Montag, 3. Mai 2021

Die Rebellen und die Freiheit

Es gehört zu den menschlichen Grundstrebungen, auszubrechen aus allem Einengenden, um den Raum für die Freiheit zu erweitern. Es ist die immer wieder Scham, mit deren Hilfe die Verbote errichtet wurden, Bestehendes zu verändern, auch wenn es menschenfeindlich oder fortschrittsbehindernd ist. Es müssen also Schamgrenzen überwunden werden, wenn dem Menschsein zu mehr Möglichkeiten verholfen werden soll. Für diese Herausforderung steht der Archetyp des Rebellen, und es sind die Aufmüpfigen, die sich dieser Aufgabe verschreiben.

Das typische Beispiel sind die Teenage-Rebellen. Vielen von ihnen geht es dabei um die individuelle Emanzipation aus der Familie und deren Wertsystemen. Weiters gibt es die politisch und kulturell engagierte Rebellen, denen es auch und vor allem um die kollektive Weiterentwicklung geht. Das eigene Leben muss immer wieder verändert werden, ebenso die Gesellschaft. Das ist das Wesen des Wachstums und der Entwicklung, und Rebellen sind die Bahnbrecher dieser Tendenz, die allem Leben eigen ist. Sie sind die vorwärtstreibende Kraft für den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, wie sie vom Philosophen Hegel in seiner Geschichtsphilosophie benannt wurde.

Der Rebell ist ein mutiger Überwinder der eigenen und gesellschaftlichen Schamgrenzen. Er bricht Tabus, lotet neue Territorien aus und experimentiert mit neuen Ideen. Er überwindet Konventionen, die durch Schamandrohungen geschützt sind. Jede Regel, die die Freiheit einengt, muss überwunden werden. Er lässt sich nicht von der Scham bremsen im Elan, die Welt zu verbessern. Deshalb finden wir Rebellen in politischen Bewegungen, die vom Rand kommen, aber auch in der Kunst und in der Mode: Rebellinnen zeigten vor 50 Jahren erstmals ihre Knie in der Öffentlichkeit. Sie sind Trendsetter, die sich wagen, Neuland zu betreten, das bisher von Schamschranken behütet und verboten war.

In diesem Zusammenhang ist auch die sexuelle Revolution seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erwähnenswert, die Frucht rebellischen Geistes, verbunden mit den Emanzipationsbestrebungen der Frauen, für die immer wieder mutige Rebellinnen die Fahne getragen haben und weitertragen. Korsette, die die Moral den Menschen aufdrängt und mit Scham verfestigt, werden von Rebellen aufgebrochen, sobald die Gesellschaft bereit ist für neue Öffnungen. Wie auch immer man die Auswirkungen der sexuellen Befreiung einschätzt, ist jedenfalls klar, dass sich die Beziehungen der Geschlechter und damit die Schamzuschreibungen seither maßgeblich verändert haben.

Provokation und Polarisierung

Was wir an Rebellen bewundern, ist ihre zielstrebige Orientierung an ihren Idealen und Visionen. Kompromisslos bis zur Radikalität folgen sie ihre Ideen, für die sie möglichst viele Anhänger begeistern wollen. Sie provozieren und polarisieren, sie haben glühende Anhänge und erbitterte Gegner. Sie wissen um die Wichtigkeit ihres Auftrages und ihrer Botschaft und lassen sich nicht beirren oder von Zweifeln ablenken. 

Rebellen opponieren gegen Ordnungsstrukturen und wollen ein Chaos erzeugen, um eine neue Ordnung zu ermöglichen. Sie nutzen die Macht der Zerstörung, wie die indische Göttin Kali. Was der menschlichen Freiheit im Weg steht, muss beseitigt werden, wenn es nicht von selber verschwindet. Wie Kali im Mythos über Leichen geht, brauchen die Rebellen einen Schuss an Schamlosigkeit und Unverfrorenheit, ja selbst an Rücksichtslosigkeit, um ihrer Mission zum Durchbruch zu verhelfen. Denn sie thematisieren und kritisieren die Schamlosigkeit und Unbarmherzigkeit der bestehenden Ordnung. 

Bindung und Autonomie

Aus der Perspektive der Kindheitsentwicklung betrachtet, beginnt das Rebellische im zweiten Lebensjahr, einhergehend mit der Entfaltung des Eigenwillens beim Kind. Die Bezeichnung „Trotzalter“ für diese Phase nutzt den erzieherischen Zeigefinger mit der Intention, den Widerstand des Kindes gegen elterliche Anordnungen zu brechen. Das Kind verdient Respekt für seinen Willen, ebenso wie die Eltern, die aber dem Kind erst den Weg öffnen müssen, zu diesem Respekt zu finden. Dazu ist es wichtig, dass sie zuerst den Willen des Kindes respektieren, ihm aber geduldig verständlich machen, dass es auch den Willen anderer beachtet. 

Kinder sind von Anfang an soziale Wesen und auf Beziehung hin ausgerichtet. Sie verfügen über ein intuitives Verständnis von Geben und Nehmen. Zugleich müssen sie ihre Autonomie durch den zeitweiligen Widerstand gegen die Anweisungen und Ordnungsvorstellungen der Eltern entwickeln. Sie suchen immer auch den Ausgleich zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und dem Streben nach Selbstbestimmung. Deshalb leiden sie oft an dem Konflikt zwischen dem, was aus ihrem Inneren kommt, und dem, was das Außen verlangt. Und sie tun sich oft schwer, mit ihren widerstrebenden Bedürfnissen und Antrieben zurechtzukommen. Gleichzeitig üben sie sich mit jeder Erfahrung in der inneren Selbstregulation, sodass sie die Macht ihres Eigenwillens besser kennen lernen und handhaben können. 

Dafür brauchen die Kinder verständnisvoll und einfühlsame Eltern, die gleichwohl ihre eigenen Grenzen klar kommunizieren und einhalten können. Das erforderte ein Gespür für die Schamregungen im Kind, die mit viel Behutsamkeit aufgelöst werden können. Denn die Scham spielt bei Zwiespalten in der Entwicklung zur Autonomie eine wichtige, aber auch widersprüchliche Rolle. Einerseits korrigiert sie überschießendes egoistisches Verhalten, andererseits macht sie auf die Notwendigkeit aufmerksam, die eigene Autonomie zu fördern.

Die Schattenseite

Rebellen gibt es, wie bei den anderen Archetypen auch, in verschiedenen, helleren und dunkleren Gestalten. Es gibt unter ihnen Egomanen und Wohltäter der Menschheit, laute und stille, verbal agierende und handlungsorientierte, sture und flexible Ausprägungen. Es gibt den Missbrauch dieses Archetyps, indem die Rebellion zum Selbstzweck wird („die Revolution frisst ihre Kinder“) oder indem die, die nicht mitmachen, verachtet und beschämt werden. Die Rebellen werden zu Ideologen, mit den gleichen Schwächen für Machtmissbrauch wie die Tyrannen, die sie bekämpft haben.

Es gibt auch die Zerrform der Selbstausbeutung in der Rebellenrolle, oft verbunden mit Realitätsblindheit: Der Rebell, der unentwegt gegen das ganze System kämpft und nie zur Ruhe findet, solange nicht das Ganze in seinem Sinn revolutioniert ist. Es ist die Gestalt des ewigen Rebellen, der nicht erwachsen werden will. Denn Erwachsensein beinhaltet auch, die Grenzen der eigenen Einflussmöglichkeiten anzuerkennen: Niemand kann alleine die Welt retten. Wird diese Grenze ignoriert, wandelt sich der ewige Rebell in einen Narren, ohne es selber zu merken. Er wird zu einem Rebellen mit trauriger Gestalt. Das Dagegensein wird zum Reflex, statt die Kritik zu differenzieren wird mit dem Vorschlaghammer operiert. Die Destruktivität hat in diesem Fall nichts Konstruktives mehr an sich und läuft sich tot.

Und es gibt auch die Kehrtwende, wenn die ehemaligen Rebellen die Fronten wechseln, wenn sie dem unwiderstehlichen Duft des Geldes verfallen und plötzlich im Nadelstreif mit dem Aktenkoffer aus dem Mercedes steigen. Die Scham in Form einer unfreiwilligen Selbstironie hat sie erwischt und zurück in eine konventionelle, systemstabilisierende Rolle geführt.

Rebellen, die die Kraft des Archetyps für eigene Zwecke missbrauchen und damit andere in die Irre führen, handeln aus Schamfixierungen heraus. Durch den unbewussten Schamdruck kommen sie so schwer aus der Rolle heraus, die sie einmal angenommen haben. Sie können ihre Ideale nicht aufweichen, auch wenn sie sich als starr und ideologisch erwiesen haben. Die eigene Identität hängt am Dagegen-Sein, an der immer wiederkehrenden Kritik an der Gesellschaft und in der frontalen und ausnahmslosen Ablehnung der Realität, wie sie ist. Es ist die Sturheit eines kindlichen oder pubertären Trotzes, der sich in dieser Haltung durchsetzt und die Rebellion zu einer starren Haltung versteinert.

Die Aussicht

Dem Rebellischen haftet etwas Jugendliches an. Es sollte aktiviert werden, wenn sich Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten ereignen, aber nicht zur Dauerhaltung versteinern. Die Fundamentalopposition neigt zu einer grundsätzlichen Ablehnung von allem, was ist und kann deshalb keine Alternative anbieten. 

Das Rebellische ist biografisch häufig ein Durchgangsphänomen, das bestimmte Lebensphasen dominiert und dann wieder zurücktritt. Es sollte freilich nie vergessen werden, weil das Leben immer wieder Situationen hervorbringt, in denen das Rebellische notwendig und erforderlich ist. Wer es noch nicht in sich entwickelt hat, sollte sich rechtzeitig darum kümmern. Denn es steht auf, gegen Tendenzen, die der Menschlichkeit zuwiderlaufen, Widerstand zu leisten und Veränderungen einzufordern. Es duckt sich nicht, wenn Unrecht geschieht oder Missstände offenbar werden, sondern bleibt aufrecht, konfrontiert und fordert heraus.

Andererseits braucht die Rebellin im Reiferwerden den Austausch mit einem anderen Archetypen, dem des Weisen (der Weisen). Von ihm lernt sie das rechte Maß zwischen Kampf und Akzeptanz, zwischen Chaos und Ordnung. Es geht der Blick mehr ins Weite und aufs Ganze und verbohrt sich nicht mehr in Details. Im Einfluss der Weisheit wird die rebellische Ungeduld von der Gelassenheit gemäßigt.

Zum Weiterlesen:
Die Kraft der Zerstörung
Helden ohne Mythos


2 Kommentare:

  1. Lieber Wilfried, sorry für die Fehler im Text, hatte nicht viel Zeit und war mir wichtig einen Kommentar abzugeben.Wasw mir wichtig ist, ist die Freiheit entscheiden zu können. Scheiß auf Schahm.Ich hab dir und vielen anderen aus der Ausbildung bei Gelegenheit klar gemacht das die Fliegerei ein Horror ist, und jeder der ohne Notwendigkeit fliegt, Menschenleben opfert.Ist jetzt vielleicht rebellisch, entspricht aber cden Tatsachen. Klima zu leugnen ist Holocaust für die folgenden Generationen, und immer mit mildem Lächeln zu relativieren steht zwar eienm Therapeuten gut an, birgt aber wenig Konsequenzen in sich.Verweise auf Veganes Leben sind nur Verschiebung von Auswirkungen. Menschen die Einfluss auf andere haben, haben Verantwortung. Fahrgemeinschaften nach Miesenbach sollten Mindestenstandart sein.z.B.Auch deine Sicht das nur der demokratische Prozeß der gute ist entspricht nicht der historischen Wahrheit. Viele Veränderungen zum guten wurden von Diktatoren eingeführt,und einzelne Menschen können sehr wohl die ganze Welt verändern.Henry Dunant hat z.B. mit seinem Buch über die Sterbenden auf Schlachtfeldern, das rote Kreuz und die Genfer Konventionen ins Leben gerufen.Auch viele Menschen die Zivilcourage hatten, haben sich nicht an Pflicht ist Pflicht gehalten sondern statt dessen menschliches Vermögen gezeigt.Hilfe bei Flucht aus Gefangenenlagern.Ein Grundproblem ist die Entmutigung, siehe Alfred Adler. Menschen sind keine Ratten, aber dies experiment sagt viel über uns aus. Das Experiment:

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  2. Fortsetzung. Professor Richters Experiment:Vorab teilte Professor Richter seine Versuchstiere in zwei Gruppen. Die erste Gruppe wurde einfach so in den Wasserbehälter geworfen. Bevor er aber die Ratten der zweiten Gruppe in das Basain warf, hielt er sie vorher eine Weile fest zwischen den Händen.
    Er übte keinen Druck aus die Ratten wurden äußerlich nicht verletzt, innerlich machten sie jedoch die Erfahrung der Hilflosigkeit. Spürten nur, dass ihre Befreiungs Versuche aussichtslos waren, egal wie sehr sie sich bemühten.

    Die zweite Ratten Gruppe wurde also hilflos gemacht, während ihre Artgenossen aus Gruppe 1 nicht auf diese Weise behandelt wurden. Die Ratten aus beiden Gruppen landeten im Wasser es ging für Sie um Leben oder Tod was denkst du: Gab es einen Unterschied ? Schwammen die Raten der einer Gruppe länger als die der anderen?
    Nimm dir einen Moment und schätze einmal, ich verrate dazu noch, dass Ratten gute Schwimmer sind. Noch ein Fakt: Die Ratten, die Professor Richter vorher zwischen seinen Händen eingesperrt hatte, hielten sich bis zu 15 Minuten lang über Wasser bevor sie ertranken.
    Um wie viel länger schwammen die nicht vorbelasteten Ratten? Schafften sie vielleicht 20 Minuten ? oder 30 Minuten? Möglichweise sogar eine Stunde?
    Oder gab es keinen Unterschied und sie schwammen auch 15 Minuten? Nimm dir bitte einen Moment und schätze einmal. Hast du eine Zahl ?
    Das verblüffende Resultat: Hier ist die Antwort: 60 aber nicht Minuten , 60 Stunden !

    Das sind zweieinhalb Tage!

    Zweieinhalb Tage versus 15 Minuten. Ein Unterschied wie er größer kaum sein könnte. Die Kontrollratten welche sich nicht hilflos fühlten, schwammen 240 mal länger als die hilflosen, bevor sie absaufen.

    Unfassbar, oder?

    Mein Motto: Geht nicht gibts nicht. Alles in Liebe. Hannes

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