Donnerstag, 19. Dezember 2013

Außerkörperliche Erfahrungen und die Leib-Seele-Dualität



Außerkörperliche Erfahrungen (OBE = Out of Body Experience) sind oftmals dokumentiert. Viele Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, aus ihrem Körper herauszutreten und z.B. oberhalb schwebend ihren am Boden liegenden Körper zu betrachten, haben von einem ganz besonderen und herausragenden Gefühl berichtet, als etwas, das sie ihr ganzes Leben nicht mehr vergessen würden.

Aus: Metzinger S. 124
Solche Zustände treten nach Unfällen, epileptischen Anfällen, Operationen oder auch beim Aufwachen in der Nacht oder bei Tagträumen auf. Aber auch Drogen oder Meditationen können zu außerkörperlichen Zuständen führen. Manchmal kommen uns außerkörperliche Erfahrungen beim Einschlafen unter. Untersuchungen haben ergeben, dass zehn Prozent der Menschen (und 25 % der Studenten; bei Cannabiskonsumenten bis zu 50%) im Lauf ihres Lebens solche Erfahrungen machen. 42% der Schizophrenen kennen solche Erfahrungen. Allerdings kommen auch viele OB-Zustände bei gesunden Personen in Alltagssituationen vor.

In Wikipedia ist zu lesen, dass in den meisten von 50 untersuchten Kulturkreisen „die Vorstellung existiert, der Geist oder die Seele könne den Körper verlassen. Auch die Struktur von außerkörperlichen Erfahrungen ähnelt sich weltweit. Allerdings ist die Interpretation dieser Erfahrungen wesentlich vom jeweiligen religiösen Umfeld abhängig.“     

Jeder Mensch kann aber auch ganz einfach die Möglichkeit von außerkörperlichen Erfahrungen nachempfinden. Wir brauchen nur an ein vergangenes Erlebnis denken, z.B. wie wir irgendwann einmal eine Wanderung unternommen haben. In den meisten Fällen wird die Erinnerung so auftreten, dass wir uns von außen, meist leicht von oberhalb wahrnehmen, wie wir da irgendwo dahinspazieren. Wir befinden uns also an einem außerhalb des Körpers gelegenem Beobachtungspunkt und betrachten von dort aus unseren Körper in Bewegung.

Zum Unterschied von einer echten außerkörperlichen Erfahrung haben wir dabei allerdings bei solchen Alltagsszenen das deutliche Bewusstsein, dass es sich um eine Erinnerung handelt und dass wir im gegenwärtigen Moment ganz im Körper sind. Bei echten OB-Erfahrungen ist der Realitätscharakter sehr stark, es besteht also der ganz klare Eindruck, dass es sich nicht um eine Vorstellung oder Erinnerung handelt, sondern um eine reale Erfahrung in der Gegenwart.

Außerkörperliche Erfahrungen und die Seele


Vielen gelten solche Erfahrungen als Beweis für den Dualismus zwischen Leib und Seele. Offensichtlich ist es so, dass Menschen über die Möglichkeit verfügen, dass ihre Seele den Körper verlässt und ihn von außen betrachtet. Also muss diese Seele über eine eigenständige Existenzform verfügen, die ihr ein vom Körper unabhängiges Dasein gestattet. Damit wäre klar, dass sie nach dem körperlichen Tod weiter existieren kann, bzw. vor der Empfängnis an einem anderen Ort gewesen sein kann, von wo aus sie dann z.B. in die befruchtete Eizelle „schlüpft“.

Die menschliche Existenz zwischen Empfängnis und Geburt wäre dann eine duale: Zwei Wesenheiten finden zu einer zusammen, die eine „geistig“ und die andere „materiell“, wobei die geistige von längerer oder ewiger Zeitdauer und die materielle eben auf die Lebenszeit begrenzt wäre. Solche Vorstellungen einer unsterblichen Seele sind auch in den meisten Religionen sowie in esoterischen Kreisen in der einen oder anderen Form maßgeblich.

Wissenschaftliche Forschungen


Inzwischen gibt es umfangreiche Forschungen zum Phänomen der außerkörperlichen Erfahrungen. Eine der für den Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Dualismus wichtigsten Erkenntnis hat sich zufällig ergeben: Bei der Suche nach dem Herd von epileptischen Störungen wurden bei einem Patienten durch die Reizung einer bestimmten Gehirnregion außerkörperliche Erfahrungen ausgelöst.

Es konnten in der Folge bestimmte Gehirnareale lokalisiert werden, die für die Auslösung dieser Zustände maßgeblich sind. Eine jüngere Hypothese aus der Forschung geht dahin, dass zwei Störungen zusammenkommen müssen, um einen außerkörperlichen Erfahrungszustand zu erzeugen: Zwei verschiedene pathologische Bedingungen müssen zusammenkommen, damit ein OBE ausgelöst wird: „Zum einen eine Desintegration auf der Ebene des Selbstmodells, die dadurch entsteht, dass Informationen über den eigenen Körper, die aus dem Tast- und Gesichtssinn sowie aus der propriozeptiven Eigenwahrnehmung stammen, nicht mehr zu einer Ganzheit verbunden werden können. Zum anderen ein Konflikt zwischen dem äußeren, visuellen Raum und dem inneren Bezugsrahmen, der durch vestibuläre Information erzeugt wird.“ (Metzinger, Ego-Tunnel 143) (vestibulär = den Gleichgewichtssinn betreffend)

Die besonderen Glücksgefühle, die bei OBEs auftreten können, werden von der Wissenschaft mit der Ausschüttung von Endorphinen und anderen Botenstoffen erklärt, die in extremen Stresssituationen z.B. bei Unfällen oder Operationen vorkommen.

Wenn wir diese wissenschaftlichen Befunde ernst nehmen, folgt daraus, dass es bei außerkörperlichen Erfahrungen nicht um eine Spaltung zwischen Geist und Körper geht, sondern dass ein Koordinationsproblem innerhalb des Gehirns vorliegt. Solche Erfahrungen sind also (wie alle unsere Erfahrungen) Produktionen des Nervensystems. Das Gehirn ist in der Lage, in sich selbst die Spaltung herbeizuführen, die zu einer Doppelung im Bewusstsein führt - das Ich-Bewusstsein bewegt sich mit dem außerkörperlichen Körper aus dem Körper heraus, während der ursprüngliche Körper als Objekt wahrgenommen wird. Es handelt sich also um eine seltsame und selten auftauchende Erfahrung innerhalb des Gehirns, das in solchen Fällen die als total real erfahrene Illusion erzeugt, als wäre der Körper und damit auch das Bewusstsein außerhalb seiner selbst.

Die Nähe und Verwandtschaft mit traumabedingten dissoziativen Zuständen wurde ebenso dokumentiert. Auch wenn es Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Dissoziation gibt, scheint es doch möglich, dass das Gehirn einen Vorgang bereithält, der in Situationen extremer Bedrohung einen außerkörperlichen Zustand erzeugen kann.

Vermutlich liegt der evolutionäre Sinn solcher Zustände darin, das Bewusstsein von überwältigenden Schmerzerfahrungen abzutrennen und damit zum Überleben unter lebensbedrohlichen Umständen beizutragen. Möglicherweise werden während dieser Abspaltung Ressourcen mobilisiert, die dazu beitragen, dass die Erfahrung anschließend besser bewältigt werden kann. Wenn nun OBEs in Situationen ohne offensichtliche Bedrohung auftreten, kann das entweder ein Wiederbeleben einer früheren traumatischen Situation sein, oder die Reaktion wird durch eine andere Umstände, wie z.B. bei der Epilepsie durch Änderungen im Hirnstrombild, ausgelöst.


Die Tatsache, dass außerkörperliche Erfahrungen in Wirklichkeit Erfahrungen innerhalb des Körpers, also innerhalb des Gehirns sind, das in der Lage ist, eine sehr überzeugende Illusion herzustellen, entzieht den Schlussfolgerungen der Leib-Seele-Dualisten den Boden unter ihren Argumenten.

Umgekehrt ist die Vermutung naheliegend, dass solche Erfahrungen, über die Menschen immer wieder im Lauf der Geschichte berichtet haben, schon in frühester Zeit dazu geführt haben, dass der Glaube an eine vom Körper unabhängige Seele überhaupt entstanden ist und sich bis heute gehalten hat. Da Menschen erlebt haben, dass sie sich mit ihrer „Seele“ aus ihrem Körper herausbewegen können, und überzeugend davon berichtet haben, wurde dieser „Seele“ eine Art dinglicher Existenz unabhängig vom Körper zugesprochen. Nun jedoch, mit dem Vorliegen wissenschaftlicher Befunde, die uns klar vor Augen führen, dass unser Gehirn selber in der Lage ist, solche Vorstellungen mit ihrer ganzen Überzeugungskraft hervorzubringen, müssen wir diese Form des Glaubens aufgeben, wie jene an die so augenfällige „Tatsache“, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Wieder müssen wir ein Stück Entzauberung der Welt hinnehmen.

Was wir mit dem Begriff der „Seele“ machen, steht auf einem anderen Blatt. Wir werden ihn weiter verwenden, weil er uns hilft, vieles verständlich zu machen, was in uns und in anderen abläuft. Außerdem hat er so vielfältige Bedeutungen, dass wir schwerlich auf ihn verzichten können. Stattdessen von  neuronaler Selbstorganisation oder innerem Informationsfluss zu reden, mag für wissenschaftlich denkende Menschen befriedigend sein. Lyrischer angehauchte Gemüter werden sich aller wissenschaftlicher Terminologie zum Trotz immer wieder auf die Schwingungen ihrer „Seele“ und ihres „Gemüts“ einlassen.

Die Verfechter des Leib-Seele-Dualismus müssen sich wohl andere Gründe einfallen lassen, um ihre These zu stützen. Auf phänomenologische Erfahrungen können sie dabei leider nicht mehr zurückgreifen, denn diese sind immer „innerhalb“, also Teile des von unserem Gehirn beständig erzeugten Selbstmodells. Es läuft also immer ein materieller Vorgang ab (Nervenzellen, die aktiv sind), wenn eine solche geistigen Erfahrung gemacht wird, gleich, was ihr erlebter Inhalt ist. Wenn wir also noch so fest davon überzeugt sind, in einer anderen Galaxie unterwegs zu sein, turnen wir in Wirklichkeit nur in einer Ecke unseres Innenbewusstseins herum, das von einer riesigen Menge von feuernden Neuronen hergestellt wird.

Wir können uns weiterhin auch an den Wundern dieser Welt der Selbstmodelle freuen, selbst wenn der Begriff der „Seele“ seine Unschuld verloren hat. Sollte uns der Verlust der Sicherheit, die wir durch den „Besitz“ einer unsterblichen Seele hatten, zu mehr Bescheidenheit und zu mehr Wissen des Nichtwissens verleiten, sollte das nicht unbedingt zu unserem Schaden sein. Was wir wissen können, macht uns reicher und bringt uns in mehr Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, was wir nicht wissen, wird uns immer neugierig machen; was wir nicht wissen können, hilft uns, die Begrenztheit unserer Erkenntnisfähigkeit zu akzeptieren. Bloße Meinungen, Phantasien und Glaubensinhalte, die wir mit Wissen verwechseln, entfernen uns von der Wirklichkeit und von uns selbst.

Literatur:
Thomas Metzinger, Der Ego Tunnel. Berlin: Bloomsbury 2009‎

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