Der Kapitalismus hat Wohlstandsgesellschaften mit
einem nie vorher dagewesenen Ausmaß an Luxus hervorgebracht. Viele Menschen auf
der Erde haben genug zu einem ausreichend guten Leben, immer weniger Menschen
hungern oder vegetieren am Existenzminimum. Natürlich ist jeder Mensch, der
hungert, einer zu viel und natürlich sollte dem abgeholfen werden.
Andererseits hat der Kapitalismus einem Menschenbild zum
Durchbruch verholfen, das die menschliche Leistungskraft in das Zentrum stellt,
dem alles andere untergeordnet wird. Der Wert eines Menschen bemisst sich nach
seinem Beitrag zum Wirtschaftssystem. Dementsprechend soll der Wohlstand
gestaffelt werden, zumindest in der Ideologie. Darum gilt als tüchtig, wer
reich ist. Und wer es nicht zum Reichtum schafft, hat zu wenig geleistet und
zählt weniger als Mensch.
Die Spannbreite der Wirkung des Kapitalismus auf die Menschen
reicht von primitiven Emotionen bis zu mentalen Konstruktionen und Fiktionen. Das trägt zur Macht und Durchsetzungskraft dieses Systems bei, das die ganze Menschheit in Bann gezogen hat.
Die Erzählung des Kapitalismus
Die Hauptfiktion im ideologischen Modell des Kapitalismus liegt darin: Der Mensch sei ein Einzelkämpfer. Die Ideologie ist eine Folge des Kapitalismus mit seiner erodierenden Wirkung auf solidarische Sozialformen und dient zugleich zu seiner ideologischen Rechtfertigung. Das Soziale am Menschen ist in diesem Modell sekundär und fragil, ein Luxusprodukt, das in Extremsituationen außer Kraft gesetzt wird, und der Kapitalismus ist so beschaffen, dass er fortwährend Extremsituationen produziert und damit die Solidarität außer Kraft setzt.
Das Prinzip der Zahl besagt, dass alles ins Unendliche
weiter wachsen kann. Der Kapitalismus macht daraus: Es muss alles weiter
wachsen. Die Zahlenreihen sind endlos, und dieses Prinzip, auf die Wirklichkeit
der Ökonomie übertragen bewirkt den Wachstumsmotor: Es muss immer mehr
produziert werden.
Auf die Natur bezogen, der das Prinzip der Zahl fremd ist,
bedeutet diese Dynamik eine zunehmende Ausbeutung der globalen Ressourcen, die
Hauptursache für den gefährlichen Klimawandel.
Das Prinzip der Zahl passt zur Gier. Sie will immer mehr und
kann sich nie zufrieden geben mit dem, was ist. Ist der Hunger kurzfristig
gestillt, gibt es nur eine Verschnaufpause. Kaum meldet sich ein Bedürfnis,
kommt die Gierdynamik wieder in Gang und fordert noch mehr als vorher. Wäre der
Mensch nicht sterblich, würde die Gier bis in alle Ewigkeit weiterwirken.
Nietzsche meinte, dass die Lust Ewigkeit will, aber vermutlich ist es die Gier
hinter der Lust, die kein Ende finden und akzeptieren kann.
Diese Unersättlichkeit passt zum Kapitalismus. Die
Zufriedenheit ist der Tod der Wachstumsmaschine, deshalb macht dieses
Wirtschaftssystem alles, damit die Menschen unzufrieden bleiben und nie zur
Ruhe kommen. Sie können nicht genug Waren haben, sondern müssen sich beständig
Neues leisten. Die Langlebigkeit von Produkten war einst ein Qualitätsmerkmal
und wurde offensichtlich sukzessive durch die Obsoleszenz
ersetzt, durch die geplante Funktionsuntüchtigkeit von Geräten nach Ablauf der
Garantiefrist. Ich besitze ein Nokia-Handy, das seit 18 Jahren seinen Dienst
tut, und ein Samsung-Tablet, das nach zweieinhalb Jahren aufgegeben hat –
Reparatur erwartbar teurer als eine Neuanschaffung.
Man könnte den Kapitalismus als ein
System der fortlaufenden Erzeugung von Unzufriedenheit bezeichnen. Paradoxerweise
arbeitet er mit Zufriedenheitsversprechen , so als könnte der Besitz eines
neuen Produkts der Seele endlich Frieden geben, aber jeder Mensch weiß
eigentlich, dass Dinge keinen Frieden schenken können, und dennoch vergessen
wir es immer wieder, verlockt von den glitzernden Angeboten in den hell
erleuchteten Schaufenstern.
Ein Beispiel: Die Gier in den sozialen Medien
Gefunden auf Facebook ;-): Unlängst hat der belgische Politiker Guy Verhofstadt auf eine Instrumentalisierung des Kapitalismusprinzips der Zahl hingewiesen: In einer Rede hat der Chef von Facebook, Mark Zuckerberg die eigene Medienpolitik mit der Beschwörung der Meinungsfreiheit gerechtfertigt. Staatliche Kontrollen der Veröffentlichungen im Medium, um z.B. demokratiefeindliche, faschistische, hetzerische und gefakte Nachrichten zu unterbinden, würden die Meinungsvielfalt einschränken und damit ein menschliches Grundrecht verletzen. Verhofstadt weist dagegen nach, dass es Zuckerberg nicht um das Grundrecht auf Meinungsfreiheit geht, sondern um das Prinzip der Zahl: Je mehr Klicks produziert werden, desto höher sind die Werbeeinnahmen. Jede Beschränkung der Inhalte durch eine politische Kontrolle im Sinn der Stärkung der Demokratie reduziert den Verkehr im sozialen Medium und verringert den Börsenwert des Unternehmens. Darin spiegelt sich das Prinzip der Gier im Kapitalismus – und die Perfidie seiner Vertreter, die zu Verschleierung ihrer Gewinninteressen liberale Grundsätze in den Mund nehmen.
Es braucht eine starke demokratische Öffentlichkeit, um
kapitalistische Exzesse zu zügeln und die Wirtschaft in einen
sozialverträglichen und menschengerechten Rahmen einzupassen. Seit dem 19.
Jahrhundert werden Sozialgesetze erlassen, um die Opfer der kapitalistischen
Ausbeutung zu unterstützen. Das Versicherungsprinzip ist ein Modell der
Solidarität, das Menschen in Krisensituation vor dem Absturz bewahrt hat. An
diesen Errungenschaften darf nicht gerüttelt werden, vielmehr ist es dringend
gefordert, die Netze der Solidarität auszubauen – das kapitalistische
Wirtschaftssystem hat daran kein Interesse.
Nachhaltige Kindererziehung
Es braucht nachhaltige Formen der Kindererziehung, die die Entstehung von Gierstrukturen in den Seelen der Kinder hintanhalten, indem sie die emotionalen Bedürfnisse der Heranwachsenden hinreichend erfüllen und sie mit Verständnis und Liebe ins Leben hineinbegleiten. Kinder wissen von Anfang an, dass sie ihr Glück in sich selbst und in liebevollen Beziehungen finden können. Wenn dieses Licht bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben kann, ist ein effektives Immunsystem gegen die Verlockungen und Manipulationen des Wirtschaftssystems entstanden. Dann kann ein Leben gelebt werden, dass von innen gesteuert ist und nicht von den Bedürfnisse äußerer Gewinnmaximierer.
Das Bildungssystem hat einen ebenso wichtigen Auftrag, den
Jugendlichen die Mechanismen der Bedürfnismanipulation zu verdeutlichen und
Wege zu vermitteln, mit denen solche Instrumentalisierungen bewusst gemacht
werden können. Jugendliche sollen die Verantwortung für ihre eigenen
Entscheidungen stärken, indem sie die Strategien durchschauen lernen, mit denen
ihnen das Geld aus der Tasche und die Lebensfreude aus der Seele gezogen
werden.
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