zur Norm erklärt. 

Im Zug der Demokratisierung wurde der Luxus, der vorher den Adelshöfen vorbehalten war, von der breiten Masse eingefordert und in der modernen Konsumwelt und Verbraucherökonomie zur Realität. Gier wird geil. Die Menschen sollen arbeiten, um zu konsumieren. Dem Imperativ des permanenten Wachstums der Wirtschaft steht die unersättliche Gier der Marktteilnehmer nach mehr und noch mehr Gütern zur Seite. Die Räder von Produktion und Konsum sollen sich immer schneller drehen, gemäß dem sich permanent beschleunigenden Rhythmus der Gier, ohne Rücksicht auf Verluste.

Die Gierkultur ist ein Stadium der kulturellen Evolution der Menschheit und zugleich eine Sackgasse. Die Entwicklung der Menschheit auf diesem Planeten kann nur weitergehen, wenn die Gier entscheidend eingedämmt wird, sowohl individuell als auch institutionell. Der Kollaps des Finanzsystems 2008 ist ein Mahnmal für diese Forderung; der immer sichtbarer werdenden Kollaps des Klimasystems ein weiteres Indiz für die destruktive Kraft der Gier und der von ihr gesteuerten Wirtschaft und Kultur. Im Grund sind es kindliche Ängste, zu wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen, die mit dem Treibstoff Gier die Prozesse der überhitzten Güterproduktion und -konsumation in Gang halten – fast lächerliche Ursachen im Vergleich zu den ungeheuren Wirkungen, die dadurch entfesselt werden.

Die hemmungslose Ausbeutung der Natur, und darunter fällt auch die Körperlichkeit der Menschen, spiegelt die Selbstaggression, die in der Gier enthalten ist: Das letztliche Ziel der Gier liegt in der Selbstzerstörung. Das ist eines der frappierndsten Widersprüche der Menschen: Die Gier, mit der wir uns die Unsterblichkeit durch das Anhäufen von Gütern sichern wollen, führt pfeilgerade und schnurstracks in den individuellen und kollektiven Tod.

Die jungen Leute, die sich für Fridays for Future engagieren, haben den Wahnsinn dieses Selbstzerstörungszwangs schon durchschaut und weigern sich, mitzuspielen.

Zum Weiterlesen:
Reich und arm, Demut und Würde
Krankhafter Konsum
Das Giersystem im Kapitalismus
Konsum und Gier
Konsumscham und Schamkonsum

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