Aus einer systemischen Sicht, die sich auf die systemisch operierenden Wissenschaften und auf die integrale Ethik bezieht, gibt es zwei Argumente für die Corona-Impfung. Erstens: Sie stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Schutz vor schweren Verläufen dar und schränkt die Gefahr, Viren weiterzugeben, stark ein. Außerdem wird dadurch das Risiko vermindert, dass sich Mutationen bilden. Sie hat also einen subjektiven und einen sozialen Nutzen. Die Nebenwirkungen, die auftreten können, sind statistisch gesehen gering, und damit überwiegen die Vorteile bei weitem die Nachteile. Das ist die Botschaft der Wissenschaft – wenn auch nicht aller Wissenschaftler und Leute, die in diesem Feld publizieren. Ich beziehe mich in dieser Argumentation auf das Modell der Bewusstseinsevolution aus meinem Buch „Vom Mut zu wachsen“.
Zweitens: Geimpfte tragen mehr zur Eindämmung der Pandemie bei als Ungeimpfte; sich nicht impfen zu lassen, trägt nichts zur Eindämmung bei, sondern fördert die weitere Verbreitung des Virus und verlängert die Krisensituation. Da die Pandemie weiterhin viel Leid und viele Todesfälle bewirkt, besteht die ethische Pflicht darin, das zu tun, was die Not wendet, und dazu gibt es nach allen vorliegenden Daten vor allem die Möglichkeit der Impfung. Ungeimpfte, die diesen Schritt nicht vollziehen, tragen damit eine höhere ethische Mitverantwortung für die Opfer der Pandemie als die, die sich trotz des Risikos von Nebenwirkungen impfen lassen. Mit jedem Tag, an dem sich jemand nicht impfen lässt, steigt die Mitverantwortung für das Weiterwachsen der Ansteckungen und der damit verbundenen Auswirkungen. (Ausgenommen sind natürlich jene wenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen.) Auf dieses zweite Argument gehe ich in einem weiteren Artikel noch ein.
Wissenschaftliche Erkenntnis und Einzelbefunde
Auch wenn dieser Befund vielen nicht gefallen wird, müssen erst stichhaltige Gegenargumente gefunden werden. Das Wissenschaftsargument kann nicht mit Einzelerfahrungen ausgehebelt werden, nach dem Schema: “Ich kenne jemanden, der … hatte einen schweren Impfschaden oder der ist mit zwei Impfungen auf die Intensivstation gekommen.” Es gelten auch nicht Einzelmeinungen von selbsternannten Oberexperten, die sich als Wissenschaftler bezeichnen, während sie sich gegen “die” Wissenschaft stellen. Es sind Personen, die oft mit dem Habitus auftreten, “die” Wahrheit erkannt zu haben und damit die Blindheit der Masse – in den Wissenschaften, in den Medien und in der Gesellschaft – durchleuchten. Sie wollen alles besser gewusst haben und sind oft nicht einmal dialogfähig.
Menschen, die solchen Propheten nachlaufen, haben offenbar den Charakter der Wissenschaft nicht verstanden. Sie besteht nicht aus einer Summe von Einzelmeinungen, hervorgebracht von fehlbaren Einzelpersonen, und erschafft ein Feld von widersprüchlichen Botschaften, aus dem sich jeder herauspicken kann, was gefällt oder die eigenen Vorurteile bestätigt. Vielmehr beruht die Wissenschaft auf Ergebnissen, die aus dem Zusammenwirken – je nach Themenbereichen – von dutzenden, hunderten und tausenden Forschern entstehen. Da die Corona-Frage zu den zentralen Themen der Gegenwart zählt, geht die in diesem Feld arbeitenden Forscher und Forscherinnen wohl in die Zehntausende. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind nicht beliebig wie das, was eine Einzelperson mit medialer Unterstützung als Wahrheit kundtut und als wissenschaftlich anpreist. Wissenschaftliche Ergebnisse werden laufend weiterevaluiert und nach dem Falsifizierungsprinzip weiterentwickelt. Wissenschaftler können nie von letztgültigen oder absoluten Wahrheiten reden; wenn sie das tun, reden sie nicht als Wissenschaftler.
Die Selbstkritik in den Wissenschaften geht so weit, dass es schon lange die Disziplin der wissenschaftlichen Wissenschaftskritik gibt. Die Erkenntniskritik, die in der Philosophie beheimatet ist, sorgt für die Klärung der Grundlagen der Wissenschaften und ihrer Geltungsansprüche. Was die Erkenntnis der Wirklichkeit anbetrifft, haben wir keine bessere Vorgehensweise als die wissenschaftliche. Sie führt uns also am nächsten an die von den Subjekten unabhängige Wirklichkeit heran. Alle, die heute gegen die Wissenschaft wettern, tun das mit den Mitteln und auf Grundlagen, die die Wissenschaft entwickelt hat. Die aktuelle Wissenschaftsskepsis zumindest in den Medien beruht auf erfolgreichen wissenschaftlichen Forschungen. Und sie gründet auf den Errungenschaften der Aufklärung, die immer wieder zur Kritik und Überprüfung von herrschenden Meinungen auffordert.
Der Personalisierung der Wissenschaft
Wir können die Wissenschaft und ihre Form der Wahrheitsfindung nur verstehen, wenn wir uns auf der systemischen Bewusstseinsstufe befinden. Solange wir wissenschaftliche Erkenntnisse personalisieren, also einzelnen Personen zurechnen, haben wir nicht voll verstanden, worum es in der Wissenschaft geht und wie sie funktioniert. Das Misstrauen in die Wissenschaft kommt aus dem Misstrauen gegenüber der Fehlerhaftigkeit von Personen. Wir wissen alle, dass Menschen fehleranfällig reagieren und manchmal von “niedrigen” Antrieben gesteuert und korrumpierbar sind. Das hat aber nichts mit der Wissenschaft zu tun, die ausgefeilte Mechanismen der Selbstreinigung enthält, durch die die individuelle Fehleranfälligkeit und Korrumpierbarkeit einzelner Forscher ausgeglichen wird.
Aus systemischer Sicht haben Fehler eine andere Wertigkeit, sie gelten als Chance und Anlass für Verbesserungen. Aus personalistischer Sicht allerdings bedrohen die Fehler anderer Menschen die eigene Integrität und das eigene Weiterkommen. Fehler werden deshalb auf dieser Stufe moralisiert und Personen dafür angeklagt. Die Wissenschaftsskepsis, die oft mit der Impfverweigerung einhergeht, hat in der Fixierung auf die personalistische Sichtweise ihre Ursprünge, also auf der Weigerung oder Unfähigkeit, die eigene Sichtweise systemisch zu erweitern und zu differenzieren.
Wird das personalistische Bewusstsein absolut gesetzt, also als der Weisheit letzter Schluss angesehen, so ist es möglich, die scientific community, also die weltweiten selbstkorrektiven Netzwerke der Forscher, in der eigenen Fantasie in eine Summe von Einzelpersonen aufzulösen. Dann fällt es leicht, die Wissenschaftler allesamt unter Generalverdacht zu stellen und sie als potenziell käuflich und den Mächtigen gegenüber willfährig darzustellen. Die eigene Korrumpierbarkeit wird auf den anonymen Bereich der Forschung projiziert, sodass die Ergebnisse, die aus diesem Bereich kommen, pauschal für wertlos oder sogar gefährlich erklärt werden können.
Verschwörungstheorien und die Väter
Geglaubt wird nur dort, wo positive Vaterprojektionen ihren Anker finden: Bei Figuren, die den trotzigen Widerstand gegen den Mainstream, gegen das Herdenbewusstsein, gegen die verbreitete Blindheit verkörpern: Menschen, die sich als Aufdecker der Machenschaften aller unredlichen und unanständigen Geister präsentieren, Helden, die scheinbar mutig gegen den Strom schwimmen und das Ruder dieser Welt, die auf Abgründe zusteuert, herumreißen. Das Strickmuster ist aus jedem James-Bond-Film und vielen anderen Blockbustern bekannt und vertraut.
Oft paart sich die Wissenschaftsablehnung mit dem Glauben an verschwörerische dunkle Hintergrundgestalten, die die Geschicke der Menschheit in Händen halten und nach Belieben in die eine oder andere Richtung lenken. Auffällig dabei ist, dass es sich dabei immer um Männer handelt, aktuell z.B. George Soros oder Bill Gates. Auch bei den “Bilderbergern” sind m.W. nur Männer vertreten. Frauen sind mir in diesen Zusammenhängen nie aufgefallen.
Wir haben es offensichtlich psychologisch mit der Dynamik zwischen dem guten Vater (dem Helden, der dem Guten gegen das Böse zum Durchbruch verhilft, zumindest kurzfristig, bis die nächste Folge der Serie kommt) und dem bösen Vater, der immer wieder für tödliche Bedrohungen sorgt. Der böse Vater muss umgebracht werden, nur so kann die Gefahr gebannt werden. Und dazu müssen wir den guten Vater stärken, also dem Helden folgen, der durch seine immensen Körperkräfte und seinen einzigartigen Durchblick die Erlösung aus jeder aussichtslosen Lage schaffen kann.
In der Ausweglosigkeit, in der sich viele Menschen angesichts der Pandemie und der drohenden Impfpflicht sehen, bieten solche Projektionen eine willkommene Möglichkeit zur scheinbaren Klärung: Die Guten und die Bösen werden auseinandersortiert, die eigene Opferposition wird klar und die Retter müssen unterstützt werden. Es gibt wieder Handlungsoptionen, z.B. durch das Demonstrieren gegen die personalisierten oder die anonymen Täter, darunter der böse Vater-Staat.
Möglicherweise sind also personalisierte Verschwörungstheorien eine Auswirkung der "vaterlosen Gesellschaft", eine Folge der Abwesenheit der Väter im eigenen Aufwachsen, woraus sich ein weites Spielfeld von positiven und negativen Projektionen öffnet. Dabei spielen die Angst vor dem Bösen und die Sehnsucht nach dem Gutem im Vater die treibende Rolle.
Erst die Bewusstmachung dieser Dynamiken erlaubt es, die vermeintlichen Verschwörungen als Spiel der eigenen Fantasie aufzudecken und im eigenen Inneren zu entmachten. Der Blick auf die Realität wird wieder frei, Vorurteile können überprüft und Verschwörungsmythen entlarvt werden.
Auch bei denen, die sich impfen lassen, können Projektionen eine Rolle spielen. Sie wollen z.B. dem guten Vater-Staat Folge leisten und brave Untertanen sein, indem sie vorbildlich die Vorschriften und Empfehlungen einhalten. Dann können sie den anderen, den “schlimmen Geschwistern”, den Spiegel vorhalten und sich über deren Ungehorsam empören. Solange solche Projektionen die tragende Rolle spielen, erinnern die entsprechenden Debatten an Sandkistenrivalitäten. Jeder zeigt mit dem mahnenden und besserwisserischen Zeigefinger auf den anderen, um ihn anzuschwärzen oder auszurichten.
Von Projektionen befreien
Menschen sind immer von unterschiedlichen und oft widerstrebenden Motiven beherrscht. Viele von ihnen sind unbewusst. Viele von ihnen stammen aus der eigenen Lebensgeschichte und deren frühen Prägungen. Viele werden durch Einflüsse von anderen Menschen und über Medien erzeugt oder verstärkt. Das Thema der Corona-Impfung hat aus verschiedenen Gründen eine massive emotionale Rolle im Innenleben vieler Menschen bekommen, sodass sich ganze Parteien bilden, die sich nur diesem Anliegen widmen. Wir kommen als Einzelne und als Gesellschaft nur weiter, wenn wir möglichst viel Licht und Bewusstheit in diese Motive bringen und ihre Wurzeln und Quellen erforschen. Dann können wir besser unsere Wirklichkeitssicht weiten und unsere Verantwortung für uns und für die Gesellschaft wahrnehmen. Dann können wir umfassender zu unseren Entscheidungen stehen.
Zum Weiterlesen:
Aufklärung in Zeiten einer Pandemie
Von der Angst zur Ethik
Die Ursprünge der Opferrolle
Krisenängste und ihr Jenseits
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