Tribale Stufe
Die Menschen, die auf dieser Bewusstseinsstufe leben, brauchen keinen Begriff der Arbeit, der sie von anderen Tätigkeiten unterscheidet. Alle Aktivitäten spielen eine prinzipiell gleichartige Rolle im umgrenzten Sinnzusammenhang des Stammes. Die Überschaubarkeit in der kleinen Gruppe beinhaltet eine beständige und selbstverständliche soziale Kontrolle.
Wer was macht oder nicht macht, wird von allen bemerkt und anerkannt. So können auch kleinere Abweichung von den Normen, die im Stamm gelten, unmittelbar korrigiert werden.
Jede Person leistet den Beitrag zum Ganzen des Stammes, wie er von einer tradierten Rollenverteilung definiert wird. Ab einem bestimmten Alter gehen die jungen Männer auf die Jagd, ab einem bestimmten Alter fertigen die jungen Frauen bestimmte Gebrauchsgegenstände. Es gibt keine Möglichkeit, sich von diesen Aufgaben abzumelden oder sich ihnen zu entziehen.
Die über Generationen überlieferten Regeln sorgen dafür, dass ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten besteht, in dem sie alle Mitglieder des Stammes wohlfühlen können. Es wird auf individuelle Unterschiede ebenso eingegangen wie auf
Emanzipatorische Stufe
Mit der Einführung neuer Lebensweisen durch die jungsteinzeitliche Revolution kommt es zu einem grundlegenden Wandel im Auseinanderbrechen der Stammeskulturen. Die soziale Differenzierung in Stände wird eingeführt. Je nach Stand werden unterschiedliche Normen in der Arbeitsleistung eingeführt, die auch mit unterschiedlichem sozialem Prestige verknüpft werden. Die obersten Stände werden von manueller Arbeit freigestellt. Damit erhält die Handarbeit zum Unterschied von der Kopfarbeit ein vermindertes Sozialprestige. Zugleich erhöht sich das Ausmaß an Leistung, das erbracht werden muss, denn die manuellen Arbeiter müssen nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen, die selber keine Handarbeit leisten, versorgen.
In diesem Zusammenhang entsteht die Assoziation von Arbeit und Mühsal: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen, heißt der biblische Fluch. Unter Arbeit werden Tätigkeiten verstanden, die geschehen müssen, die also einem Zwang unterliegen. Dieser Zwang gilt unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten, ein jeder muss zu jeder Zeit die geforderte Leistung erbringen. Tut er es nicht, gibt es harte Bestrafungen, die ihn letztlich dazu zwingen.
Die Unterschiede der Stände sind auch durch den Zugang zu arbeitsfreier Zeit gekennzeichnet, der von oben nach unten drastisch abnimmt. Freizeit ist ein Privileg der obersten sozialen Schichten, von allen anderen wird erwartet, dass sie ihre Lebenszeit zum größten Teil der Arbeit widmen.
Im Zusammenhang mit dem Entstehen von Kriegen, also gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Großgruppen von spezialisierten Kämpfern, wird das System der Sklaverei eingeführt. Menschen aus einer besiegten Gegengruppe werden zur Arbeit für die eigenen Zwecke unter Aberkennung ihrer persönlichen Rechte gezwungen. Damit wird es möglich, Menschen als Sachen zu definieren und zu behandeln. In diesem Zusammenhang wir die Arbeit ein dinglicher Begriff, ähnlich wie ihn später die Physik definiert, und die Menschen werden zu Arbeitskräften.
Hierarchische Stufe
Die soziale Differenzierung geht weiter, die soziale Stellung definiert die Arbeit und umgekehrt. Wer am meisten zu arbeiten hat, kommt auch im sozialen Prestige am schlechtesten weg. Je härter die Arbeit, desto größer die Verachtung.
Zwischen den Stufen der Hierarchie gibt es wenig bis gar keine Bewegungsmöglichkeiten. Die Geburt legt den Rahmen für das künftige Lebensschicksal fest, bestimmt das Ausmaß und die Art der Arbeit, die zu erbringen ist, und begrenzt damit die Chancen auf Erfolg und Glück. Der Grad an Zwang, dem eine Person ausgesetzt ist, wird durch die Position in der Hierarchie festgelegt.
Der Großteil der Menschen arbeitet für den Wohlstand einer dünnen Schicht anderer Menschen, ohne selber mehr zu bekommen als das Fristen des Überlebens und ohne Aussicht auf Besserung. (Das ist bis heute außerhalb der Luxusinseln des Reichtums so: Die Näherin in einer Bruchbude in Bangla Desh, die unsere billigen T-Shirts näht, wird für den Rest ihres Lebens nichts anderes mehr machen und froh sein, dass sie wenigstens auf diese Weise ihr Überleben sichern kann).
Die Arbeitshaltung wird verinnerlicht: Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, zu arbeiten, wer sie nicht erfüllt oder erfüllen kann, muss sich schämen. Die Arbeitsscheu gilt als moralischer Makel. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und wer nicht arbeitet, soll sich zusätzlich selber dafür geißeln.
Die freie Verfügung über freie Zeit bleibt eine der Privilegien des Adelsstandes und wird oft in geradezu frivoler Weise zur Schau gestellt. Die Lustgärten der Barockschlösser zeugen noch heute davon. Der Snobismus, wie er insbesondere in der Oberschicht der englischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts zelebriert wurde, kann als besonders skurrile späte Blüte dieser Einstellung gesehen werden, wo es z.B. als nobel gegolten hatte, sich mit Aktivitäten die Zeit zu vertreiben, die möglichst unproduktiv waren. Die Haute Couture produziert aufwändigste Kleider zum Einmal-Getragenwerden.
Materialistische Stufe
Mit der Erfindung der Maschinen und der Betriebsorganisation im Zug des Kapitalismus wird die Verbindung der Stellung in der Hierarchie mit der Arbeitsleistung aufgelöst. Tendenziell entsteht eine einheitliche Klasse von Arbeitern, die die gleiche, vor allem in Zeit gemessene Leistung erbringen sollen. Die Arbeitskräfte werden austauschbar.
Die verinnerlichte Arbeitshaltung, also die Selbstverständlichkeit der Arbeit unter Zwang und Mühe, wird nun zusätzlich vom Rhythmus der Maschinen bestimmt. Deren Unermüdlichkeit gilt nun als Vorbild für die Arbeitskräfte. Sie müssen schauen, es ihnen gleich zu machen, sonst werden sie von ihnen überrollt. Die Ausbeutung durch die Produktionszwänge geht einher mit einer Perfektionierung der Selbstausbeutung. Die Menschen benutzen ihre Körper wie eine Maschine. Es entsteht die Spaltung und Entfremdung zwischen Körper und Geist.
Die Freizeit, die als Ausgleich gewährt wird, steht unter der Notwendigkeit zur Reproduktion der eigenen Arbeitskraft. Eine arbeitsfreie Zeit muss eingeführt werden, weil die Optimierung der Ausbeutung in der Arbeit (an deren Vervollkommnung bis heute fleißig gearbeitet wird) danach strebt, die Energiereserven der arbeitenden Menschen maximal zu konsumieren. Die Menschen sollen in der Arbeit alles hergeben, was sie haben. Sie werden dafür entlohnt und dürfen sich in der Freizeit wieder erholen, indem sie die Produkte konsumieren, die unter den Rahmenbedingungen der entfesselten Wirtschaft immer billiger hergestellt werden.
Die personalistische Stufe
Was in der hierarchischen Stufe noch das Vorrecht einer dünnen Oberschicht war, nämlich die freie Verfügung über freie Zeit, wird in der Zeit des Personalismus zur Forderung für alle. Die Arbeit wird zum Beruf, und es entsteht der Ruf nach der Berufung. Das Arbeiten soll nicht mehr nur dem Überlebenszwang dienen, sondern einen inneren Sinn bekommen. Sie soll die Gaben der eigenen Individualität zum Ausdruck bringen und damit zur Bereicherung des Lebens beitragen. Der Anspruch auf Selbstverwirklichung gilt auch für den Bereich der Arbeit: Im Produkt der Arbeit soll sich ein Aspekt des Selbst darstellen. Die Entfremdung, die in der industriellen Produktion zwischen dem Arbeiter und der hergestellten Sache entsteht, wird kritisiert. An die Stelle der Mechanik sollen Kreativität und Freude am Arbeiten treten. Es kommt zu einer Weideraufwertung der Handarbeit, wenn auch häufig in einem romantischen Kontext. Die Schaffenskraft wird in vielen Bereichen mit der Ästhetik verbunden.
Die Bedürfnisse des Körpers gewinnen an Bedeutung und sollen mit den Arbeitserfordernissen koordiniert werden. Parallel dazu entsteht die Entwicklung, den Körper als eigentlichen Leistungsträger zu formen. Dazu dient der Sport als Freizeitaktivität wie als Beruf.
Die systemische Stufe
Diese Stufe bringt eine Tendenz zur Gleichbewertung von Arbeiten. Soziale Bewertungen und Einstufungen werden abgeschwächt. Von jedem Mitglied der Gesellschaft wird ein Beitrag zu ihr erwartet, wobei zunehmend darauf geachtet wird, dass Menschen ihren Fähigkeiten und Begabungen entsprechende passende Arbeitsbedingungen vorfinden und ausfüllen können. Die Förderung dieser Begabungen beginnt schon früh und zieht sich durch das gesamte Bildungssystem. Damit erhält die Gesellschaft einen konstanten Zufluss an Kreativität.
Neue Formen der Arbeitsorganisation werden entwickelt, um den unterschiedlichen Bedürfnissen einzelner Lebensphasen und Lebensumständen gerechter zu werden. Es gibt im Arbeitsleben flexible Möglichkeiten für Eltern mit Kindern, für jüngere und für ältere Personen, für Kranke und Behinderte.
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Unternehmensführungen orientieren die Ziele an verschiedenen übergreifenden Bereichen, z.B. ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, fairer Handel usw. Die Implementierung solcher Orientierungen wird mit wirtschaftlichen Vorteilen belohnt.
Hierarchien werden von Netzwerken abgelöst. Die Flexibilisierung der Arbeitskraft stellt neue Anforderungen an die Menschen.
Die Menschen verinnerlichen zunehmend eine Haltung des Dienens, die die Vorstellung der Arbeit als Zwang oder Mühsal ablöst. Sie sehen in der eigenen Arbeitsleistung einen unverzichtbaren Beitrag zu einem größeren Ganzen. Das eigene Tun wird an seiner Bedeutung für das soziale Umfeld sowie für die Weltgemeinschaft bemessen, von den kleinen Dingen wie der Mülltrennung bis zur Reflexion der ökologischen und sozialethischen Verträglichkeit des Berufs.
Der zentrale Aspekt der Nachhaltigkeit stellt das individuelle und kollektive Arbeiten in den Zusammenhang mit globalem Fortschritt. Neue Formen des Ausgleichs und neue Normen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit werden gesucht und zunehmend institutionalisiert.
Die holistische Stufe
Jede Tätigkeit ist sinnerfüllend, es gibt keine Wertungsunterschiede mehr zwischen blue- oder white-collars, zwischen Hand und Kopfarbeit. In jedem Tun, ob es für jemand anderen wichtig oder unwichtig erscheint, gilt es, Freude und Erfüllung zu finden. Arbeit dient dazu, das Wohlbefinden zu steigern, das eigene und das der anderen. Mühsal gibt es nur für einen Körper, dessen Kraft sich erschöpfen kann und der seine Zeit für die Rekreation braucht, nicht für den Geist, der in jeder Erfahrung etwas findet, was ihn bereichert und erfüllt.
Die Würde des Menschen ist das Zentrum der Wirtschaft. Die Arbeitsverhältnisse werden an diesen Maßstäben gemessen, sodass alle Formen der Ausbeutung abgeschafft werden müssen. Not, Hunger und Armut werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingedämmt.
Soweit angstbestimmte Gefühle wie Gier, Neid und Konkurrenz als Triebkräfte der Wirtschaft verschwinden, wird die Verteilungsgerechtigkeit und Fairness, an der alle Menschen „guten Willens“ interessiert sind, einen globalen Ausgleich zwischen arm und reich bewirken. Dann wird es möglich, weltweit vergleichbare Maßstäbe für Leistung und Kompensation einzuführen. Die Leistung der Näherin in Bangla Desh wird also nach den gleichen Normen entlohnt wie die Leistung einer Schneiderin in New York.
Vermutlich werden die Unterschiede im Einkommen nie verschwinden, und das ist auch nicht notwendig. Es werden sich aber die Abstände zwischen den Spitzenverdienern und den Habenichtsen drastisch verringern.
Für ein menschenwürdiges Leben zu sorgen, wird zum Anliegen von allen Menschen. Da das Bewusstsein der Einen Menschheit in jedem Menschen immer tiefer verankert wird, weil die Angstgefühle, die uns davon abhalten, aufgelöst werden, fällt es immer mehr Menschen leichter, aus ihrem Überfluss zu teilen. Schließlich wird diese Haltung des Gebens von dem, was in der Fülle da ist, zur Selbstverständlichkeit.
Das Konzept der sieben Stufen der Bewusstseinsentwicklung präsent zu haben in Gesellschaft, Bildung, Politik, Wirtschaft, es bewusst als Basis der Entscheidungsbildung zu nutzen, könnte neue Zielsetzungen ermöglichen, die zu positiven Erneuerungen führten.
AntwortenLöschenDoch das wäre ja leider von diversen Lobbyisten nicht erwünscht. So bleibt nicht sehr viel mehr möglich als abzuwarten und zu beobachten, wie sich das Bewusstsein - dann allerdings über einen sehr viel längeren Zeitraum hinweg - selbst den Weg bahnt zur nächsten Stufe; vermutlich durch viele leidvolle Erfahrungen für die Menschheit.
Meines Erachtens geht es auf einer tief existentiellen Ebene, und zwar durch alle Stufen hindurch, nur immer um das Eine: Die Sinnsuche, die sich allerdings am Anfang noch auf einer sehr lebenspraktischen Ebene (tribale Stufe) äußert:
Das menschliche Wesen spürt von vornherein Unsicherheit und Haltlosigkeit in dieser Welt, die unvorhersehbar und unkontrollierbar ist.
Der Mensch ist bzgl. seiner Existenz irritiert und versteht sein Sein zwischen Geburt und Tod in diesem "Umfeld" nicht. Er versucht, zunächst einmal in der Gemeinschaft Sicherheit und Halt zu finden und in Folge durch Festlegen von Regeln.
Es entwickeln sich dann nach und nach spirituell/religiöse und philosophische Vorstellungen, die das Sicherheitsgefühl verstärken und die Welt erklären sollen. Denn der Mensch macht die Erfahrung, dass auch die Gemeinschaft verletzlich ist.
Weitergehend versucht er dann, die unbegreifliche, unter Umstände ein Gefühl der Leere erzeugende Lebenszeit "sinnvoll" auszufüllen, wobei 'Sinn' sehr individuell definiert werden kann ( z.B. auch Kriege zu führen oder das Bemühen um den Lebensunterhalt durch Maschinen zu erleichtern).
Das Tätigsein in welcher Form auch immer, erzeugt ein Sinnempfinden, das es ihm ermöglicht, die tief sitzende existenzielle Angst zu verdrängen.
Eine andere Möglichkeit - die meist erst im Alter durch Abbau der körperlichen Kräfte möglich wird - ist, sich in Demut dem Stillhalten hinzugeben und alles so anzunehmen wie es ist, auch den kommenden Tod.
Spätestens hier taucht jedoch meist eine - eventuell kaum bewusst wahrnehmbare - Hoffnung auf ein transzendentes Sein und damit auf einen transzendenten Sinn auf, die das Stillhalten ermöglicht und die Sinnsuche im Tätigsein ersetzt.
Zur holistischen Stufe gehört für mich demnach auch, ganz deutlich um den existentiell ausgesprochen wichtigen Aspekt der Sinnausrichtung des Menschen zu wissen. Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Lebensgestaltung des Einzelnen und der Gemeinschaft als wir es bisher gewohnt sind. Es wird eine Tür geöffnet zur Transzendierung der rein materiellen Ausrichtung der Menschheit.
Ich danke für die wertvollen Ergänzungen und Erweiterungen.
LöschenIch finde, dass sich auch das Verhalten zur Welt im Lauf der Evolution des Bewusstseins ändert. Ob es von Anfang an durch Irritation oder Haltlosigkeit geprägt ist, scheint mir nicht so selbstverständlich. Sicher gibt es auf jeder Stufe Bedrohungssituationen und Formen der Traumatisierung, die solche Phänomene hervorrufen. Ich glaube auch, dass sie für die Ausbildung von transzendenten Sinnsystemen zuständig sind. Allerdings glaube ich nicht, dass sie zur Bildung von Gemeinschaften motivieren, sondern dass es für Menschen gar keine Alternative gibt zum Sein-in-Gemeinschaft. Wir werden in Gemeinschaften hineingeboren, mit all den kommunikativen Fähigkeiten, die wir brauchen, um uns in der Gemeinschaft sicher und geborgen fühlen zu können. Erst wenn auf diese Angebote nicht adäquat reagiert wird, entsteht Unsicherheit und Verwirrung. Ich denke, dass frühe Gesellschaften eine hohe Kompetenz darin hatten, emotional tragfähige Grundlagen in früher Kindheit zu legen, dass damit ein stärkerer innerer Halt entstanden ist, als in späteren Stufen, in denen die Individuen immer stärkeren anonymen Rollenerwartungen unterworfen wurden. Der dadurch aufgebaute Druck, der durch alle Ebenen der Erziehung bis in die frühesten Phasen reicht, ist m.E. hauptverantwortlich für die Verunsicherungen und Sinndefizite.
Mensch sein basiert auf Gemeinschaft, schon allein durch die Weise seiner Fortpflanzung. Dass es hier keine Alternative gibt, sehe ich auch so.
LöschenMeine Frage geht noch ein Stück weiter zurück: Was geschieht bei der Geburt? Hier wird das Kind aus einer relativen Sicherheit und Geborgenheit (relativ, da das Leben der Mutter in keinem Moment absolut sicher ist) hinausgestoßen in eine befremdliche Welt.
Es erlebt schockartig Druck, Kälte, grelles Licht. Es muss sich dieser Situation fügen. Wieviel Angst entsteht in diesem Moment? Wieviel existentielle Angst entsteht bei der ersten Frustration der Bedürfnisbefriedigung? Bei der Erfahrung, ein von der Mutter getrenntes Wesen zu sein?
Hier beginnt für mich bereits die grundlegende Irritation.
Wird diese Schocksituation adäquat aufgefangen, versinkt die existentielle Angst erst einmal im Unbewussten, bleibt dort aber tief verankert. Es entwickelt sich ein Vertrauen trotz des Erlebten.
Dennoch tun Kinder alles, um die Fürsorge und Liebe der Eltern nicht zu verlieren, bis dahin, schlimmste Zustände zu ertragen.
Das Leben bietet später auch sonst noch genügend Situationen, die Erinnerung an die grundlegend existentielle Angst wieder zu aktivieren. Die Erinnerung signalisiert die Bedrohtheit und Unsicherheit des Lebens. Hier wirkt Sinnsuche stabilisierend.
(In den frühen Gesellschaften reichte vermutlich bereit ein Gewitter, sodass bald die Bannung der Gefahr durch rituelle und bildhafte Darstellungen erfolgte = für mich der allererste Versuch, die Welt zu verstehen und somit den Samen für Sinnsuche zu legen).
Was den größeren Gemeinschaftsrahmen in puncto Sicherheit anbetrifft, denke ich an das sich Zusammenschließen von Familien zu Gruppen, im weiteren Verlauf zu Dörfern und befestigten Burgen und Städten. Um sich einerseits vor äußeren Angriffen zu schützen, andererseits, um sich in der Lebensbewältigung gegenseitig zu unterstützen. Das ist der offensichtliche Sinn von größeren Zusammenschlüssen. Die Existenzangst wird dadurch gemindert.
Die sich aber dann entwickelnde Anonymisierung in der Gesellschaft der heutigen Zeit trägt meines Erachtens in hohem Maße dazu bei, auf unbewusster Ebene dieses primäre Angsterlebnis wieder zu aktivieren und auf bewusster Ebene vermehrt die Sinnfrage herauszufordern.
Über alle individuellen und situationsbedingten Sinnmöglichkeiten hinweg - und dazu zähle ich auch zu arbeiten - stellt sich dann nämlich grundsätzlich die Frage:"Was hat es mit dieser Welt auf sich? Was suche ich hier?"
Ich denke, dass die Geburt ein herausragendes Ereignis in jeder Lebensgeschichte ist,nicht umsonst hat schon Otto Rank den Begriff des Geburtstraumas geprägt, heute wissen wir noch viel mehr darüber. Ich bin der Meinung, dass es für die emotionale Gesundheit in unseren Gesellschaften ganz wichtig ist, dass die Menschen ihre Geburtserfahrungen aufgearbeitet haben, um nicht die Schädigungen, die sie dabei erlitten haben, aus dem Unbewussten heraus auf anderen abzulassen.
LöschenEs gibt m.E. allerdings schon vor der Geburt viele andere Möglichkeiten für Traumatisierungen und Störungen, auch in der Vertrauensbeziehung zur Mutter, z.B. Abtreibungsversuche oder -überlegungen.
Der andere wichtige Punkt ist, dass schwer belastende Erfahrungen, wenn sie in einer liebevollen und unterstützenden Umgebung aufgefangen werden, wie sie m.E. viele Stammesgesellschaften bieten konnten, gut integriert werden können. Wie wir auch wissen, erwachst aus schwierigen Situationen, die gut bewältigt werden konnten, eine besondere Kraft.
Ich kann dem auch zustimmen, dass die besonderen Ängste, die unsere anonymisierte Gesellschaft prägen, zu einer verstärkten Sinnsuche führt, allein das breite Angebote an diversen Ratgebern in jeder Bahnhofsbuchhandlung zeugt davon. Viele dieser Angebote sind allerdings durchtränkt von eben dieser Anonymisierung, sodass sie aus einer Position der Unverbindlichkeit verbindliche Sinnangebote propagieren.
Die Sinnsuche hat dann etwas Paradoxes an sich - auf der Ebene der relativen Wahrheit ist sie komplex und braucht Querbezüge zu allen weiterentwickelten Formen des Wissens, auf der Ebene der absoluten Wahrheit ist sie immer schon am Ziel und ganz einfach.
Lieber Wilfried,
Löschenich danke dir für deine nochmalige Antwort. Auch wenn der Rahmen eines Bogs nicht ausreicht für einen umfassenden Austausch, so bietet er doch die Möglichkeit, die eigenen Gedanken zu vertiefen oder zu prüfen. Danke für deine anregenden Beiträge.
Liebe Grüße
Ruth