Die Anfänge der Autonomie
Die Autonomie ist die starke Kraft, die uns aus der Abhängigkeit und Bedürftigkeit der frühen Kindheit herausführt. Sie stützt sich auf den Willen, der mehr und mehr die Handlungsorientierung prägt: „Ich tue, was ich will“. Das ist die Umkehrung von: „Ich will, was ich tue“. Der Wille drängt sich vor das Geschehen und spontane Tun, wie es für ganz kleine Kinder charakteristisch ist.
Diese Entwicklung wird durch die zunehmende Kontrolle möglich, die dem Kind zusehends gelingt und über den Organismus und seine Gefühle ausgeübt wird. Der Körper bewegt sich nicht einfach irgendwie, sondern die Bewegungen werden willentlich und zielgerichtet in Gang gesetzt oder beendet. Ein Kind läuft dorthin, wo es etwas Interessantes findet oder vermutet; es unterbricht einen Handlungsimpuls, weil es erlebt, dass die Eltern missbilligend reagieren, und tut etwas anderes. Oder es bewegt sich in eine bestimmte Richtung und beharrt darauf, obwohl die Eltern wollen, dass es anderswohin läuft.
Auch die Emotionen können fortschreitend besser reguliert werden. Das Kind erlebt eine Frustration, weil ihm verboten wird, mit dem Essen zu spielen, und lenkt sich ab, indem es sich eine andere lustbetonte Aktivität sucht, statt das Gefühl der Frustration zu intensivieren. Es ärgert sich, weil es beim Spielen von den Eltern unterbrochen wird und stellt sich schneller auf eine neue Aktivität ein.
In den Unterbrechungen von geschehenden Abläufen, wie sie im ganz frühen Leben vorherrschen, meldet sich die Autonomie. Sie nimmt immer mehr Raum ein und ermöglicht dem Kind, sich zunehmend sicherer durch das eigene Leben zu bewegen. Es spürt, was es will und was es nicht will, und kann diesen Willen ausdrücken, wird verstanden und versteht auch, dass nicht jedes Wollen umgesetzt werden kann. Auf diese Weise gewinnt das Kind mehr Freiheit und Möglichkeitsspielraum.
Die Disziplin als Gegenspielerin zur Autonomie
In dieser Zeit meldet sich die Disziplin als Gegenspielerin zur Autonomie, indem sie etwas verkörpert, was von außen, von den anderen Menschen, erwartet wird. Was hergeräumt wird, soll wieder weggeräumt werden. Das Herräumen ist lustig, das Wegräumen mühsam. Das eine stammt aus der Autonomie, dem spontanen Impuls des Selbstausdrucks und der Selbstwirkung, das andere aus einem Zwang, der aufgrund der Abhängigkeit, in dem sich die Autonomie entfaltet, befolgt werden muss. Auf ein „Ich-will“ folgt ein „Ich-muss“.
Jedes Müssen trägt eben ein „Ich-will-nicht“ im Rucksack. Disziplin heißt damit in der weiteren Entwicklung, dass der eigene Impuls zurückgestellt werden muss. Etwas soll getan werden, was nicht dem eigenen Willen entspricht und gegen das es eigentlich einen inneren Widerstand gibt. Die geforderte Disziplin wird als Beschränkung der Autonomie verstanden. Sie ist das Gummiband, das die weiterhin bestehende Abhängigkeit spüren lässt und eine innere Spannung mit der Kraft erzeugt, die in Richtung der Vermehrung der Autonomie strebt: In die Freiheit von auferlegten Disziplinen.
Das Verhältnis von Autonomie und Disziplin ändert sich mit den natürlicherweise im Lauf des Aufwachsens abnehmenden Abhängigkeitsverhältnissen. Kinder erwerben mehr und mehr Kompetenzen, die ihnen ein selbständiges Leben ermöglichen. Jede Erziehung hat den eigentlichen Sinn, sich selbst überflüssig zu machen. Die Güte der Erziehung bemisst sich an der Selbständigkeit, die sie vermitteln kann.
Disziplin im ursprünglichen Sinn von Lehre und Unterricht erübrigt sich. Die Jugend endet dort, wo es nicht mehr um Regeln, Fertigkeiten und Wissen geht, die in einem Abhängigkeitsverhältnis erworben werden müssen, um in die Erwachsenenwelt Eintritt zu bekommen. Es braucht jetzt eine neue Form der Disziplin, eine selbstauferlegte Form der Regulation. Als Erwachsener „muss man sich nichts mehr sagen lassen“, d.h. ist man nicht mehr abhängig von den Vorschriften und Normen noch von den Urteilen und Kritiken, die von außen kommen. Aber man muss sich selbst sagen, wo es lang geht.
Von der Außen- zur Innendisziplin
Und das ist gar nicht so einfach, wie es klingt, weil alle Erwachsenen Verhaltensgewohnheiten entwickelt haben, die den eigenen Werten und Zielen im Weg stehen. Sehr viele Erwachsene wissen, dass sie nicht rauchen sollten und schaffen es dennoch nicht, davon loszukommen. Viele wollen sich mehr bewegen und bleiben dann doch vor dem Fernseher kleben. Die Ernährung sollte endlich umgestellt werden, aber die Schaufenster der Konditorei sind allzu verlockend, usw. Jedes Erwachsenenleben hat seine eigene Liste von selbstverantworteten Routinehandlungen, die alle selbstschädigend wirken.
An diesem Punkt hilft nur Disziplin, durch willentlich gefällte Entscheidungen angeleitet, um aus den Käfigen hinderlicher und schädlicher Gewohnheiten auszubrechen. Das „Ich-will“ braucht mehr Macht als die einkonditionierten Verhaltensweisen. Denn so lange ein „Ich-muss“ (…endlich abnehmen, …früher schlafen gehen, … früher aufstehen, …weniger Medien konsumieren …) vor dem Ziel steht, das angestrebt wird, bleibt die Macht beim herrschenden Muster, das Bequemlichkeit, Vertrautheit und Sicherheit verspricht. Es füttert den inneren Widerstand („eigentlich will ich ja gar nicht“), der das Ziel sabotiert und damit die eigene Hilflosigkeit zementiert.
Nur ein Wille, der mit Selbstdisziplin verbündet ist, also der Bereitschaft, nach den eigenen Entscheidungen und Entschlüssen auch zu handeln, schafft den Ausbruch aus dem Gefängnis der ungewollten Gewohnheiten und Verhaltensmuster. Ohne diese Form der selbstverantworteten Disziplin bleiben wir im kindlichen Trotz stecken, bleiben wir Sklaven von eingeprägten Verhaltensmustern, die in Widerspruch zu unseren Interessen und Werten stehen. Um auszubrechen, müssen wir den Schritt von der Außen- oder Fremddisziplin zur Innen- oder Selbstdisziplin als Teil der erwachsenen Lebenskompetenz meistern.
Die Erweiterung der Freiheit durch Disziplin
Erwachsensein heißt also auch diszipliniert sein zu können. Mit Disziplin erreichen wir höhere Grade der Freiheit, das ist ein Geheimnis, das viele nicht verstehen, weil sie erwachsene Freiheit mit dem Ausleben eines kindlichen Lustprinzips und Disziplin mit Gegängeltwerden verwechseln.
Eine erwachsene Autonomie, die sich gegen jede Form der Disziplin stellt, ist also nur die überlebte trotzige Form der Selbstbestimmung, die sich gegen Unterordnungen zur Wehr setzt, die gar nicht mehr bestehen. Als Erwachsene entscheiden wir selbst über die Form der Disziplin, die wir auf uns selbst ausüben, aber ohne jede Disziplin können wir nicht erwachsen sein. Das bedeutet nicht, dass das ganze Leben aus den Anstrengungen, die ein diszipliniertes Handeln mit sich bringt, besteht. Vielmehr nutzen wir die Kraft der Selbstdisziplin dort, wo es um die Erreichung von Zielen und die Verwirklichung von Visionen geht, also dort, wo es um die Erweiterung von Freiheitsmöglichkeiten und Freiheitsräumen geht. Nachdem die Ziele verwirklicht wurden, kann sich dann beim Beleben dieser neu erschaffenen Räume die Disziplin wieder zurückziehen und dem freudvollen und freien Genießen, der Spontaneität und Kreativität freien Lauf lassen.
Was wir zu einem ausgeglichenen und kreativ wachsenden Leben brauchen, ist eine stimmige Balance zwischen der Disziplin und dem Genießen. Keine Seite darf überhand nehmen, sonst verfallen wir entweder in schädliche Genussgewohnheiten oder in einen disziplinierten Leistungszwang, der uns nie zur Ruhe kommen lässt. Eine gute Ausgeglichenheit zwischen diesen Polen erlaubt es, dass wir wachsen, oft mit Anstrengungen verbunden, und dass wir das Erreichte entspannt genießen: Leistung und Muße im Gleichgewicht.
Zum Weiterlesen:
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