Freitag, 14. August 2020

Der Mensch und die Großstadt

Die Urheimat und Lebensform der Menschen ist die Stammesgemeinschaft in weiten Räumen. Diese Form des Zusammenlebens hat Millionen von Jahren der frühen Menschheitsgeschichte bis weit in die Gegenwart bestimmt. Die Menschen lebten in nächstem Kontakt mit der Natur, in überschaubaren Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte. 

Erst mit dem Aufkommen von Hochkulturen vor etwa 5000 Jahren entstanden städtische Siedlungen, in denen mehr Menschen auf engem Raum zusammenlebten. Auch wenn die städtischen Kulturen inzwischen lange Traditionen aufweisen und eigene Regeln für die Gemeinschaft erfunden haben, die die Grundlage für die allgemeinen Bürgerrechte und –freiheiten darstellen, zeigen sie doch als menschliche Erfindungen ein deutliches Abrücken von der Natur und von einer naturnahen Lebensweise dar.

Mensch-Natur-Konflikte sind Mensch-Mensch-Konflikte

Mit dem Wachsen der Städte zu Groß- und Millionenstädten verstärkte sich dieser Trend, der zunehmend das Miteinander von Mensch und Natur durch einen Gegensatz ersetzt. Das Eingebundensein in die Abläufe der Natur, wie es für die frühen Stammeskulturen und noch länger für die Landbewohner prägend war, verblasst und macht einem Konflikt zwischen Mensch und Natur Platz – ein Gegensatz, der mehr und mehr zu einer Gegnerschaft hochstilisiert wurde und die Grundlage für die gedankenlose Naturzerstörung bildet, die im Zug der kapitalistischen Naturaneignung inzwischen bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Natürlich kämpft nicht die Natur gegen die Menschen, sondern widerstreitende Interessen in den Menschen selber schaffen diesen Konflikt, der maßgeblich durch die Entwicklung der Stadtkultur angefacht wird.

Die andere Seite dieser Entwicklung besteht in den sozialen Veränderungen, die oft mit dem Stichwort Anonymisierung beschrieben wurden. In einer Großstadt kennt man kaum jemanden und ist von vielen Fremden umgeben, und das auf engstem Raum. Durch die Enge entsteht Stress, denn die Kontrolle, die wir über unsere Umgebung ausüben können, schwindet, wenn die anderen so nahe rücken wie in einem vollen U-Bahn-Abteil oder einem Gedränge im Supermarkt. Um diesen Stress zu bewältigen, müssen sich die Stadtbewohner abhärten und nach innen zurückziehen. Die Außenhaut muss undurchlässig bleiben und darf nichts hereinlassen, selbst wenn der Nachbar auf Tuchfühlung im Mittelgang der Straßenbahn direkt an einen selber angrenzt. Das Spüren muss sich ganz nach innen zurückziehen, die Außensinne halten ein wenig Kontrolle aufrecht. Es ist ein unangenehmer Zustand, der mit einer unterschwelligen Stressbelastung verbunden ist.

Diese Abschottung wird zur Gewohnheit und zum Teil der städtischen Lebensform. Der Stadtbewohner bewegt sich mit einer emotionalen Rüstung durch das Getriebe der Menschen und stößt da und dort auf die Rüstungen der anderen. Der Stress der Nähe und Enge ist eine Normalität und Konstante dieser Lebensform. Der Preis ist die latente Stressanhäufung, die chronifiziert wird. Das macht die Stadterfahrung zu einer Hektikerfahrung. Es ist nicht nur die höhere Schnelligkeit, mit der das Stadtleben im Vergleich zum Landleben pulsiert, sondern vor allem die höhere Gereiztheit, unter der jede Stadtbewohnerin leidet, ob sie will oder nicht. Die Abkapselung, die alle in der Stadt auf sich nehmen müssen, bewirkt eine gesteigerte Empfindlichkeit.

Dazu kommt, dass die städtische Lebensweise von sich aus auf Schnelligkeit angelegt ist. Uhren wurden in den Städten erfunden und verbessert, sodass sie immer kleinere Zeiteinheiten anzeigen können – Symbol für die Verkürzung und Verknappung der Zeit, die einen wichtigen Aspekt des Wirtschaftens darstellt, das ebenso in den Städten entwickelt wurde.

Landbewohner erleben Stadtbewohner häufig als weniger freundlich und herzlich. Das ist auch kein Wunder, weil die städtische Lebensweise ihren Preis in Stress und innerer Anspannung hat. Zusätzlich wirkt Stress ansteckend, sodass sich schwerlich jemand entziehen kann. 

Deshalb suchen viele Städter das Land und die Natur zum Ausgleich, sei es auch nur, indem sie sich eine Schlafstätte im grüneren Speckgürtel ihrer Großstadt suchen, zu der sie abends heimkehren und von der sie sich morgens zur Arbeit in der Stadt stauen. Die geringere Menschendichte und die stärkere Präsenz der Natur bewirken schnell eine Entlastung vom Stress. Die Natur übt keinen Druck aus, dadurch können sich die Gehirne entspannen und sicher fühlen.

Der Stau ist übrigens ein typisches Stadtsymptom: Fahrzeuge gehen auf Mindestabstand und können sich nicht mehr bewegen. Die Insassen leiden unter dem Zeitdruck, der mit jeder Sekunde der Fortdauer des Staus, steigt und unter der Hilflosigkeit und dem Kontrollverlust. und sorgt für eine Stresssteigerung. 

Ein Lob des Stadtlebens

Wenn nun das Stadtleben so ungesund für die Menschen ist, liegt es nahe zu sagen, dass alle aufs Land übersiedeln sollten. Klarerweise haben wir schon lange nicht mehr den Platz auf diesem Planeten, dass sich jeder der 7,8 Milliarden Menschen ein Haus mit Garten in unberührter Landschaft schaffen könnte. Wir brauchen die Städte und ihre Bewohner, und sie brauchen unser Mitgefühl und nicht unser Besserwissen oder naive Überheblichkeit, wenn wir vom Land kommen. Wenn wir in der Stadt leben, sollten wir uns dieser Herausforderungen bewusst sein und das Unsere dazu tun, was es braucht, um die Stressbelastung so klein wie möglich zu halten und damit zur allgemeinen Entstressung beizutragen. Denn Gelassenheit und Freundlichkeit wirken auch ansteckend.

Die Stadtbewohner haben die Idee von Toleranz und Respekt erfunden. Da sich viele unterschiedliche Menschen in den Städten treffen, Einheimische, Zugezogene und Fremde, braucht es besondere Tugenden, um mit diesen unterschiedlichen Zugehörigkeiten zurechtzukommen. Damit haben die Städte den Sprung von Partikulargesellschaften zu einer Weltgesellschaft vorbereitet und die dafür notwendigen Werte bereitgestellt.

Wir brauchen auch die städtische Lebensweise, weil sie in einer besonderen Form Kreativität und Vielfalt hervorbringt. Die Monotonie des Landlebens hat ihre Meriten, und der Abwechslungsreichtum der Stadt ebenso. Wo viele Menschen zusammenleben, entstehen viele Ideen und Konzepte aus den unterschiedlichen Köpfen, die sich in einer Stadt begegnen und austauschen. Man könnte auch sagen, Reibung befruchtet. Die Menschen würden ohne Städte nur dörflich denken, und das wäre doch zu dürftig und beschränkt. Die Enge der Lebensräume in der Stadt kontrastieren mit der geistigen Weite, die gerade dadurch möglich wird und für die Zukunft der Menschheit unverzichtbar ist.


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