Die Ethik erforscht die Beweggründe des menschlichen Handelns und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen. Sie stellt die Frage nach dem Guten und dem Bösen und bewertet die Maßstäbe und Werte, nach denen die Menschen ihre Handlungen setzen. Ich gehe im Folgenden auf die ethischen Paradigmen ein, die vom Übergang von der fünften, personalistischen, zur sechsten, systemischen Bewusstseinsebene wichtig sind. In den vorhergehenden Blogbeiträgen zur Impf-Debatte habe ich vor allem auf das systemische Ethikparadigma zurückgegriffen, ohne es explizit zu erläutern, was hier nachgeholt wird.
Die personalistische Ethik
Ein wichtiges Merkmal der personalistischen Bewusstseinsstufe besteht darin, dass die Person in den Mittelpunkt der Ethik gerückt wurde: Jeder Mensch ist für seine Handlungen voll verantwortlich, und sein Gewissen gibt ihm Auskunft darüber, was gut und was böse ist. Der ethische Maßstab für das Bewerten der Handlungen wird ganz ins Subjekt verlegt, es muss vor sich selber rechtfertigen, was es tut. Diese Verinnerlichung der Ethik, bei der es primär nicht um das Befolgen von Standards geht, die von au8en durch die Gesellschaft oder die Machthaber vorgegeben sind, geht zurück auf den Einfluss des Christentums. Besonders durch die Reformation im 16. Jahrhundert wurde der Akzent der ethischen Fragestellung rigoros von außen nach innen verlegt.
Die Schuldspannung im personalistischen Bewusstsein - das nie erreichbare Ideal des durch und durch guten Menschen ist die Grundlage für den ethischen Perfektionismus. In der religiösen Perspektive mit einem Schuldkonto verknüpft, das nach dem Tod ausgewertet und eingelöst wird und die Lebenschancen für die jenseitige Zukunft bestimmt, die mit der Ewigkeit gleichgesetzt ist. Das ganze Leben steht unter dem Gewissensdruck, es nie gut genug zu machen. Am Horizont wartet die Vorerinnerung an den Tod und an das unerbittliche Gericht, das danach kommt.
Hier liegen die Wurzeln des ethischen Perfektionismus, der Vorstellung, dass jede Handlung von der Erfüllung der höchsten Wertvorstellungen bestimmt sein muss und dass von ihrer Richtigkeit die persönliche Integrität abhängt.
Alles, was diesem Anspruch nicht gerecht wird, muss als böse charakterisiert werden, in theologischer Sicht als Schädigung der Gottesbeziehung, profan betrachtet, als gemeinschafts- und sozialschädlich. Nach reformatorischer Ansicht kann nur Gott von der Schuld der ethischen Unvollkommenheit erlösen. Da immer ein Stück Unvollkommenheit selbst bei der besten Lebensführung verbleibt, gelingt es nie, diese Schuld vollständig zu tilgen. Es bleibt ein moralisches Minderwertigkeitsgefühl, das den Menschen ganz von der göttlichen Gnade abhängig macht.
In dem permanenten verinnerlichten Schulddruck findet sich einer der Gründe der Abkehr von der göttlichen Überinstanz in der Ethik, die noch von personalistischen Denkern wie Friedrich Nietzsche vollzogen wurde. Denn den Autonomiebestrebungen, mit denen sich die moderne Person aus Abhängigkeiten befreien und selbst verwirklichen will, steht jede außermenschliche Moralinstanz im Weg.
Die systemische Ethik
Auf der folgenden Bewusstseinsebene wird auf die göttliche Korrekturinstanz in ethischen Belangen verzichtet und der Bezugspunkt der Ethik richtet sich auf das dynamische Gleichgewicht der Elemente von Systemen sowie der jeweiligen Systeme untereinander. Was ein System destabilisiert, widerspricht der Ethik, was es fördert und wachsen lässt, entspricht ihr. Der Blickpunkt geht weg vom Subjekt, das immer auch als Teil eines Systems wahrgenommen wird. Alle Entscheidungen, die wir treffen, alle Handlungen, die wir setzen, betreffen alle anderen Elemente des Systems und werden im Licht dieser Auswirkungen bewertet. Genauso sind wir von allen Entscheidungen und Handlungen der anderen Elemente mitbetroffen. Die Ethik dient also als Korrekturinstrument für die Abläufe in den Systemen. Alle Bewertungen sind relativ, auf den jeweiligen Kontext bezogen. Es gibt keine absoluten Moralinstanzen mehr, von denen alle abhängig sind und auf die man sich berufen kann.
In Bezug auf die Impfdebatte heißt das, dass es keine absolut richtige oder falsche Entscheidung geben kann. Es geht um die Abstimmung der Erfordernisse der einzelnen involvierten Systeme. Das eigene Körper-Seele-System steht, wie schon besprochen, im Sinn der personalen Ebene bei vielen im Vordergrund der Entscheidung, ob für oder wider die Impfung. Da diese Ebene untrennbar mit der sozialen Ebene verknüpft ist, gibt es in diesem Feld die meisten Auseinandersetzungen, die, weil sie personal geführt werden, zu keinen Fortschritten führen, sondern dazu, dass sich die unterschiedlichen Positionen verfestigen. Die Geimpften fühlen sich bedroht von den Nichtgeimpften, die Ungeimpften fühlen sich von den Geimpften unter Druck gesetzt und moralisch abgewertet. Manche von ihnen greifen darüber hinaus die Geimpften als die vergifteten und eigentlichen Bösewichte an, usw.
Die systemische Ebene fragt nicht danach, wer Recht hat und wer nicht, sondern sie wägt zwischen den Erfordernissen der Personen und der unterschiedlichen Systeme ab. Dazu werden nicht nur individuelle Erfahrungen und Urteile herangezogen, sondern vor allem die wissenschaftlichen Befunde, die den Blick auf größere Einheiten und deren Verfasstheiten ermöglichen. Nur über wissenschaftliche Datenerhebung kann abgeschätzt werden, welche Maßnahmen langfristig zu Erfolg führen und welche nicht. In der individuellen wie in der politisch-kollektiven Entscheidungsfindung, die sich in Hinblick auf das Impfen stellt, sollte das allen zugängliche und nachvollziehbare wissenschaftliche Wissen eine prominente Rolle spielen, weil es in der Lage ist, Egoismen, die von der personalen Ebene kommen, auszugleichen.
Das Ende des ethischen Perfektionismus
Auf der systemischen Ebene macht der ethische Perfektionismus keinen Sinn mehr. Je deutlicher sichtbar ist, in wie viele komplexe Zusammenhänge jedes menschliche Handeln eingebunden ist, desto klarer wird, dass es keine absolut richtigen Handlungen und Entscheidungen geben kann. Es gibt bei jedem Tun oder Nichttun Bereiche der Wirklichkeit, die Schäden erleiden. Jede Handlung ist ein Kompromiss zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der verschiedenen Systeme, deren Teil wir sind. Wenn wir viel konsumieren, schädigen wir die Umwelt; wenn wir wenig konsumieren, schädigen wir den Handel. Wenn wir uns impfen lassen, nehmen wir das Risiko von Nebenwirkungen und eventuellen langfristigen Schäden auf uns; wenn wir uns nicht impfen lassen, nehmen wir das Risiko von schwerer Erkrankung auf uns, ebenso wie das Risiko, im Fall der Infektion verstärkt andere anzustecken.
Es sind diese beiden Risiken, die mich zur Einschätzung gebracht haben, dass das Impfen im Sinn der sozialen Systeme die ethisch bessere Entscheidung ist als das Nichtimpfen. Während für das Impfen die eigene Gesundheit wie die Gesunderhaltung anderer spricht, hat das Nichtimpfen nur einen möglichen (und nicht einmal wahrscheinlichen) individuellen Vorteil auf seiner Seite. In diese Einschätzung fließt das ein, was ich als Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen aufgefasst und verstanden habe. Es ist zwar keine absolut gültige Einschätzung, allerdings eine, die ich mit vielen teile und für die ich auf gute Argumente zurückgreifen kann.
Die Bedeutung der Transparenz
Jede andere Einschätzung verdient Respekt und Achtung, muss sich aber auch die Anfrage an die Kriterien, auf denen sie beruht, gefallen lassen. Denn zur Wirksamkeit der Ethik in Systemen gehört ihre Rückkoppelungsfunktion. Das, was eine Person als wirk- oder heilsamer für ein System erachtet, kann nicht einfach vom Tisch gewischt oder ignoriert werden; dadurch würde nicht nur die Person, sondern das ganze System geschwächt. Es braucht die Debatte und Auseinandersetzung, die nur dann weiterführt, wenn sie ohne Machtansprüche oder Manipulationen abläuft.
Eigene Entscheidungen, die das Ganze mitbetreffen, müssen in ihren Motiven transparent gemacht werden, damit es zum wechselseitigen Verständnis im System kommt. Auf dieser Basis entsteht Verständnis und Verbindung, wichtige Grundlagen für die von der Gemeinschaft getragene Weiterentwicklung.
Es muss klar werden, welcher Anteil der Motivation aus der personalistischen Ebene stammt und nur den Eigeninteressen der Person gilt und welcher für die Gemeinschaft relevant ist. Es ist legitim, die eigenen Interessen mit zur berücksichtigen, doch nur, wenn sie öffentlich bekannt gemacht und untereinander abgestimmt sind, wenn also die personale mit der systemischen Ebene verknüpft wird. Korruption z.B. besteht darin, dass der individuelle Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit gesucht wird und die entsprechenden Machenschaften geheim bleiben.
In der systemischen Ethik werden die Sichtweisen abgewogen und die Personen als gleichrangig betrachtet. Die eigene Person hat einen Platz, so wie die anderen. Ebenso haben die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche ihren Platz: Die Gefühls- und die Gedankenwelt, das Regionale, das Nationale und das Internationale, das Innere und das Äußere, das Ich und die anderen usw. Die Ethik baut Brücken und saniert sie, wo sie brüchig werden. Denn alle Verbindungen müssen aufrecht bleiben und möglichst gut im Fluss sein, dann gedeihen die Systeme und bewältigen ihre Herausforderungen.
Die universalistische Stufe
Das systemische Paradigma der Ethik ist nicht der Weisheit letzter Schluss, deshalb gibt es im Modell der Bewusstseinsevolution noch eine siebente Stufe. Sie ist jenseits der Ängste angesiedelt, die auch auf der systemischen Ebene noch eine Rolle spielen. Sie ist in Momenten gegenwärtig, in denen wir einfach tun, was zu tun ist, weil es sich in sich stimmig anfühlt. In dieser Stimmigkeit sind die beiden vorher besprochenen Bewusstseinsebenen enthalten. Das Gute und das Böse spielen keine Rolle mehr, weil die Bewertungsfreiheit der systemischen Ebene mitschwingt und verallgemeinert wird. Da diese Ebene in unserer Welt erst sporadisch vorkommt, spielt sie bei praktischen Fragen wie der Pandemiebekämpfung nur eine geringe Rolle. Sie kann uns jedoch dazu verhelfen, die Dramatik und Verbissenheit der Streitkulturen hinter uns zu lassen.
Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte
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