Wie im vorigen Blogartikel beschrieben, gehört zum Erwachsenwerden die Kultivierung der Selbstdisziplin. Sie macht es möglich, Anstrengungen und Mühen auf sich zu nehmen, die nicht unmittelbar in Belohnungen münden, dafür aber den Raum für neue Möglichkeiten öffnen. Was macht den Erwerb dieser wichtigen Kompetenz zu schwer?
Es sind Brechungen in der autonomen Selbstentwicklung, die sich hemmend auf die Ausbildung der Selbstdisziplin auswirken. Als Kinder sammeln wir die Erfahrungen, wie wir mit unseren Autonomiebestrebungen ankommen. Es ist klar, dass die Eltern nicht alles gutheißen können, was wir anstellen wollen. Entscheidend für ein gutes Verhältnis zur eigenen Autonomie und Selbstdisziplin ist, welche Grundeinstellungen die Eltern in ihrem Einwirken auf unsere Entwicklung vertreten haben. Es geht dabei um bewusste und unbewusste Einstellungen, und es geht um die damit verbundenen Gefühle und Gefühlskomplexe sowie um die Erziehungshaltungen, die unsere Eltern von ihren Eltern übernommen haben.
Förderlich sind Einstellungen, die vom Vertrauen auf die Eigenentwicklung des Kindes getragen sind: Das Kind weiß am besten, was es braucht und was es will. Dazu kommt die Fähigkeit, Kindern auf respekt- und liebevolle Weise Grenzen zu setzen, mit Konsequenz und Strenge, aber im Rahmen der Liebe und der Achtung. Die Autonomieregungen des Kindes sind willkommen und werden respektiert. Zugleich wird dem Kind vermittelt, welchen Respekt die Erwachsenen verlangen.
Wo dem kindlichen Expansionsdrang Grenzen gesetzt werden, entsteht die Disziplin in Form der Impulskontrolle. Disziplin heißt zunächst, das eigene Wollen zugunsten des Wollens der Eltern zurückzustellen. Sie wächst dort in natürlicher Weise, wo sie auf Wechselseitigkeit beruht: Auch die Eltern stecken ihre Wünsche zurück, damit das Kind tun kann, was es will. Beide Seiten üben sich in Disziplin.
Gelingt es den Eltern, ihre Erwartungen an das Verhalten des Kindes mit Einfühlsamkeit, Verständnis und Konsequenz zu vermitteln, so fühlt sich das Kind emotional belohnt, weil es sich an Regeln hält, die die Eltern vorgeben. Wenn das Kind wieder in Ordnung bringt, wo es vorher Unordnung geschaffen hat, oder wenn das Kind, statt auf die Straße zu laufen, zwar in die Richtung läuft, aber rechtzeitig stehen bleibt und den Kopf schüttelt, können die Eltern mit Freude und Bestätigung reagieren. Das Kind spürt die Belohnung und bekommt einen Ausgleich zur Unterbrechung des eigenen Impulses, also zur Frustration eines Bedürfnisses. Die Selbstzurücknahme und Selbstkontrolle bringt Anerkennung, und diese Erfahrung kann verinnerlicht werden, sodass sie später in Form der Selbstdisziplin Anwendung finden kann.
Emotionale vs. materielle Belohnung
Es genügt, dass dieses Geben und Nehmen auf der emotionalen Ebene verbleibt; die Belohnung mit Dingen oder mit Geld führt auf eine Ebene, die den Lern- und Abstimmungskontext rund um die Disziplin vom Emotionalen zum Materiellen verändert. Das nummerische Prinzip, das über diese Form des Austausches eindringt, macht aus dem Fluss von Gefühlen eine Serie von Geschäften. Die Erwachsenenwelt mit ihren ökonomischen Abläufen mischt sich ein und knüpft die Disziplin an Bedingungen, in Form von messbaren dinglichen Werten. Leistung bemisst sich folglich am materiellen Gewinn und nicht an innerer Bestätigung und Erfüllung. Disziplin erscheint dann nur mehr sinnvoll, wenn entsprechende Zahlungseingänge auf der Habenseite zu erwarten sind, um dort verbucht zu werden.
Motivation zur Disziplin oder Disziplinierung
Wie wir gesehen haben: Jede Selbstdisziplin erwächst aus Anforderungen zur Disziplin, die uns von außen auferlegt wurden. Die Entwicklung der Eigendisziplin setzt also eine Außendisziplin voraus. Je kind- und menschengerechter diese von außen herangetragene Motivation zur Disziplin erfolgt, desto leichter kann sie als Selbstdisziplin im Inneren verankert werden.
Es gibt zwei Extreme des Misslingens dieser Entwicklungslinie. Die eine zeigt sich, wenn Eltern starre und sture Grenzen setzen und das Verhalten des Kindes mit Druck, Beschämung und Manipulation nach den eigenen Vorstellungen formen wollen. Die andere ist die Folge von fehlenden oder verschwommenen Grenzsetzungen. In beiden Fällen spielt die Scham eine wichtige Rolle. Im ersten Fall, bei einem autoritären Erziehungsstil, werden die Kinder eingeschränkt und eingeschüchtert, indem ihnen die Scham für ihr Fehlverhalten eingeimpft wird. Sie haben dann nur die Möglichkeit, sich zu ängstlichen Duckmäusern zu entwickeln, die dauernd befürchten, etwas falsch zu machen oder nicht gut genug zu sein. Disziplin ist ein verinnerlichtes „Müssen“. Oder sie werden ewige Rebellen, die sich gegen jede Regel, die von ihnen erwartet wird, zur Wehr setzen und jede Form von Disziplin kategorisch ablehnen.
In beiden Fällen kommt es zu einem spannungsreichen Verhältnis zur Disziplin. Sie wird als unterdrückende Macht erlebt, die von außen gesteuert ist und die überwachen und kontrollieren will, ohne den Eigenwillen zu respektieren. Sie kann folglich nicht als eigene Kompetenz verinnerlicht werden und steht nur mangelhaft für das Erreichen eigener Ziele zur Verfügung.
Der Widerstand gegen ein Wollen, das als Müssen erlebt wird, schlägt sich in Verhaltensroutinen nieder, die oft Kompromisse darstellen zwischen dem, was sein sollte, und dem, wozu die aktuelle Bedürfnislage motiviert. Ungeliebte Tätigkeiten, Ablenkungen, Zerstreuungen und Konsumhandlungen dienen diesen Halbheiten, mit denen der Alltag vieler Menschen angefüllt ist. Ein resignativer oder latent aggressiver Unterton begleitet in solchen Fällen das Leben. Es fehlt die kreative Erfüllung und das Erleben des Fließens, Elemente, die bei Handlungen auftreten, die aus dem eigenen Wollen mit Selbstdisziplin vollzogen werden. Es fehlen Spontaneität und Flexibilität, Qualitäten, die die Lebensfreude anfachen.
Disziplinierung beinhaltet das Unterbinden der kindlichen Spontaneität. Die Einordnung in ein vorgegebenes, absolut gültiges Regelwerk ist ihr Ziel. Es erscheint als Erziehungsmaxime, an der sich das Gelingen der Erziehung bemisst. Das Eigenwesen des Kindes wird dabei übersehen und unterdrückt. Demgegenüber braucht es die sanfte und beharrliche Motivation zur Disziplin, die die Regeln verständlich macht und erklärt, damit sie als Motivationskraft im Inneren verankert werden kann und als Selbstdisziplin eine wichtige Stütze für ein zielstrebiges und erfülltes Erwachsenenleben zur Verfügung steht.
Zum Weiterlesen:
Autonomie und Disziplin
Das Ende des Gehorchens
Der Verlust und die Wiedergewinnung der Lebendigkeit
Helden ohne Mythos
Disziplin und Gnade
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